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Evangelisch-reformierte Kirchen

Die Evangelisch-reformierten Kirchen, die grösstenteils zu den schweizerischen Landeskirchen zählen, gehen auf die Reformation im 16. Jahrhundert zurück. Entsprechend der politischen Aufteilung der damaligen Eidgenossenschaft in eine Vielzahl nur lose miteinander verbundener Stände verlief die Reformation in jedem Gebiet anders. Zürich, wo Huldrych Zwingli wirkte, wurde dabei zum Zentrum des zwinglianischen Reformationstyps, wie er sich in den deutschsprachigen Gebieten der Eidgenossenschaft ausbreitete. Genf, das Zentrum der Aktivitäten von Johannes Calvin, bildete hingegen den Mittelpunkt des calvinistischen Typs, der in den französischsprachigen Gebieten Fuss fasste. Dass der Zürcher und der Genfer Strang der Reformation zu einer einzigen reformierten Kirchenfamilie zusammenwuchsen, ist vor allem der Verständigung zwischen Calvin und Heinrich Bullinger, dem Nachfolger Zwinglis, zu verdanken, die ihren Niederschlag in der Zürcher Übereinkunft (Consensus tigurinus) von 1549 fand. Die Evangelisch-reformierten Kirchen sind dem Protestantismus zuzurechnen.

Evangelisch und protestantisch sind übergreifende Bezeichnungen für alle im weitesten Sinne der Reformation verpflichteten Traditionen und werden heute weitgehend gleichbedeutend verwendet. Innerhalb der vielfältigen Tradition evangelischer oder protestantischer Kirchen gibt es wiederum voneinander unabhängige Konfessionen, zum Beispiel Lutheraner, Methodisten oder Reformierte. Evangelisch-reformierte Kirchen stellen jenen Strang innerhalb des weltweiten Protestantismus dar, der historisch und theologisch in der schweizerisch-oberdeutschen Stadtreformation wurzelt, sich vor allem um die Zentren Zürich (Zwingli) und Genf (Calvin) bildete und von hier nach Europa ausstrahlte.

Reformation

Die Schweizer Reformation war vor allem Teil der politischen Reform der eidgenössischen Stadtorte. Die städtischen Räte befanden als weltliche Obrigkeiten über die kirchliche Erneuerung und führten sie kraft obrigkeitlichen Befehls durch (Kirche und Staat). So gelangte die Reformation ab den 1520er Jahren nach und nach zum Durchbruch: 1522-1523 unter Zwingli in Zürich, 1524 unter Joachim Vadian in St. Gallen, 1528 unter Berchtold Haller in Bern, 1529 in Schaffhausen und unter Johannes Oekolampad in Basel, 1530 unter Guillaume Farel in Neuenburg, 1535-1536 unter Farel und Calvin in Genf, 1536 in der von Bern eroberten Waadt. Im Gebiet der rätischen Bünde erfolgte die Reformation in zwei Schüben, nämlich nach dem Bundstag von Ilanz von 1526 allmählich unter Johannes Comander in Chur und zahlreichen Gemeinden sowie in den 1550er Jahren im Engadin, Bergell und Puschlav.

Titelseite der Confessio Helvetica posterior von Heinrich Bullinger. Handschrift von 1566, mit Korrekturen und Ergänzungen des Verfassers (Zentralbibliothek Zürich, Ms. Car. XV 52, Fol. 2r).
Titelseite der Confessio Helvetica posterior von Heinrich Bullinger. Handschrift von 1566, mit Korrekturen und Ergänzungen des Verfassers (Zentralbibliothek Zürich, Ms. Car. XV 52, Fol. 2r).

Die zwinglianische Reformation brachte nicht nur die reformierten Kirchen hervor. Unter den engsten Weggefährten Zwinglis kam es wegen grundsätzlicher Differenzen im Kirchenverständnis, wegen Fragen der Taufe und der staatlichen Autorität in Sachen Kirchenreform schon früh zu einem Bruch, aus dem heraus die von reformierten Kirchen und Obrigkeiten während Jahrhunderten blutig verfolgte Bewegung der Täufer entstand. So liegt in der Zürcher Reformation zugleich die Wiege des reformiert-volkskirchlichen und des täuferisch-freikirchlichen Protestantismus. Schmerzhaft verlief auch die Auseinandersetzung mit der lutherischen Reformation in Deutschland: Trotz mancherlei Kontakten und gemeinsamen Überzeugungen in den zentralen reformatorischen Anliegen kam es 1529 in Marburg zwischen Luther und Zwingli wegen der Abendmahlsfrage zu einem Bruch, der bis ins 20. Jahrhundert hinein fortbestehen sollte.

