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Ursern

Urner Hochtal im Quellgebiet der Reuss mit den Gemeinden Andermatt, Hospental (mit Weiler Zumdorf) und Realp. Im Hochmittelalter Vogtei des Klosters Disentis, 1239/1240-1382 Reichsvogtei, 1382-1410 reichsunmittelbare Talschaft, 1410-1798 Talschaft im Landrecht mit Uri, 1798-1803 Teil des Distrikts Andermatt des helvetischen Kantons Waldstätten, seit 1803 Teil des Kantons Uri mit eigenem Gericht. Ende 12. Jahrhundert Ursaria, 1338 Urserren, französisch Urseren, italienisch Orsera, rätoromanisch Ursera. 1643 ca. 700 Einwohner; 1799 1143; 1850 1304; 1900 1316; 1950 1699; 2000 1634. Von Ursern führt der Gotthardpass nach Süden, der Oberalppass nach Osten und der Furkapass nach Westen. Die Verbindung nach Norden war bis um 1200 durch die Schlucht der Schöllenen versperrt, Uri konnte nur über Umgehungen (Bäzberg, Gütsch-Riental) erreicht werden.

Ur- und Frühgeschichte bis 1800

Einzelfunde aus Neolithikum und Bronzezeit belegen die Begehung des Tals. Um 2000 v.Chr. wurden auf Rossplatten (Gemeinde Hospental) Bergkristalle gewonnen und verarbeitet. Die spärlichen römischen Münzen sagen über Besiedlung und Passverkehr wenig aus. Im Frühmittelalter dürften Teile von Ursern durch Leventiner bestossen oder vielleicht auch besiedelt worden sein, so die Alpstafel Blumenhütten ob Hospental im 9. Jahrhundert. Gefördert vom Kloster Disentis, zu dem Ursern schon früh gehörte, stiessen Rätoromanen spätestens im 10. Jahrhundert in das Hochtal vor und gründeten die Siedlungen Ursern (später ze kilchen genannt), Hospental und Realp. Disentis errichtete wohl im 11. Jahrhundert am Fusse der Oberalp die Talkirche St. Kolumban; der heutige Bau im Andermatter Ortsteil Altkirch stammt aus dem späten 13. Jahrhundert.

Im ausgehenden 12. Jahrhundert kamen Walser über die Furka, gründeten Andermatt und Zumdorf und waren bald die führende Bevölkerungsschicht. Ihr Einfluss auf die Erschliessung der Schöllenen um 1200 ist wahrscheinlich. Die Neusiedler genossen das ihnen vom Abt von Disentis gewährte Kolonistenrecht (1425 festgehalten). Sie behielten ihren freien Personenstand und hatten gegen Entrichtung eines mässigen Zinses die Güter in freier Erbleihe inne. Die Talgemeinde, die sich jährlich um Mitte Mai auf dem Langen Acker in Hospental versammelte, wählte den Talammann. Dieser war grundherrlicher Beamte und zugleich politischer Vorsteher der Talleute. Daneben amtierten das Fünfzehner- und das Neunergericht (1430 belegt) bzw. später das Siebnergericht. In der frühen Neuzeit entstanden verschiedene weitere Talämter (u.a. Statthalter, Pannerherr, Säckelmeister, Bergmeister, Teiler). Die Hochgerichtsbarkeit kam anfänglich dem Klostervogt zu. 1239/1240 bildete Kaiser Friedrich II. die Reichsvogtei Ursern, die von den Grafen von Rapperswil und ab 1283 von denen von Habsburg eingenommen wurde, bis sie 1318 von König Ludwig dem Bayern dem Ursner Konrad von Moos, der auch das Urner Landrecht innehatte, übertragen wurde. König Wenzel verlieh der Talschaft 1382 einen Freiheitsbrief; der Ammann fungierte fortan zugleich auch als Hochrichter. Die Richtstätte (Galgen erhalten) lag über dem Gotthardweg im St. Annawald.

