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Stimm- und Wahlbeteiligung

Die Stimm- und Wahlbeteiligung ist der in Prozent ausgedrückte Anteil an Stimmenden und Wählenden der Inhaber des Stimm- und Wahlrechts. Oft wird nicht zwischen der Stimm- und der Wahlbeteiligung unterschieden, obwohl es sich um verschiedene Aktivitäten handelt. Abstimmungen haben Sachvorlagen zum Gegenstand, die sich nach Wichtigkeit, Betroffenheit, Emotionalisier- und Popularisierbarkeit usw. stark unterscheiden, sodass auch die Beteiligung entsprechend variiert. Wahlen stellen homogenere, periodisch sich wiederholende Ereignisse mit gleichmässigerer Beteiligung dar, wobei zwischen Proporz- und Majorzwahlen zu unterscheiden ist (Wahlsysteme). Letztere können zu stark mobilisierenden Konkurrenzsituationen, aber auch zu unumstrittenen, beteiligungsschwachen Urnengängen führen. Nimmt man alle Behördenwahlen und Volksabstimmungen über Verfassungen, Gesetze, Finanzvorlagen, Volksinitiativen, Referenden usw. in Bund, Kantonen und Gemeinden zusammen, dann ist die Zahl der Urnengänge in der Schweiz weltweit einmalig hoch.

Die grosse Zahl von politischen Beteiligungsmöglichkeiten in der direkten Demokratie hat zwei Effekte: Zum einen erhöht sie insgesamt den politischen Einfluss des Volks (Politische Rechte), zum anderen vermindert sie die Bedeutung der einzelnen Vorlagen und wirkt somit dämpfend auf die Stimm- und Wahlbeteiligung. Die Stimmabstinenz und insbesondere die langfristig sinkende Stimm- und Wahlbeteiligung war oft Gegenstand politischen Räsonnements, vor allem aus zwei Gründen: Erstens passte die schwache Ausübung der Volksrechte schlecht in das demokratische Selbstverständnis, sodass man bei den "Abstinenten" staatsbürgerliche Pflichtvergessenheit vermutete. Zweitens führten die vielen Wahlen und Abstimmungen dazu, dass die Stimm- und Wahlbeteiligung entsprechend häufig zu kommentieren war.

Die moralisierende Beurteilung der Stimmabstinenz ist durch die politologische Ursachenforschung etwas verdrängt worden. Dieser stellen sich hauptsächlich zwei Fragenkomplexe: Welche Bevölkerungsgruppen gehen aus welchen Gründen selten oder nie an die Urne? Welche Auswirkungen hat eine tiefe Stimm- und Wahlbeteiligung auf die Entscheidungen, auf die Repräsentativität von Wahlen bzw. auf den Interessenausgleich, die Zweckmässigkeit usw. von Sachentscheiden? Im Folgenden wird ein kurzer geschichtlicher Überblick über die Stimm- und Wahlbeteiligung in eidgenössischen Angelegenheiten gegeben (die kantonale und kommunale Ebene bleibt ausgeklammert), anschliessend nach Antworten auf diese Fragen gesucht.

Politische Beteiligung im Lauf der Zeit

Beteiligung bei eidgenössischen Wahlen und Abstimmungen 1874-2016
Beteiligung bei eidgenössischen Wahlen und Abstimmungen 1874-2016 […]

In der Geschichte der eidgenössischen Stimm- und Wahlbeteiligung, die erst seit 1879 exakt ermittelt wird, zeichnete sich schon vor dem Ersten Weltkrieg eine je nach Thema und politisch-wirtschaftlicher Situation unterschiedliche Teilnahme der Bevölkerung an Abstimmungen und Wahlen ab. Die Quoten aus der Zeit vor 1900 sind insofern zu relativieren, als das Kommunikationswesen rudimentärer, der Urnengang aufwendiger und die Möglichkeit der brieflichen Stimmabgabe noch nicht gegeben waren. Die geschätzte Beteiligung an den 19 Abstimmungen vor 1879 bewegte sich zwischen 44,2% (Bundesverfassung 1848) und 81,6% (Totalrevision 1874), wobei der Wert von 1848 zum Teil mit Abstinenzen in ehemaligen Sonderbunds-, in Westschweizer und Bergkantonen zu erklären ist.

