de fr it

Lyss

Alte Kirche (1935 aufgegeben) und Pfarrhaus von Lyss. Kolorierte Aquatinta von Samuel Weibel, 1823 (Schweizerische Nationalbibliothek, Bern, Sammlung Gugelmann).
Alte Kirche (1935 aufgegeben) und Pfarrhaus von Lyss. Kolorierte Aquatinta von Samuel Weibel, 1823 (Schweizerische Nationalbibliothek, Bern, Sammlung Gugelmann).

Politische Gemeinde des Kantons Bern, Amtsbezirk Aarberg, Verwaltungskreis Seeland, an der Mündung des Lyssbachtals am rechten Ufer der alten Aare gelegen, bestehend aus dem Dorf Lyss, den Ortsteilen Hardern und Eigenacker sowie seit 2011 mit Busswil bei Büren. 1876 Abtrennung der Schulgemeinde Werdthof (zu Kappelen; 1888 234 Einwohner). 1009 Lissa. Verkehrsknotenpunkt und Wirtschaftszentrum im Seeland. 1764 567 Einwohner; 1850 1568; 1900 2567; 1950 4133; 2000 10'659.

Neolithische, bronzezeitliche und hallstattzeitliche Funde (u.a. etruskische Bronzestatuette 6. Jh. v.Chr.) im Gebiet Kiesgrube, bronzezeitliche Einzelfunde im Gebiet Aarelauf-Grentschel-Hardern sowie hallstattzeitliche Grabhügel im Kreuzwald, Banholz und Dreihubelwald belegen eine frühe Besiedlung. Beim Kirchhübeli fanden sich römische Ziegel, frühmittelalterliche und mittelalterliche Gräber sowie die Reste einer karolingischen Kirche. Im Raum Sonnhalde-Kreuzhöhe wurden frühmittelalterliche Reihengräber aus dem 7. Jahrhundert entdeckt, am Leuereweg/Brämweg eine vermutlich mittelalterliche Quellfassung (Stollen).

Die Ministerialenfamilie von Lyss ist 1185-1187 verbürgt. Lyss gehörte zum Herrschaftskomplex der Grafen von Neuenburg-Aarberg. Mit der Herrschaft Aarberg kam es 1367 an die Linie Neuenburg-Nidau und 1377/1379 an die Stadt Bern, die das Niedergericht Lyss mit Busswil ihrer neuen Landvogtei Aarberg unterstellte. Neben den Herrschaftsinhabern hatten unter anderem auch einheimische Herren (von Balm, Schüpfen, Mattstetten, Seedorf) und Klöster (Frienisberg, Interlaken, Münchenbuchsee, St. Petersinsel) in Lyss Güter inne. Bis zur Reformation hatte Lyss zwei Pfarrkirchen. 1009 wird eine nicht näher bezeichnete Kirche in Lyss im Besitz des Klosters Saint-Maurice genannt. Von 1238 datiert der erste Hinweis auf zwei Kirchen, die beide von einem Leutpriester versorgt wurden (Belege von 1246 und 1275) und Pfarreirecht und separate Pfründen hatten. Die Kirche Niederlyss (1246 erwähnt, Patrozinium Johannes Evangelist, romanischer Bau mit Stiftergrab, im 15. Jahrhundert teilweise erneuert) entstand im 7. oder 8. Jahrhundert; ihr Kirchensatz gehörte im Spätmittelalter der Bernburgerfamilie von Gisenstein, kam 1371 an die Familie von Durrach und durch Schenkung an die Abtei Frienisberg, die sie 1375 als "Pfarrkirche" inkorporierte. 1528 gelangte sie an Bern. In der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts gewann sie als Dekanatssitz an Bedeutung. Nach der Reformation war sie bis zum Bau der heutigen reformierten Kirche (1934-1935) einzige Lysser Kirche (1935 aufgegeben, 1966-1971 restauriert, dient heute kirchlichen und kulturellen Anlässen). Die auf die karolingische Zeit zurückgehende, 1238 erwähnte Marienkirche auf der "Burg" auf dem Oberlysser Kirchhübeli war im 13. Jahrhundert Besitz der Freiherren von Balm, die sie 1282 dem Frauenkloster Interlaken abtraten; 1336 wurde sie von der Herrschaft Aarberg erworben und kam mit dieser 1379 an Bern. Im 15. Jahrhundert allmählich verfallen, sollte sie gemäss einem Bettelbrief 1494/1495 wieder als Pfarrkirche hergerichtet werden. In der Reformation gab Bern sie indes auf; 1533 wurde sie abgebrochen. Die Kirchgemeinde (Nieder-)Lyss umfasste auch die Weiler Grentschel und Hardern sowie die benachbarten Orte Ottiswil und Weingarten (beide 1728 zu Grossaffoltern) sowie links der Aare (Fähre 1380 erwähnt) die Werdthöfe (wohl ab 1231).

