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Lehnswesen

Belehnung eines Vasallen durch den Kaiser. Um 1300 entstandene Miniatur aus dem Werk, das die Weltchronik des Rudolf von Ems und die Vita Caroli magni des Strickers umfasst (Kantonsbibliothek Vadiana St. Gallen, VadSlg Ms. 302).
Belehnung eines Vasallen durch den Kaiser. Um 1300 entstandene Miniatur aus dem Werk, das die Weltchronik des Rudolf von Ems und die Vita Caroli magni des Strickers umfasst (Kantonsbibliothek Vadiana St. Gallen, VadSlg Ms. 302). […]

Unter dem historischen Fachterminus Lehnswesen versteht man das durch Lehnsrecht geregelte personale Verhältnis zwischen Lehnsherrn und adligen Vasallen mit seinen Auswirkungen auf die politischen, militärischen und wirtschaftlichen Strukturen des europäischen Mittelalters (Feudalgesellschaft). Der oft synonym verwendete Begriff Feudalismus wird in der wissenschaftlichen Terminologie als universalhistorische Kategorie aufgefasst und ist vom Lehnswesen klar zu unterscheiden. Die mittelalterliche Wortbedeutung von lêhen (lateinisch beneficium) umfasst nicht nur das vasallitische Lehen, sondern auch das grundherrliche und das durch städtischen Besitz begründete Abhängigkeitsverhältnis. In der wissenschaftlichen Diskussion wird dagegen zwischen dem vasallitischen Lehnsverhältnis (Lehen) und dem bürgerlichen bzw. bäuerlichen Leiheverhältnis (Leihe) unterschieden. Der lateinische Quellenbegriff feudum leitet sich vom germanischen Ausdruck fihu, d.h. Vieh, ab. Erst in der karolingischen Periode schränkte sich der Begriff auf den lehnsweisen Grundbesitz ein.

Der Belehnungsakt, ein formeller Rechtsakt, umfasste die Mannschaftsleistung (lateinisch homagium), d.h. die vom Vasallen zeremoniell bekundete Verpflichtung zu Dienst und Gehorsam, den Lehnseid (Eid) und im französisch-savoyischen Gebiet zudem den Lehnskuss des Vasallen, schliesslich die Investitur bzw. Übergabe des Lehnsobjekts. Nach einem Heimfall des Lehens beim Tode des Herrn (in der rechtshistorischen Literatur als Herrenfall bezeichnet) oder des Vasallen (Mannfall) fand eine Lehnserneuerung für die Erbberechtigten statt. Die Lehnspflichten umfassten Ehrendienste und Rat am Hof, Kriegsdienst und Burghut (Burglehen) von Seiten des Lehnsmannes sowie die Garantie des Lehnsbesitzes und des Beistands von Seiten des Herrn. Der Bruch der Lehnstreue (Felonie) zog den Lehnsentzug nach sich. Lehnsfähig waren im frühen Mittelalter nur Hochadlige (Adel), ab dem Hochmittelalter wurden Lehen auch an Ministeriale und Bürger vergeben. Die Heerschildordnung, ein Begriff der mittelalterlichen Lehnrechtstheorie (Sachsenspiegel, Schwabenspiegel), regelte die standesgemässe Lehnsverbindung (sogenannte siebenstufige Lehnspyramide). Im Spätmittelalter kam es zu einer Kommerzialisierung des Lehnswesens (Geldrenten, Rentenlehen).

Entstehung

Das fränkische Lehnswesen, das bereits im 6. und 7. Jahrhundert aus einem persönlichen und einem dinglichen Element bestand, entwickelte sich aus zwei unterschiedlichen Wurzeln. Eine Wurzel ist die königliche Schutzherrschaft über Personen freien Standes, die sich dem Dienst des Königs unterworfen hatten; Hinweis auf die ursprüngliche Unfreiheit der Lehnsmänner sind die lateinischen Quellenbegriffe vassus und vassallus, die vom gallorömischen Ausdruck gwas (Knecht) abgeleitet sind, ferner die Zeremonie des sogenannten Handgangs (homagium), des Einlegens in die Hände des Herrn, sowie die Hervorhebung der Gehorsamspflicht. Die zweite Wurzel ist das germanische Gefolgschaftswesen, das die gegenseitige Treue von Vasall und Herrn betont. Dieser Einfluss wertete im 8. Jahrhundert die Vasallität sozial auf.

Neben der persönlichen Rechtsbeziehung spielte schon früh das Benefizium, das Lehnsobjekt, eine wichtige Rolle. Das Benefizium geht zurück auf die merowingischen Landschenkungen aus dem Hausgut, die Vasallen für die Leistung von Kriegsdiensten zur Nutzung übertragen wurden. Durch die Heeresreform Karls des Grossen wuchs die militärische Bedeutung der Vasallen: Die allgemeine Dienstpflicht aller Freien wurde ersetzt durch die Dienstpflicht der Vasallen; der Reiterkrieger wurde zum Krieger schlechthin (Rittertum). Die Vasallität, ein heterogenes Sozialgebilde, umfasste sowohl die Kronvasallen als auch die Vasallen der geistlichen und weltlichen Herren. In die gleiche Zeit fällt auch die Feudalisierung des Ämterwesens: Inhaber königlicher Ämter (z.B. Markgrafen, Grafen) wurden dabei durch vasallitische Bindung der Krone verpflichtet, und die Ämter wurden neben dem damit verliehenen Lehnsgut mehr und mehr selbst als Lehen betrachtet. Schon zu diesem Zeitpunkt bahnte sich durch das Eindringen allodialrechtlicher Vorstellungen (Allod) die Erbfolge im Lehen (Erbrecht) und durch die Gewohnheit der Mehrfachvasallität eine zunehmende Verselbstständigung der Lehnsobjekte an. Durch die Vererbbarkeit verlor die Lehnsbindung ihren ursprünglich personalen Charakter. Das Lehen wurde Grundlage für ein Dienstverhältnis, das eingegangen wurde, eben weil der Lehnsmann ein Lehen empfangen hatte. Mit dem Lehnswesen wurde auch der kirchliche Bereich für den Staatsaufbau nutzbar gemacht, indem Bischöfe und Äbte in lehnsrechtlicher Form eingesetzt wurden.