Von den zahlreich entstandenen reformierten Bekenntnisschriften und Katechismen erhielten vor allem das von Bullinger verfasste zweite Helvetische Bekenntnis von 1566, die «Confessio Helvetica Posterior», sowie die Genfer Katechismen Calvins von 1537 und 1542 grundlegende Bedeutung weit über die Grenzen der reformierten Eidgenossenschaft hinaus. Die reformierten Kirchen pflegten von Anfang an vielfältige Beziehungen zu anderen Reformatoren und reformatorischen Kirchen in Deutschland, Frankreich, Holland, Ungarn, England sowie Schottland. Hauptsächlich Zürich und Genf hatten intensive internationale Kontakte. Genf, das eine theologische Akademie besass, wurde gelegentlich sogar als das Rom des Protestantismus bezeichnet. Aber auch die Universitäts- und Druckerstadt Basel sowie Bern und Lausanne mit ihren Hohen Schulen (Akademien) genossen im 16. Jahrhundert als Studienorte für Theologie weithin grosses Ansehen und wirkten im reformatorischen Austausch mit.

Innenraum des Basler Münsters. Öl auf Leinwand von Hans Sixt Ringle, 1650 (Historisches Museum Basel).
Innenraum des Basler Münsters. Öl auf Leinwand von Hans Sixt Ringle, 1650 (Historisches Museum Basel). […]

Die reformierten Kirchen vom 17. bis zum 19. Jahrhundert

In Analogie zur föderalistischen Struktur im politischen Bereich kam es auf dem Gebiet der Eidgenossenschaft nie zur Ausbildung einer vereinten reformierten Kirche. Vielmehr behielten die verschiedenen reformierten Kirchen ihre Gestalt als autonome Territorialkirchen, die aber auf vielfältige Weise im persönlichen Austausch untereinander standen. Die evangelische Tagsatzung stellte als regelmässige Zusammenkunft der Vertreter aller reformierten Stände der Eidgenossenschaft das offizielle Forum dar, auf dem gemeinsame Anliegen – etwa Hilfeleistungen an verfolgte Glaubensgenossen (Protestantische Glaubensflüchlinge) im Ausland – diskutiert und notwendige Massnahmen abgesprochen wurden.

Mit Blick auf die Bekenntnisverpflichtung verlief die Entwicklung in den reformierten Kirchen der Schweiz anders als in anderen reformierten Kirchen der Welt. Durch das Aufkommen von Aufklärung und Pietismus im 17. und 18. Jahrhundert verloren die reformatorischen Bekenntnisse an Überzeugungskraft und innerer Verbindlichkeit. Widerstand gegen extreme Bekenntnisformulierungen aus der Zeit der protestantischen Orthodoxie im 17. Jahrhundert, darüber hinaus aber auch gegen jeglichen staatskirchlichen Bekenntniszwang führte in den folgenden Jahrhunderten zur Abschaffung jeder formellen Verpflichtung auf traditionelle Glaubensbekenntnisse (Apostolikumsstreit). Bis heute nennen die Kirchenverfassungen der reformierten Kirchen der Schweiz in der Regel einzig die Bibel als verpflichtendes Dokument, an dem sich der reformierte Glaube zu messen habe. Deren Interpretation ist weitgehend frei.