Während Jahrhunderten bedrohten die mäandrierende Aare und der Lyssbach die Gemeinde mit Überschwemmungen und zwangen sie zum Bau von Uferwehren. Das weite Auengebiet (auch als Grien bezeichnet) wurde beweidet; Weidegemeinschaft im Lysswald hatten Kappelen, Aarberg (1486), Werdthof und Worben. Getreide wurde in Zelgen angebaut, im 18. Jahrhundert auch in einem Teil des Schachens. Ab 1796 wurde das Zelgsystem sukzessive aufgehoben. Der Dorfkern lag beidseits des Lyssbachs, an dem verschiedene Wasserwerke (Getreide-, Stampf-, Reib- und Ölmühle, Sägerei, ab dem 17. Jh. Walkereien, Färberei) liefen. Die Erste Juragewässerkorrektion (1868-1891) – mit der Ableitung der "grossen" Aare in den Bielersee – und die Lyssbachkorrektion (1911-1916) brachten einen beträchtlichen Landgewinn entlang der Alten Aare. Die Bevölkerungszahl des Dorfs Lyss war immer grösser als diejenige des Landvogtei- bzw. Amtssitzes Aarberg; aber erst die Verkehrskonzeption des 19. und 20. Jahrhunderts sowie eine gezielte Industrialisierungspolitik liessen die Gemeinde zum wichtigsten Wirtschaftszentrum des Seelands werden. In Lyss kreuzen sich die Verbindungen Payerne-Solothurn und Bern-Biel (Bau der Strasse bis Lyss 1835-1844, der Aarebrücke nach Biel 1887); es ist Knotenpunkt der Bahnlinien Bern-Biel (1864), Lyss-Palézieux und Lyss-Solothurn-Herzogenbuchsee (1876) und liegt an der Autobahn zwischen Bern und Biel (1983-1986).

Die Gründung der Käserei- und Kreditgesellschaft Lyss (1866, 1880 Spar- und Leihkasse) ging von Landwirtschaft und Gewerbe aus und diente später unter anderem der Finanzierung der kommunalen Infrastruktur; 1904 wurde die Kreditkasse (Kredit- und Handelsbank) ins Leben gerufen. Ab den 1870er Jahren liessen sich mehrere Betriebe in Lyss nieder (bis 1900 Uhren-, Zementwaren-, Biskuit-, Uhrenstein-, Armaturenfabrik, Ziegelei, Tuch- und Stahlhandel; bis 1940 Metallbau, Waagenfabrik, Maschinenbau und Landesproduktehandel). Parallel zur Industrialisierung nahmen ab den 1890er Jahren Bevölkerung und Bautätigkeit zu. Nach Grenzbereinigungen mit Kappelen und Worben entstand 1956 bzw. 1979 das Industriegebiet Schachen-Grien mit Betrieben aus verschiedenen Bereichen (Autobranche, Apparate-, Metallbau, Feinstanzwerkzeug-, Betonwaren-, Giesserei-/Maschinenfabrik, Baumaschinenhandel, Lebensmittelgrossverteiler); insgesamt bot die Gemeinde 2005 6035 Arbeitsplätze. Dank seiner zentralen Lage wurde Lyss 1912 Korpssammelplatz bzw. 1940 Waffenplatz (erweitert 1973-1975). Das Wachstum der Gemeinde, deren Legislative seit 1974 der Grosse Gemeinderat bildet, machte den Ausbau der Infrastruktur notwendig. Neben Schulhäusern in Lyss und Hardern (bis 1974 zwei Schulgemeinden) verfügt Lyss auch über regionale Schulen (Sekundarschule 1878, Gewerbe-, Berufsschule 1891 bzw. 1906, Musikschule, Heilpädagogische Sonderschule 1970, Interkantonale Försterschule 1971, heute das Bildungszentrum Wald). Der Bau der evangelisch-methodistischen Kirche erfolgte um 1910, derjenige der katholischen 1958-1959. Ab den 1950er Jahren wurden das Sportzentrum "Grien", die Eisssporthalle und andere Freizeitanlagen errichtet. Der Wohnungsbau verteilte sich auf das Dorf und verschiedene Neuquartiere.

Quellen und Literatur

  • E. Oppliger, Lyss, 1948
  • W. Pfister et al., Aus der Gesch. der Lysser Waldungen, 1958
  • F.T. Moser, Lyss, 100 Jahre Eisenbahn 1864-1964, 1964
  • C. Marti, St. Johannes Kirche Lyss, [1970]
  • M. Gribi, Lyss auf alten Karten und Plänen, 1979
  • 75 Jahre Gewerbl. Berufsschule Lyss, 1981
  • M. Gribi, Lyss., 2002
  • R. Walker, Bauinventar der Gem. Lyss, 2003
Von der Redaktion ergänzt

Zitiervorschlag

Anne-Marie Dubler: "Lyss", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 15.09.2016. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/000177/2016-09-15/, konsultiert am 29.03.2024.