Anfang des 15. Jahrhunderts nahm der Druck Uris, das 1403 erstmals in die Leventina vorgestossen war und die Passroute über den Gotthard bis in die Lombardei unter seine Kontrolle zu bringen suchte, auf Ursern zu. 1410 schlossen die Ursner, deren Oberschicht ähnliche wirtschaftliche Interessen hatte wie die Urner, mit Uri ein Landrecht. Ursern erkannte in dem Vertrag die Oberhoheit Uris in Krieg, Gericht und Verkehrsfragen an und behielt dafür die alten rechtlichen Gewohnheiten, teilweise das eigene Gericht sowie Alpen und Allmenden. Dem politischen Kräfteverhältnis entsprach, dass Uri sowohl den Vertrag kündigen wie auch Ursern zu einer Erneuerung desselben verpflichten konnte. Da das Landrecht für die Ursner einen Verlust an Autonomie bedeutete, pflegten diese fortan gewisse Vorbehalte gegenüber den Urnern, obwohl sie durchaus auch von der Südexpansion Uris profitierten. Auf Drängen Uris kaufte sich Ursern 1649 von der Grundherrschaft des Klosters Disentis los.

Die Vieh- und Alpwirtschaft war der wichtigste Wirtschaftszweig. Die Lage am Pass erleichterte die Zufuhr von Getreide. Auch Jagd und Fischfang waren für die Ernährung wichtig. Alpen und Wälder bildeten die Gemeinmark, deren Nutzung nach fest gesetztem Recht (1363 überliefert) den Talleuten zustand. Bedeutend war auch die Säumerei über den Gotthard. Der Warentransport durch das Hochtal war ein Monopol der Ursner Säumer (1393 Säumerordnung, 1498 und 1701 von Uri erneuert). Die wichtigsten Transitgüter waren Korn, Wein, Käse, Salz, Reis und Stückgüter. Im 18. Jahrhundert erreichte die Transportmenge durchschnittlich 200 Säume pro Tag, dazu kamen 60 bis 80 Übernachtungen. Mehrere Familien handelten mit Landesprodukten (v.a. Käse, Vieh, Kristalle) und Transitgütern (z.B. Käse des Klosters Engelberg). Ab dem Spätmittelalter begaben sich Ursner in fremde Dienste, vor allem in spanische und später in neapolitanische.

Kirchlicher Mittelpunkt war die von Disentis errichtete Kirche St. Kolumban am Fuss der Oberalp, ab 1601 die Pfarrkirche St. Peter und Paul in Andermatt. 1665 erfolgte die weitgehende kirchenrechtliche Ablösung von Disentis; 1688 wurde die Seelsorge an der Talkirche in Andermatt den Kapuzinern übertragen; ab 1735 wirkten diese auch in Realp. Im Barockzeitalter blühten Baukunst (Baumeister Bartholomäus Schmid), Bildhauerei (Altarbauer Johann und Jodok Ritz), Literatur (Mauritius Zehnder) und Theaterleben (Ferdinand Weissenbach) auf. Das Volksschulwesen machte ab etwa 1640 Fortschritte. Lateinschulen bestanden in Andermatt 1709-1879 und in Hospental 1726-1776.

19. und 20. Jahrhundert

Während der Helvetik bildete das in drei Einwohner- bzw. Bürgergemeinden aufgeteilte Ursern mit Wassen den Distrikt Andermatt innerhalb des Kantons Waldstätten. Von Mai bis August 1799 war Ursern wiederholt Kriegsschauplatz; österreichische bzw. russische und französische Truppen – berühmt ist der Zug des Generals Alexander Suworow 1799 – besetzten das Hochtal mehrmals. Die neue Ordnung brachte Ursern die Gleichberechtigung gegenüber Uri; das Hochtal war deshalb die einzige Landschaft der Urschweiz, die geschlossen auf der Seite der Helvetischen Republik stand, bis es im September 1802 von Uri unter Androhung von militärischer Gewalt zur Auflösung der helvetischen Munizipalitäten gezwungen wurde. Die Urner Kantonsverfassung der Mediationsakte und ein von der Tagsatzung genehmigter Nachtrag zu derselben sicherten den Ursnern 1803 den gleichberechtigten Zutritt zur Urner Landsgemeinde und Vertretungen in Landrat und Kantonsgericht sowie ein Bezirksgericht als erste Instanz. 1848 nahm Ursern für den Bundesstaat Partei. Die Kantonsverfassung 1850 baute die Vertretung von Ursern in den Kantonsbehörden aus. Im Übrigen wurde Ursern zu einem Bezirk innerhalb des Kantons umgestaltet, dem staatliche Aufgaben übertragen wurden (u.a. Bürgergüterverwaltung, Talgericht, Vormundschafts- und Armenwesen, Gemeindewesen).