Im Verlauf ihrer Geschichte, vor allem im 19. Jahrhundert, hatten die reformierten Kirchen der Schweiz immer wieder mit Abspaltungen zu kämpfen. So kam es aus Protest gegen liberale Theologie und staatliche Eingriffe in das kirchliche Leben, aber auch durch Impulse der Erweckungsbewegungen zu Abspaltungen von Evangelischen Freikirchen wie 1845-1847 im Waadtland, 1849 in Genf und 1873 in Neuenburg. Die Wiedervereinigungen der Freikirchen Neuenburgs und der Waadt mit den reformierten Landeskirchen erfolgten 1943 bzw. 1965. Im 19. Jahrhundert stellten von der Erweckungsbewegung ergriffene Reformierte häufig auch die Rekrutierungsbasis für neu entstehende Evangelische Freikirchen ausserhalb der reformierten Tradition dar, zum Beispiel für die Freien Evangelischen Gemeinden (ab 1829) oder die Neutäufer (ab 1832). Das Verhältnis zwischen den reformierten Volkskirchen oder Landeskirchen einerseits und den Freikirchen andererseits blieb meistens gespannt, auch wenn sich die gegenseitigen Beziehungen in neuerer Zeit merklich verbessert haben.

Die reformierten Kirchen im 20. und 21. Jahrhundert

Die heutigen Strukturen der meisten reformierten Kirchen wurden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Analogie zu den neuen politischen Strukturen gebildet, welche die Konstituierung des schweizerischen Bundesstaats im Jahre 1848 mit sich brachte. Wie das Geschick der politischen Kommunen von einer Gemeindeversammlung als Legislative und einem Gemeinderat als Exekutive geleitet wird, so dasjenige der Kirchgemeinde von einer Kirchgemeindeversammlung und einem Kirchgemeinderat. Auf kantonaler Ebene entsprechen die Kirchensynode und der Kirchenrat den politischen Gremien des Kantons- und des Regierungsrats. Charakteristisch reformiert ist dabei der Aspekt kollegialer Kirchenleitung: Die Synode als demokratisch gewählte Kirchenvertretung aus Pfarrerschaft und – mehrheitlich – Laien ist oberstes Leitungsorgan. Auf Gemeindeebene sind die Ämter der Pfarrer, der diakonischen Mitarbeiter (Diakon) und der Kirchenvorsteher (Presbyterium) einander gegenseitig zugeordnet. Alle Ämter stehen seit Mitte des 20. Jahrhunderts Männern und Frauen gleichermassen offen.

Auf nationaler Ebene blieb die Verbindung zwischen den verschiedenen kantonal organisierten reformierten Kirchen lange Zeit äusserst lose. 1858 wurde die jährlich tagende Schweizerische Kirchenkonferenz gegründet, welche die alte evangelische Tagsatzung ablöste. 1920 schlossen sich die reformierten Kirchen zum Schweizerischen Evangelischen Kirchenbund (SEK) zusammen, der sich 2020 in Evangelisch-reformierte Kirche Schweiz (EKS) umbenannte. Dem Kirchenbund trat 1922 auch die Methodistische Kirche bei. Er ist selbst nicht eine Kirche, sondern ein Bund selbstständiger Kirchen. Darin spiegelt sich eine für die reformierte Mentalität typische Abneigung gegen zentrale übergeordnete Instanzen wider.

Durch den Kirchenbund beteiligten sich die reformierten Kirchen international an einer Reihe von ökumenischen Organisationen (Ökumene), so seit 1922 am Reformierten Weltbund, seit 1948 am Ökumenischen Rat der Kirchen, seit 1959 an der Konferenz Europäischer Kirchen und seit 1974 an der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa (ehemals Leuenberger Kirchengemeinschaft). Letztere ermöglichte durch die 1973 abgeschlossene sogenannte Leuenberger Konkordie die Überwindung des 1529 erfolgten Bruchs mit den Lutherischen Kirchen. Seither stehen die reformierten und lutherischen, seit 1996 auch die methodistischen Kirchen europaweit in voller kirchlicher Gemeinschaft, ohne deswegen ihre konfessionelle Eigenständigkeit preiszugeben.

"Frieden wollen alle... le prix de la paix". Plakat zur ökumenischen Sammelaktion während der Fastenzeit vor Ostern 1991, durchgeführt von Brot für alle und Fastenopfer, den Hilfswerken der evangelisch-reformierten bzw. römisch-katholischen Kirchen (Museum für Gestaltung Zürich, Plakatsammlung, Zürcher Hochschule der Künste).
"Frieden wollen alle... le prix de la paix". Plakat zur ökumenischen Sammelaktion während der Fastenzeit vor Ostern 1991, durchgeführt von Brot für alle und Fastenopfer, den Hilfswerken der evangelisch-reformierten bzw. römisch-katholischen Kirchen (Museum für Gestaltung Zürich, Plakatsammlung, Zürcher Hochschule der Künste).