1879-1914 lag die durchschnittliche Stimmbeteiligung aller 53 eidgenössischen Volksabstimmungen bei 57%. Den mit 36,0% tiefsten Wert verzeichnete eine Vorlage zur Bekämpfung menschlicher und tierischer Krankheiten (1913). Beteiligungen um 40% ergaben sich bei den Themen Wasserbau-, Forst-, Lebensmittelpolizei und Erfindungsschutz. Die mit 78,1% höchste Beteiligung wurde 1898 bei der Abstimmung über die Verstaatlichung der Eisenbahn (SBB) erreicht. Überdurchschnittlich hohe Stimmbeteiligungen ergaben sich auch bei der sogenannten Schulvogt-Vorlage von 1882 (75,5%), bei der Militärorganisation von 1907 (74,7%) und bei Auseinandersetzungen um Zolltarife. "Bundesvögte", Militär- und Wirtschaftsfragen waren mobilisierende Themen. Nur bei 13 der 53 Vorlagen betrug die Beteiligung weniger als 50%. Bei den fünf Vorlagen der Kriegsjahre 1914-1918 wurde dieser Wert mit 65,4% hingegen einzig beim ersten Versuch, eine direkte Bundessteuer einzuführen, übertroffen.

Die höchste je erzielte Stimmbeteiligung kam 1922 bei der Initiative über eine einmalige Vermögensabgabe zur Tilgung der während des Ersten Weltkriegs gemachten Schulden zustande (86,3%), die sehr deutlich abgelehnt wurde. Die zweithöchste Quote erbrachte während der Weltwirtschaftskrise die sogenannte Kriseninitiative von 1935 (84,3%). Überdurchschnittlich hohe Beteiligungen zeitigten auch die Urnengänge über den Beitritt zum Völkerbund (1920, 77,5%), die Aufhebung des Achtstundentags (1924, 77,0%), die erste Vorlage zur AHV (1931, 78,2%), die Herabsetzung der Besoldungen des Bundespersonals (1933, 80,5%) und den Schutz der öffentlichen Ordnung (1934, 79,0%). Im Durchschnitt aller 53 eidgenössischen Abstimmungen der Zwischenkriegszeit gingen 61%, nur in zehn Fällen weniger als 50% der Berechtigten an die Urnen.

In den 1950er Jahren sank die durchschnittliche Stimmbeteiligung unter 50%. Mehr als 65% wurden nur bei der ersten, gescheiterten Vorlage zum Frauenstimmrecht (1959, 66,7%) erreicht. Nur drei weitere Vorlagen bewegten mehr als 60% der Stimmberechtigten an die Urne: das Landwirtschaftsgesetz (1952, 64,2%), eine Bundesfinanzordnung (1953, 60,3%) und die erfolglose Initiative zur 44-Stunden-Woche (1958, 61,8%). Bei den 26 eidgenössischen Abstimmungen der 1960er Jahre sank die durchschnittliche Beteiligung weiter auf 41%. Beim obligatorischen Referendum zum Bodenrecht gingen 1969 gerade einmal 32,9% der Stimmberechtigten an die Urne. Einen Höhepunkt erreichte 1970 die sogenannte Überfremdungsinitiative mit 74,7%, während die erfolgreiche Abstimmung über das Frauenstimmrecht 1971 noch 57,7%, die Bildungs- und Forschungsvorlagen 1973 nur 27,5% mobilisierten.

Bei den über 150 eidgenössischen Abstimmungen zwischen 1975 und 1995 (nun fast immer mit mehreren Vorlagen pro Abstimmungstag) stieg die durchschnittliche Beteiligung wieder auf rund 43%. Umstrittene Themen wie die Ausländer-, Finanz-, Wohn-, Gesundheits-, Verkehrs- und Umweltpolitik (Abstimmungen betreffend Überfremdung, Mehrwertsteuer, Mieterschutz, Krankenversicherung, Neue Eisenbahn-Alpentransversale, Schutz der Moore) sowie vor allem emotional aufgeladene Fragen zur Militär-, Aussen- und Europapolitik ("Schweiz ohne Armee" 1989, 69,2%; UNO-Vollmitgliedschaft 1986, 50,7%; 2002, 58,4%; EWR-Beitritt 1992, 78,7%) trieben die Stimmbeteiligung in die Höhe.

Kantonal unterschiedliche Stimmbeteiligungen zu eidgenössischen Fragen sind Ausdruck der jeweiligen politischen Kultur, aber auch sachlich bedingt, da die Bundespolitik (z.B. die Verkehrs-, Energie-, Umwelt- und Landwirtschaftspolitik) verschiedenartig auf kantonale und regionale Interessen einwirkt. Traditionell ist die Beteiligung in der französischen Schweiz etwas tiefer, im Gegensatz zu verschiedenen deutschschweizerischen Kantonen in den vergangenen Jahren aber nicht weiter gesunken. Ausserdem waren die Unterschiede zwischen den Sprachregionen in grossen Streitfragen gering. In den letzten 20 Jahren betrug die durchschnittliche Beteiligung an eidgenössischen Abstimmungen zum Beispiel im Kanton Genf 36,5%, im Tessin 39,5%, im Aargau 40%, in Schwyz 41%, in Bern 41,5% und im Kanton Zürich 48%.

