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Sozialversicherungen

Sozialversicherungen decken Einkommensausfall und zum Teil Heilungskosten bei im Wesentlichen vier Risiken: Unfall, Krankheit, Alter und Arbeitslosigkeit. Führt eines davon zum Tod des Ernährers, können Hinterbliebene (Witwen, Waisen) Leistungen beanspruchen. Die ursprüngliche Bezeichnung Arbeiterversicherung deutet an, dass Sozialversicherungen erst im Lauf der Zeit die gesamte Bevölkerung erfassten. Die meisten Systeme waren einst ganz und sind heute noch stark auf kontinuierliche Erwerbstätigkeit ausgerichtet; sie benachteiligen Personen mit temporär oder saisonal unterbrochenen Berufslaufbahnen, vor allem Frauen. Grundsätzlich bauen Sozialversicherungen auf Zwangssparen auf, indem sie Prämien von Erwerbstätigen und eventuell Unternehmern einziehen und beim Auftreten der versicherten Risiken Leistungen erbringen. Im Gegensatz zur Fürsorge hängen diese nur zu einem geringen Teil (Ergänzungsleistungen) vom Bedarf der Betroffenen ab; aufgrund der Beiträge besteht ein Rechtsanspruch.

Als familienwirtschaftliche und nachbarschaftliche Netze, konservative Fürsorge und liberales Laisser-faire versagten, differenzierten sich im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts die Ansichten über Armut. Unfall, Krankheit, Alter und Arbeitslosigkeit fanden zunehmend Anerkennung als soziale Phänomene, für die die Gesellschaft zuständig ist. Massnahmen schienen umso dringender, als offensichtliche Missstände der sozialistischen Propaganda Auftrieb verliehen und den Arbeitsfrieden gefährdeten. Angeregt durch das deutsche Vorbild gab Nationalrat Wilhelm Klein 1885 mit einer Motion den Anstoss zu Artikel 34bis der Bundesverfassung (BV), der 1890 dem Bund erstmals Kompetenz und Auftrag für eine Sozialversicherung verlieh. Im Gegensatz zum Deutschen Reich, wo die Gesetzgebung von konservativen Kräften ausging, waren es in der Schweiz anfänglich radikal-demokratische Kreise um Ludwig Forrer. Dessen ambitiöses Kranken- und Unfallversicherungs-Gesetz (KUVG) scheiterte 1900 am Referendum. Übrig blieb nur die Militärversicherung, die 1902 als erste schweizerische Sozialversicherung ihre Tätigkeit aufnahm. Das wesentlich reduzierte KUVG von 1911 trat 1914 (Krankenversicherung) bzw. 1918 (Unfallversicherung) in Kraft. Vollzug, Ausbau und Planung neuer Zweige übernahm das 1913 geschaffene Bundesamt für Sozialversicherungen.

Die soziale Unrast am Ende des Ersten Weltkriegs regte die Sozialpolitik vorübergehend an, woraus für die Sozialversicherungen aber nur Artikel 34quater BV von 1925 ― die Verpflichtung für die Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV) und die Kompetenz für die Invalidenversicherung (IV) ― resultierte. Im internationalen Vergleich geriet die Schweiz zunehmend ins Hintertreffen. Erst 1940 folgte als nächster Ausbauschritt die Lohnersatzordnung für Wehrmänner, aus der nach verschiedenen Änderungen 1952 die ordentliche Erwerbsersatzordnung hervorging. Damit wurde das für die Zukunft grundlegende System mit Lohnprozenten und Ausgleichskassen eingeführt. Namentlich die 1946 beschlossene AHV übernahm dieses System.

Sozialleistungs- und Soziallastquote (in % des Bruttoinlandprodukts) 1950-2008a

JahrSozialleistungsquoteSoziallastquote
19504,6%10,5%
19555,1%10,4%
19606,1%11,5%
19657,3%12,4%
19708,5%13,5%
197512,5%18,1%
198013,2%19,6%
198514,4%21,0%
199014,1%22,4%
199518,6%26,6%
200019,7%26,0%
200522,3%27,4%
200820,5%26,7%
 
Sozialleistungsquote =Teil der gesamten Wirtschaftsleistung, der durch Empfänger von Sozialleistungen beansprucht werden könnte.
Soziallastquote =Relative Belastung der Volkswirtschaft durch Sozialversicherungseinnahmen.

a Ab 1990 nach neuer Berechnungsmethode. Der Niveauunterschied beider Reihen ist für die Sozialleistungsquote verschwindend klein, für die Soziallastquote beträgt er +1,5 Prozentpunkte.

Sozialleistungs- und Soziallastquote (in % des Bruttoinlandprodukts) 1950-2008 -  Schweizerische Sozialversicherungsstatistik 2010; Bundesamt für Sozialversicherungen

Die folgende Hochkonjunktur bot günstige Voraussetzungen zum Ausbau der Sozialversicherungen. Aus der 1945 in Artikel 34quinquies BV festgelegten Kompetenz für Familienzulagen und Verpflichtung zur Einrichtung einer Mutterschaftsversicherung (Mutterschaft) resultierten zunächst 1952 nur Familienzulagen für die Landwirtschaft. Erst 2003 wurde die Mutterschaftsversicherung gesetzlich geregelt. Weitaus bedeutender war die 1960 eingeführte IV. Für arme Rentner wurden 1966 bedarfsabhängige Ergänzungsleistungen zu AHV und IV eingerichtet. Unter dem Druck der Initiativen für eine Volkspension kam 1972 ein neuer Artikel 34quater zustande, der das Dreisäulen-Prinzip von AHV/IV, beruflicher Vorsorge (Pensionskassen) und Selbstvorsorge in der Bundesverfassung verankerte. Das zur Umsetzung nötige Bundesgesetz über die berufliche Vorsorge trat 1985 in Kraft. In der Krise der 1970er Jahre wurden die Mängel der freiwilligen Arbeitslosenversicherung deutlich sichtbar, weshalb 1976 Artikel 34novies BV und schliesslich das Gesetz von 1982 das Obligatorium festlegten. In erst spät durch den Bund geregelten Zweigen der Sozialversicherungen bestanden zum Teil seit Jahrzehnten auf kantonaler Ebene und/oder auf freiwilliger Basis öffentliche und private Versicherungen. Der Anteil der Sozialversicherungen am Bruttoinlandprodukt lag bis 1990 klar unter dem EU-Niveau, näherte sich diesem danach aber an (1993: Schweiz 27,0%, EU 28,8%).

Quellen und Literatur

  • J.H. Sommer, Das Ringen um soziale Sicherheit in der Schweiz, 1978
  • A. Maurer, Gesch. des schweiz. Sozialversicherungsrechts, 1981
  • P. Greber, Les principes fondamentaux du droit international et du droit suisse de la sécurité sociale, 1984
  • H.P. Tschudi, Entstehung und Entwicklung der schweiz. Sozialversicherungen, 1989
  • J.-P. Fragnière, G. Christen, Wegleitung durch die Institutionen der sozialen Sicherheit in der Schweiz, 1993 (franz. 1988)
  • P. Gilliand, S. Rossini, La protection sociale en Suisse, 1997
  • P. Gnaegi, Histoire et structure des assurances sociales en Suisse, 1998
  • Gesch. der Sozialversicherungen, 2006
  • J. Moser, Der schweiz. Wohlfahrtsstaat, 2008
Weblinks

Zitiervorschlag

Bernard Degen: "Sozialversicherungen", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 30.07.2015. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/016607/2015-07-30/, konsultiert am 29.03.2024.