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Sozialstaat

Sozialstaat ersetzt im deutschen Sprachraum weitgehend den international verwendeten Begriff Wohlfahrtsstaat (Welfare State). Dieses neue Staatskonzept verbreitete sich von Grossbritannien aus ab den 1940er Jahren weltweit, wobei anfänglich noch konkurrierende Bezeichnungen wie die vom englischen Politiker William Beveridge (1879-1963) geprägte des Social Service State zur Debatte standen. Als erstes zentrales Dokument bezüglich der Realisierung des Sozialstaats gilt der 1942 im Auftrag der britischen Regierung veröffentlichte Beveridge-Plan, der im Frühling und Sommer 1943 auch in der Schweiz auf breites Interesse stiess. Im deutschen Sprachraum bürgerte sich nach dem Zweiten Weltkrieg die auf Lorenz von Stein (1815-1890) zurückgehende Bezeichnung Sozialstaat ein, weil der Ausdruck Wohlfahrtsstaat häufig abwertend gebraucht wurde.

Plakat zur Volksinitiative für die zehnte AHV-Revision ohne Erhöhung des Rentenalters, über die am 27. September 1998 abgestimmt wurde (Museum für Gestaltung Zürich, Plakatsammlung, Zürcher Hochschule der Künste).
Plakat zur Volksinitiative für die zehnte AHV-Revision ohne Erhöhung des Rentenalters, über die am 27. September 1998 abgestimmt wurde (Museum für Gestaltung Zürich, Plakatsammlung, Zürcher Hochschule der Künste). […]

Eine allgemein anerkannte Definition des Sozialstaats fehlt. Der Sozialstaat baut meist auf Rechtsstaat, Marktwirtschaft und Privateigentum an Produktionsmitteln, ergänzt aber die liberalen Grundrechte (Menschenrechte) durch soziale oder durch verfassungsrechtlich weniger verbindliche Sozialziele und modifiziert durch seine Intervention Marktkräfte und Dispositionsfreiheit von Eigentümern. Er garantiert durch Bereitstellung von finanziellen Mitteln und Dienstleistungen sowie durch den Ausbau des Sozialrechts einen Mindestlebensstandard, unabhängig vom Erfolg einer Person auf dem Markt (Sozialpolitik). Zusätzlich federt er die materiellen Risiken bei Unfall, Krankheit, Alter oder Arbeitslosigkeit ab und verkleinert damit den Bereich der Unsicherheit in der Lebensführung (Soziale Sicherheit). Weiter bewirkt er durch progressive Steuern einerseits und Finanzierung von Sozialleistungen andererseits eine Umverteilung der primären Einkommen. Schliesslich verschafft er unabhängig von Status oder Klasse in einem gewissen Grade Zugang zu sozialen und kulturellen Dienstleistungen. Diese Staatsaufgaben stehen in ständiger Konkurrenz zu anderen (z.B. Verkehrs-, Sicherheitspolitik usw.). Als unbestrittene Ziele gelten die Existenzsicherung und eine möglichst weitgehende Chancengleichheit. Kontrovers bleibt dagegen, ob Elemente wie Vollbeschäftigung, Streik- und Koalitionsrecht, Umweltschutz, Stützung der Landwirtschaft, Förderung des sozialen Wohnungsbaus oder Bereitstellung öffentlicher Schulen und Universitäten zwingend zum Sozialstaat gehören. Der Sozialstaat kann als institutioneller Ausdruck dafür verstanden werden, dass die Gesellschaft explizit die Verantwortung für das Wohlergehen ihrer Mitglieder übernimmt.

Der Sozialstaat interveniert auf den verschiedensten Ebenen. Rechtlich verbessert er den Status von Personen, zum Beispiel mit dem Arbeitsrecht oder dem Mietrecht (Miete). Sozial beeinflusst er die Einkommensverteilung, zum Beispiel über das Steuerrecht, die Sozialversicherungen, Familienzulagen oder die Agrarpolitik. Ökonomisch und kulturell versucht er, das menschliche Potenzial stärker zur Geltung zu bringen, zum Beispiel durch das Bildungswesen (Schulwesen) und die Kulturpolitik. Nicht selten strebt er eine allgemeine Verbesserung der Lebensbedingungen an, zum Beispiel durch Regelung des Gesundheitswesens, Umweltschutzpolitik oder Förderung des öffentlichen Verkehrs. Seine Interventionen zielen auf alle Bürger (Bildungswesen, Gesundheitswesen) oder auf bestimmte Kategorien, vor allem auf Erwerbstätige (Arbeitslosenversicherung, Arbeitsrecht). Je nach Bereich ist ihre Wirkung allgemein (Alters- und Hinterlassenenversicherung, AHV) oder selektiv nach einem Bedürfnisnachweis (Fürsorge), freiwillig (Krankenversicherung bis 1995) oder obligatorisch (AHV). Oft ergeben sich nicht immer explizit formulierte geschlechtsspezifische Diskriminierungen, vor allem durch den Vorrang der Erwerbstätigkeit vor der Hausarbeit bei institutionellen und rechtlichen Regelungen. Seit den 1980er Jahren versuchen Reformen, solche Ungerechtigkeiten abzuschwächen (z.B. Splitting in der 10. AHV-Revision, Angleichung des Rentenalters).