Auch die Beteiligung an eidgenössischen Wahlen war von Kanton zu Kanton verschieden, was mit grössenmässigen, wirtschaftlichen und soziokulturellen Differenzen, aber auch mit der Verschiedenartigkeit der Parteiensysteme und mit der Bedeutung einzelner Wahlereignisse zusammenhängt. Im Allgemeinen ist auch die Wahlbeteiligung in erster Linie Ausdruck der Konfliktintensität und damit des politischen und sozioökonomischen Zustands. So gingen 1848 44,6%, danach in den Jahren der freisinnigen Dominanz vor 1919 durchschnittlich 54,8%, ab dem ersten Proporzwahljahr 1919 bis 1935 immer gegen 80% der Wahlberechtigten bei den eidgenössischen Parlamentswahlen an die Urne, in der Hochkonjunktur der 1960er Jahre über 60% und bei den Wahlen von 1979 erstmals weniger als 50% seit Einführung des Proporzes.

Ursachen und Auswirkungen des Beteiligungsrückgangs

Bei der Suche nach den Ursachen der unterschiedlichen Stimm- und Wahlbeteiligung ist zunächst zwischen gesellschaftlichen Krisen- und Normallagen zu unterscheiden. Krisen intensivierten politische Konflikte und trieben die Stimm- und Wahlbeteiligung in die Höhe, die in Perioden der Prosperität wieder absank. Weiter sind vor allem drei Ursachenbündel massgebend: erstens die Struktur des politischen Systems, zweitens die Qualität und damit die Legitimität der Politik und der Politiker, drittens der Entwicklungsstand der Gesellschaft.

In der Schweiz ist die oft tiefe Stimm- und Wahlbeteiligung stark systembedingt, da sich die Möglichkeiten der Partizipation auf viele Ebenen und Vorgänge verteilen und die einzelne Abstimmung bedeutungsloser machen. Sie ist überdies Ausdruck der Stabilität des politischen wie des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Systems, obwohl der Reformdruck in der jüngeren Vergangenheit gestiegen ist. Weiter erzwangen die direkte Demokratie, der Proporz und die Verteilungsautomatik der Konkordanzdemokratie politische Kompromisse, die ausgleichend und beteiligungssenkend wirkten. Als neuere Ursachen des Rückgangs der Stimm- und Wahlbeteiligung kamen veränderte Lebensgewohnheiten, der stärkere Individualismus, aber auch die zunehmende Komplexität vieler Sachfragen zum Tragen. Wenig Wirkung zeitigten dagegen die Erweiterungen des Stimm- und Wahlrechts auf die Frauen (1971), Auslandschweizer (1975) und 18-19-Jährigen (1991). Nach Bevölkerungsgruppen aufgegliedert beteiligten sich generell mehr Ältere als Jüngere, mehr Männer als Frauen, mehr Personen höherer Position und Bildung sowie mehr Stimmberechtigte aus der deutschen als aus der französischen und italienischen Schweiz. Im Zunehmen begriffen ist die Abhängigkeit der politischen Willensbildung von plakativ und medienwirksam verbreiteten Parolen der Interessengruppen und Parteien.

Schwierig zu beurteilen sind die Auswirkungen des Rückgangs der Stimm- und Wahlbeteiligung auf den Prozess und die Ergebnisse der Politik. Positiv ist, dass zugleich die politische Konfliktintensität und die Gegensätze zwischen den gesellschaftlichen Gruppen und den Landesteilen zurückgegangen bzw. die Verständigungsbereitschaft gestiegen ist. Dies ist für eine kleine Gesellschaft und ein politisches System mit häufigen Abstimmungen und Wahlen wichtig. Am Beispiel des Kantons Schaffhausen (Stimmzwang) zeigt sich, dass die Effekte unterschiedlicher Stimmbeteiligung in der Regel gering sind. Schon 35% führen statistisch zu repräsentativen Ergebnissen. Ausserdem wird der Interessenausgleich meist schon vor der Abstimmung gesucht. Demgegenüber dürften die Auswirkungen der sinkenden Wahlbeteiligung stärker sein, da unter den Bedingungen eines Mehrparteiensystems, des Proporzes und meist kleiner Wahlkreise schon wenige Stimmen über ein Mandat entscheiden können, was Parteien mit einer leichter mobilisierbaren Anhängerschaft zum Vorteil gereicht.

Quellen und Literatur

  • Partizipation und Abstinenz, 1973
  • U. Engler, Stimmbeteiligung und Demokratie, 1973
  • L. Neidhart, Ursachen der gegenwärtigen Stimmabstinenz in der Schweiz, 1977
  • A. Riklin, Stimmabstinenz und direkte Demokratie, 1981
  • S. Veya, L'abstentionnisme, Liz. Neuenburg, 1992
Weblinks

Zitiervorschlag

Leonhard Neidhart: "Stimm- und Wahlbeteiligung", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 28.03.2017. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/017366/2017-03-28/, konsultiert am 29.03.2024.