Die reformierten Kirchen der Schweiz haben eine Reihe von gemeinsamen Werken ins Leben gerufen. Aufgaben der kirchlichen Partnerschaft zwischen Kirchen in der Schweiz und in Übersee nehmen die reformierten Kirchen in der Westschweiz durch das Département missionnaire des Eglises protestantes de la Suisse romande, in der Deutschschweiz durch die Mission 21 - Evangelisches Missionswerk Basel (Basler Mission) wahr. Als Instrument kirchlicher Hilfeleistungen wurde das Hilfswerk der Evangelischen Kirchen der Schweiz gegründet; Brot für alle schliesslich ist die Agentur der reformierten Kirchen für entwicklungspolitische Fragen und für Mittelbeschaffung zugunsten der genannten Werke.

Die reformierten Kirchen waren bis ins 19. Jahrhundert meist eigentliche Staatskirchen. Erst in neuerer Zeit gewannen sie mehr Selbstständigkeit. Sie blieben aber, mit Ausnahme der Genfer Freikirche, ihrem Selbstverständnis nach Landeskirchen. Das Verhältnis zwischen Kirche und Staat ist kantonal geregelt. Während in Genf (seit 1907) und Neuenburg (seit 1943) Kirche und Staat getrennt sind, ist die Verbindung in Bern, Zürich und Waadt nach wie vor sehr eng. In den ersten hundert Jahren nach der Gründung des Bundesstaats machten die Protestanten rund 60% der Bevölkerung aus. Um die Mitte des 20. Jahrhunderts sank ihr Anteil nicht zuletzt aufgrund der Einwanderung von Katholikinnen und Katholiken vor allem aus Südeuropa. Der einst tonangebenden Konfession gehörten im Jahr 2000 gesamtschweizerisch noch 33% der Bevölkerung an. Wie die Kirchen anderer Konfessionen auch, sehen sich die Evangelisch-reformierten Kirchen zu Beginn des 21. Jahrhunderts hauptsächlich von der fortschreitenden Säkularisierung herausgefordert.

Quellen und Literatur

  • Müller, Ernst Friedrich Karl: Die Bekenntnisschriften der reformierten Kirche. In authentischen Texten, mit geschichtlicher Einleitung und Register, 1903.
  • Schweizerischer protestantischer Volksbund (Hg.): Handbuch der reformierten Schweiz, 1962.
  • Halaski, Carl: Die reformierten Kirchen, 1977, S. 41-61 (Die Kirchen der Welt, 17).
  • Locher, Gottfried Wilhelm: Die Zwinglische Reformation im Rahmen der europäischen Kirchengeschichte, 1979.
  • Wendel, François: Calvin. Sources et évolution de sa pensée religieuse, 19852.
  • Fatio, Olivier; Fraenkel, Pierre; Widmer, Gabriel-Philippe: Confessions et catéchismes de la foi réformée, 1986.
  • Bertholet, Jean-Eric: Was bekennen die evangelischen Kirchen in der Schweiz? Eine Übersicht über die Bekenntnisgrundlagen der evangelischen Kirchen, Freikirchen und Gemeinschaften in der Schweiz, 1987, S. 7-40 (Texte der Evangelischen Arbeitsstelle Oekumene Schweiz, 4).
  • Pollet, Jacques V.: Huldrych Zwingli et le zwinglianisme. Essai de synthèse historique et théologique mis à jour d'après les recherches récentes, 1988 (De Pétrarque à Descartes, 52).
  • Vischer, Lukas; Schenker, Lukas; Dellsperger, Rudolf (Hg.): Ökumenische Kirchengeschichte der Schweiz, 19982.
  • Krieg, Matthias; Leuzinger, Paul et al. (Hg.): Die Reformierten. Suchbilder einer Identität, 2002.
Weblinks

Zitiervorschlag

Heinz Rüegger: "Evangelisch-reformierte Kirchen", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 16.10.2006. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/011430/2006-10-16/, konsultiert am 28.03.2024.