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Krankenversicherung

Die Krankenversicherung ersetzt bei Krankheit meist teilweise den Verdienstausfall und übernimmt Arzt-, Medikamenten-, Spital- und weitere Heilungskosten. Überwog ursprünglich die erste Funktion, so steht heute eindeutig die zweite im Vordergrund. Zwar bestanden gegenseitige Hilfsgesellschaften und andere Frühformen von Krankenkassen bereits seit Jahrhunderten, doch befasste sich die schweizerische Gesetzgebung erst seit den 1880er Jahren damit. Unzulänglichkeiten der Haftpflicht bei Berufsunfällen sowie die deutschen Kranken- und Unfallversicherungsgesetze (1883/1884) bildeten den Hintergrund.

Weil sich nach damaliger Auffassung beide Risiken versicherungstechnisch schwer trennen liessen, strebte man in der Schweiz ein einheitliches Kranken- und Unfallversicherungsgesetz (KUVG) als ersten Zweig der Sozialversicherung an. Aufgrund einer von Nationalrat Wilhelm Klein 1885 eingereichten Motion entstand 1890 Artikel 34bis Bundesverfassung, der den Bund zur Einrichtung einer Kranken- und Unfallversicherung unter Berücksichtigung der bestehenden Krankenkassen verpflichtete und ihm die Kompetenz zum Obligatorium gab. Auf dem deutschen Vorbild aufbauend, entwarf Ludwig Forrer bis Anfang 1893 ein KUVG, das eine Expertenkommission und die Bundesversammlung überarbeiteten. Während sich Forrer und seine radikal-demokratischen Freunde in diesen Gremien im Wesentlichen durchsetzten, formierte sich der Widerstand der westschweizerischen Sociétés de secours mutuels und der katholischen Sozialpolitiker, die um ihre Kassen fürchteten. Der Schweizerische Arbeiterbund wollte mit einer Initiative alle Heilungskosten dem Staat und den Erwerbsersatz der Krankenversicherung übertragen, brachte aber 1894 nicht genügend Unterschriften zusammen. Das KUVG von 1899 (Lex Forrer) hätte eine eidgenössische Unfallversicherungsanstalt bzw. öffentliche und private Krankenkassen, das Obligatorium für die meisten unselbstständigen Erwerbstätigen, garantierte Heilungskosten und Erwerbsersatz, ferner Subventionen des Bundes sowie Arbeitgeber- und Arbeitnehmerbeiträge festgeschrieben. Obwohl von allen wichtigen politischen Kräften unterstützt, scheiterte es 1900 am Referendum politischer Aussenseiter. Einzig die unbestrittenen Artikel zur Militärversicherung wurden 1902 in Kraft gesetzt.

Kleines Plakat des Schweizerischen Arbeiterbunds zur Abstimmung über die Krankenversicherung vom 4. Februar 1912, gedruckt bei der Genossenschaftsdruckerei Zürich (Privatsammlung).
Kleines Plakat des Schweizerischen Arbeiterbunds zur Abstimmung über die Krankenversicherung vom 4. Februar 1912, gedruckt bei der Genossenschaftsdruckerei Zürich (Privatsammlung).

In einem zweiten Anlauf für ein KUVG wurde der Teil Krankenversicherung auf eine Subventionsregelung reduziert, der Teil Unfallversicherung im Wesentlichen übernommen. Das KUVG von 1911, welches 1912 das diesmal von Unternehmerkreisen ergriffene Referendum überstand und bis 1995 die Grundlage der Krankenversicherung bildete, basierte auf Freiwilligkeit. Es sah für Kassen, die sich der Bundesaufsicht unterstellten, Bundesbeiträge vor, sofern sie gewisse Minimalleistungen garantierten und beiden Geschlechtern ― bei unterschiedlichen Prämien ― gleiche Aufnahmebedingungen boten. Ferner ermöglichte es den Kantonen die Einführung von Voll- oder Teilobligatorien.

Drei Revisionsversuche scheiterten in den frühen 1920er, den späten 1940er und den frühen 1950er Jahren. Erst 1964 gelang eine kleine Teilrevision. In den frühen 1970er Jahren standen eine Initiative der SP, die unter anderem ein Obligatorium vorsah, sowie mehrere Reformmodelle von Experten zur Debatte. Initiative und Gegenvorschlag scheiterten indes 1974 in der Abstimmung. Eine weitere Expertenkommission bereitete daraufhin eine Teilrevision vor. Das 1987 endlich verabschiedete Gesetz, unter anderem mit einer Mutterschaftsversicherung (Mutterschaft), schaffte aber die Abstimmungshürde nicht.

Angesichts der finanziellen Probleme der Krankenversicherung hatten 1985 die Krankenkassen und 1986 SP und Gewerkschaften weitere Initiativen eingereicht, die aber 1992 bzw. 1994 ebenfalls verworfen wurden. Befristete Massnahmen gegen die Kostensteigerung fanden dagegen 1993 Zustimmung. Mit dem Krankenversicherungsgesetz (KVG) von 1994, das 1996 in Kraft trat, fand erstmals eine grundlegende Neuordnung die Zustimmung der Stimmberechtigten, nämlich die obligatorische Grundversicherung, geschlechtsneutrale und für kleine Einkommen subventionierte Prämien sowie ein erleichterter Kassenwechsel. Wegen des grossen Problemdrucks – vor allem stark steigende Kosten – wurden das KVG und die entsprechende Verordnung in der Folge wiederholt einer Teilrevision unterzogen. Seit 2004 ist nicht mehr das Bundesamt für Sozialversicherung, sondern das Bundesamt für Gesundheit für die Krankenversicherung zuständig.

Quellen und Literatur

  • F. Heinser, Die Entstehung des Verfassungsartikels 34bis, 1976
  • J.H. Sommer, Das Ringen um soziale Sicherheit in der Schweiz, 1978
  • R. Knüsel, F. Zurita, Assurances sociales, une sécurité pour qui?, 1979
  • T. Erni, Die Entwicklung des schweiz. Kranken- und Unfallversicherungswesens, 1980
  • Assurance-maladie, hg. von P. Gilliand, 1990
  • B. Degen, «Haftpflicht bedeutet den Streit, Versicherung den Frieden», in Wiss. und Wohlfahrt, hg. von H. Siegenthaler, 1997
Weblinks

Zitiervorschlag

Bernard Degen: "Krankenversicherung", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 30.10.2008. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/016608/2008-10-30/, konsultiert am 13.04.2024.