Die Kantonsverfassung von 1888 hob die Bezirke Ursern und Uri auf. Ihre Aufgaben gingen weitgehend an die Gemeinden bzw. in Ursern an die drei Dorfschaften über, die dadurch eine Aufwertung erfuhren. Die Wahl des Talgerichts wurde der Landsgemeinde übertragen. Dagegen opponierten die Ursner heftig; ihr Versuch, die Gewährleistung der Kantonsverfassung in der Bundesversammlung zu verhindern, scheiterte allerdings. Erst nach der von Ursern aus initiierten Abschaffung der Landsgemeinde 1928 wählte Ursern die Talrichter wieder selber. Die Genossengüter (v.a. Allmenden, Wälder und Alpweiden) blieben den Talleuten vorbehalten. Sie konstituierten sich 1888 als vom Staatsverband losgelöste öffentlich-rechtliche Korporation. An ihrer Spitze steht die vom Talammann geleitete Talgemeinde. Sie verwaltet die Bürgergüter und nimmt Aufgaben der öffentlichen Hand wahr (Wasser- und Energieversorgung). Bis 1976 behielt die Korporation Ursern – anders als jene von Uri – auch gewisse Kompetenzen im Armen- und Bürgerrechtswesen.

Die vorherrschende Vieh- und Milchwirtschaft wurde im 19. Jahrhundert durch Kartoffelanbau ergänzt. Waren der Sommer- und der Winterviehbestand um 1900 noch in etwa gleich gross (1574 Stösse Gross- und 1297 Stösse Kleinvieh), so stieg im 20. Jahrhundert ersterer an, während letzterer zurückging (Winterbestand um 2000: Rindvieh 354 Grossvieheinheiten, Schmalvieh 131 Grossvieheinheiten). Die Alpweiden wurden also immer mehr von Älplern von ausserhalb genutzt. Ab 1950 wurden die Nebenerwerbsbetriebe zahlreicher (1975: 23 Haupt- und 47 Nebenerwerbsbetriebe); im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts setzte sich die Tendenz zu wenigen grossflächigen Betrieben durch.

Die Verkehrsinfrastruktur entwickelte sich stark: 1827-1830 wurde die Kunststrasse über den Gotthard, 1862-1866 diejenigen über den Furka- und den Oberalppass angelegt. Der Passverkehr auf Karren und Schlitten über den Gotthard erreichte um 1880 mit 200'000 Kilozentnern seinen Höhepunkt. Beachtliche Herden Gross- und Kleinvieh wurden im Herbst zu den Tessiner Märkten getrieben. Die Eröffnung der Gotthardbahn brachte 1882 den Passverkehr zum Erliegen. 1917 nahm die Schöllenenbahn, 1926 die Furka-Oberalp-Bahn den Betrieb auf. Die Strasse über den Gotthard wurde 1936-1941 den Bedürfnissen des Autoverkehrs angepasst und 1968-1977 zur Hochleistungsstrasse ausgebaut. Die Fertigstellung der Nationalstrasse A2 und des Strassentunnels durch den Gotthard 1980 brachte eine Entlastung des Tals vom Schwerverkehr, diejenige des Furka-Basistunnels 1982 eine ganzjährig offene Verbindung ins Goms. Zum Schutz vor Lawinen werden seit 1873 Aufforstungen vorgenommen und seit 1919 umfangreiche Verbauungen erstellt.

Die gute Erschliessung begünstigte ab Ende des 19. Jahrhunderts das Aufblühen des Sommer- und Wintertourismus; Andermatt entwickelte sich zum Ferienort. Um 1935 verfügte es über 13 Hotels mit insgesamt ca. 660 Betten. Von 1937 an entstanden in den Gebieten Nätschen-Gütsch, Sedrun-Oberalp, Andermatt-Gemsstock, Realp und Winterhorn Skilifte und Sportbahnen. Ohne Letzteres betrieben die verschiedenen Unternehmen 2009 im Rahmen des Skigebiet-Verbunds Gotthard Oberalp Arena zusammen 20 Transportanlagen und 125 km Pisten. 2000 standen in Ursern über 1600 Fremdenbetten sowie 250 Schlafplätze in alpinen Unterkünften zur Verfügung. Das 2005 präsentierte Projekt des ägyptischen Investors Samih Sawiris, das in Andermatt eine 3000 Betten zählende Luxusferiensiedlung mit Golfplatz vorsieht, stellte dem Tal ca. 2000 neue Arbeitsplätze in Aussicht.