Der institutionelle Komplex des Sozialstaats umfasst im Kern die Bereiche Arbeiterschutz, Sozialversicherungen, Bildungswesen, Gesundheitswesen und Arbeitsmarktpolitik (Arbeitsmarkt). Zur Finanzierung dienen einkommensunabhängige Prämien (Krankenversicherung) und Steuern (Warenumsatzsteuer, Mehrwertsteuer) oder einkommensabhängige Prämien (AHV, Pensionskassen) und progressive Steuern (direkte Bundessteuer). Der Sozial- und Wohlfahrtssektor bildet keineswegs ein abgerundetes System, sondern eine mehr oder weniger fragmentierte Ansammlung spezifischer Dienstleistungssysteme. Gerade in der Schweiz gehören lange nicht alle Sozialdienste zum zentralen Staatsapparat; sie können auch die Form privater und genossenschaftlicher (Pensionskassen, Krankenkassen) oder lokaler und regionaler Körperschaften (Schulen, Spitäler) annehmen. Die sozialstaatliche Verantwortung bezieht sich auf die Bereitstellung, Finanzierung und Steuerung derartiger Dienstleistungen oder zumindest auf die nötige finanzielle und organisatorische Hilfestellung durch Subventionen und mit Gesetzen.

Der Sozialstaat versucht, eine von möglichst breiten Bevölkerungsschichten als gerecht empfundene Gesellschaftsordnung zu gewährleisten. Er entschärft politische und wirtschaftliche Gegensätze und wirkt integrierend; ausserdem stabilisiert er auch das private Leben in verschiedener Hinsicht (finanzielle Risiken, Gesundheitswesen, Bildungschancen). Der Aufbau des Sozialstaats war mit ein Grund, weshalb die politische und soziale Entwicklung der Schweiz in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in wesentlich ruhigeren Bahnen verlief als in der ersten.

Zum Durchbruch des Sozialstaats trugen einerseits die Modernisierung mit ihren tief greifenden gesellschaftlichen Folgen, vor allem dem Bedeutungsverlust der Familie, und andererseits soziale und politische Mobilisierungsprozesse auf verschiedenen Ebenen (Streiks, Volksinitiativen, Wahlkämpfe usw.) bei. Dabei übernahm die Schweiz keineswegs eine Pionierrolle. Einige wohlfahrtsstaatliche Massnahmen wurzeln zwar im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, zum Beispiel der Arbeiterschutz im Fabrikgesetz von 1877 oder der Verfassungsartikel und das erste Projekt für die Kranken- und Unfallversicherung. Noch lange harrten aber zentrale Elemente wie die AHV als wichtigste Säule der Sozialversicherungen oder eine umfassende Arbeitslosenversicherung ihrer Realisierung. Von einem schweizerischen Sozialstaat kann daher frühestens ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Rede sein. Für seinen Auf- und Ausbau in der Nachkriegskonjunktur setzten sich, wenn auch mit unterschiedlichen Zielsetzungen, die meisten politischen Strömungen ein. Die Ausgestaltung fiel wegen der aussergewöhnlich langen Aufbauphase alles andere als einheitlich aus; konservative, liberale und sozialdemokratische Konzepte überlagerten sich auf vielfältige Weise. Die institutionelle Ausgestaltung dauerte in der Schweiz länger als in den anderen europäischen Ländern, in denen die Krise der 1970er Jahre oft eine Zäsur bildete. Wichtige Entscheide wie die Obligatorien für Arbeitslosen- und Krankenversicherung oder die flächendeckende Einrichtung von Pensionskassen erfolgten erst in den späten 1970er Jahren oder gar noch später. Zwar gewann die Kritik unter dem Titel «Krise des Wohlfahrsstaates» mit Argumenten wie Steuermüdigkeit, Budgetdefizite, sinkendes Wirtschaftswachstum, Standortkonkurrenz, Deregulierung oder Globalisierung auch in der Schweiz ab den 1970er Jahren zunehmend an Boden (Neoliberalismus). Bisher fielen allerdings mehr faktische Schranken – so sanken zum Beispiel die Hemmschwellen, Entlassungen vorzunehmen oder den Teuerungsausgleich abzubauen – als institutionelle. Trotz aller Anfeindungen stieg der Anteil am Volkseinkommen, den Kernbereiche des Sozialstaats wie Sozialversicherungen, Gesundheitswesen und Bildungswesen beanspruchen, bis ins Jahr 2000 weiter an.

Quellen und Literatur

  • W. Linder, «Entwicklung, Struktur und Funktion des Wirtschafts- und Sozialstaats in der Schweiz», in Hb. Polit. System der Schweiz 1, hg. von A. Riklin, 1983, 255-382
  • A. Wagner, Wohlfahrtsstaat Schweiz, 1985
  • G. Esping-Andersen, The Three Worlds of Welfare Capitalism, 1990
  • Wissenschaft und Wohlfahrt, hg. von H. Siegenthaler, 1997
  • Arbeit in der Schweiz des 20. Jh., hg. von T. Geiser et al., 1998
Weblinks

Zitiervorschlag

Bernard Degen: "Sozialstaat", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 08.01.2013. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/009932/2013-01-08/, konsultiert am 29.03.2024.