1902 errichtete Ursern ein erstes eigenes Kraftwerk. Das von der Korporation getragene Elektrizitätswerk Ursern betreibt die Wasserkraftwerke Hospental, Realp und Oberalp sowie seit 2002 die Windkraftanlage Gütsch. Der geeinte Widerstand der Bevölkerung (1946 „Krawall von Andermatt“) wie der Behörden von Ursern und des Kantons verhinderte das von den CKW schon 1920 geplante Grosskraftwerk Ursern, das weite Teile des Hochtals einschliesslich der Orte Andermatt, Hospental und Realp unter Wasser gesetzt hätte.

Infolge des Bahnbaus stieg die strategische Bedeutung des Gotthards; im Rahmen von dessen Befestigung wurde 1895 der Gebirgswaffenplatz Andermatt mit Kaserne angelegt. Die schrittweise aufgebaute Fortwache wurde 1942 ins Festungswachtkorps integriert. Das Konzept des Réduits betonte zwar einerseits die strategische Bedeutung des Gotthards als Nord-Süd-Transversale, bezog aber andererseits auch die inneralpine West-Ost-Achse Furka-Oberalp stärker in die Verteidungsplanung ein. Die Armee erwies sich als wichtiger Wirtschaftsfaktor im Hochtal und trug wesentlich zum Ausbau der Infrastruktur bei (Spital, Sportanlagen, Erschliessungsstrassen, Seilbahnen). Die Armeereformen 1995 und 2004 brachten einen starken Abbau von Festungs- und Gebirgstruppen mit empfindlichen Arbeitsplatzverlusten.

Die Talpfarrei löste sich im späten 19. Jahrhundert auf (Abkurung 1882 von Realp, 1886 von Hospental). Der Aufbau der Festungswache führte zur konfessionellen Durchmischung; 1915 wurde die reformierte Kirche in Andermatt errichtet. 1994 öffnete das Talmuseum in Andermatt. Aus Ursern gingen im 19. und 20. Jahrhundert Künstler und Kulturschaffende wie Felix Maria Diogg, Adolfo Müller-Ury oder Ady Regli hervor. Das 1983 von Marc Hostettler initiierte Projekt Furk'art wollte auf internationaler Ebene die künstlerische Auseinandersetzung mit der alpinen Kultur fördern. Historisch ist das Userntal überdurchschnittlich gut erforscht (Arbeiten von den Patres Iso Müller und Theophil Graf, Forschungsprojekt der Universität Basel unter der Leitung von Martin Schaffner).

Quellen und Literatur

  • TalA Ursern, Andermatt
  • Regesten der Urk. und Aktenstücke von 1317-1800 im TalA Ursern und Verzeichnis der älteren Bücher und Rollen, zusammengestellt von J. Gisler, 1969
  • A. Christen, Ursern, 1960
  • H. Stadler, «Die Ausscheidung der Bez. Uri und Ursern aus dem Staatsverbande anlässlich der KV-Revision 1887/88», in Gfr. 124, 1971, 358-372
  • H.U. Kägi, Die traditionelle Kulturlandschaft im Urserental, 1973
  • U., 1978
  • E. Müller, R. Gamma, Hochspannung: wie die Urschner gegen einen Stausee kämpften und die Göscheneralp untergehen musste, 1982
  • I. Müller, Gesch. von Ursern, 1984
  • W. Arnold, Uri und Ursern z.Z. der Helvetik, 1798-1803, 1985
  • F. Glauser, «Von alpiner Landwirtschaft beidseits des St. Gotthards, 1000-1350», in Gfr. 141, 1988, 5-173
  • 300 Jahre Kapuziner-Pfarrei Andermatt, 1989
  • G. Arnold, Die Korporation Ursern, 1990
  • J. Egli, «Der Name des Urserentals», in Vox Romanica 57, 1998, 16-52
  • I. Meyer, C.F. Meyer, Die Talammänner von Ursern (1203-2000), 2000
  • Auf hoher Bastion: Gesch. und Geschichten der Gotthardbrigade/Festungsbrigade 23, 2003
  • E. Haag, Grenzen der Technik: der Widerstand gegen das Kraftwerkprojekt Urseren, 2004
  • O. Hungerbühler, Auf schmaler Spur: zwischen Tradition und Innovation – das Urserntal und die Eisenbahn, Liz. Basel, 2004
  • S. Scheuerer, Das Bellevue in Andermatt 1872-1986, 2011
Weblinks
Normdateien
GND

Zitiervorschlag

Hans Stadler: "Ursern", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 14.01.2014. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/007467/2014-01-14/, konsultiert am 28.03.2024.