Hoch- und Spätmittelalter

Nach dem Auseinanderbrechen des fränkischen Reiches entwickelte sich das Lehnswesen in den Nachfolgereichen unterschiedlich. Eine bewusste Lehnspolitik setzte im deutschen Reich in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts wieder ein. Das Lehnsrecht wurde zur Grundlage bei der Vergabe von Ämtern und in Bezug auf die Reichskirche; dem Wormser Konkordat von 1122 gemäss wurden geistliche Reichsfürsten königliche Lehnsträger. Der Investiturstreit beseitigte das ottonische Reichskirchensystem, der König verlieh nur noch die weltlichen Herrschaftsrechte an geistliche Würdenträger. Dadurch wurden die geistlichen Reichsfürsten in das lehnsrechtliche System eingebunden. Da in Schwaben vom 11. Jahrhundert an eine starke herzogliche Gewalt fehlte, kam es zu einer zunehmenden Feudalisierung der Gesellschaft. Bis um 1200 bildete sich der jüngere weltliche Reichsfürstenstand, die Herzogtümer wurden zu rein territorial definierten Lehnsfürstentümern, die ihre Lehen unmittelbar vom König erhielten. Anders als den Königen von Frankreich und England gelang es den Staufern jedoch nicht, einen voll ausgebildeten Lehnsstaat zu errichten. Verstärkt durch den staufisch-welfischen Thronstreit kam es zum Niedergang der Königsmacht.

Dies schuf im Spätmittelalter eine der Voraussetzungen für den Aufbau von Territorialherrschaften: Das Lehnswesen spaltete sich in das Reichslehnswesen und das Lehnswesen in den sich bildenden fürstlichen Territorien auf. Die Verpflichtung der Vasallen auf das Territorium ist Ausdruck einer Lehnspolitik, welche die innere Festigung der Landesherrschaft sowie die Vergrösserung und Abrundung des Territoriums mit dem Mittel der lehnsrechtlichen Bindung zu erreichen suchte. Ein wichtiges Instrument war dabei die Lehnsauftragung (feudum oblatum), durch die aus politischen oder wirtschaftlichen Gründen bisheriger Allodialbesitz durch Übergabe an Mächtigere in Lehen umgewandelt wurde. Die Unterwerfung unter die sich bildende Landesherrschaft wurde durch die neu geschaffenen Lehnsbindungen unterstützt. Im Übergang zum Spätmittelalter setzte sich die Tendenz zur Territorialisierung des Lehnswesens durch. Die persönliche Bindung zwischen Herrn und Lehnsträger rückte in den Hintergrund, dagegen entstand eine engere Beziehung zwischen dem Territorium und den darin begüterten Vasallen. Die Inhaber der landesherrlichen Oberhoheit versuchten, die lehnsrechtlichen Ansprüche anderer Herren innerhalb ihres Territoriums auszuschalten. Der Charakter des Lehnswesens hatte sich so bis um 1300 verändert; in der Verwaltungs- und Gerichtsorganisation kam es zu neuen, amtsrechtlichen Formen, die militärische Bedeutsamkeit hatte abgenommen. Seine herrschaftsfunktionale Bedeutung hatte das Lehnswesen aber noch nicht völlig verloren, wie in der älteren Forschung behauptet wird. Die in Lehnsurkunden oft erwähnten Vorkaufsklauseln, das Festlegen des Rückkaufrechts durch den Lehnsherrn, die fortgesetzte Wiederverleihung nach Heimfall und Ausgabe in Form von Rentenlehen zeigen deutlich, dass die Lehnsherren auch im 14. und 15. Jahrhundert von der Lehnsbindung noch etwas erwarteten. Hinderlich wurde das Lehnswesen erst im 17. Jahrhundert bei der Schaffung eines einheitlichen Untertanenverbandes (Absolutismus).

Das Lehnswesen im Gebiet der Schweiz

In der Schweiz war das Lehnswesen weit weniger wirkungsmächtig als in Deutschland oder Frankreich. Das angeblich enge Gefolgschaftsverhältnis vieler Edelfreier zu den Grafen von Kyburg, von dem in der älteren Geschichtsschreibung die Rede ist, wird in der neueren Forschung bestritten; über solche Lehnsbindungen ist praktisch nichts bekannt. Die Bedeutung des Lehnswesens beim Aufbau der habsburgisch-österreichischen Landesherrschaft in den Vorlanden wird in der Forschung unterschiedlich gewichtet. Im 13. Jahrhundert vergrösserten die Habsburger ihre Vasallität vor allem in der Nordwestschweiz beträchtlich. Zu Beginn des 14. Jahrhunderts waren sie kaum in der Lage, ihre lehnsherrlichen Rechte gesamthaft zu überblicken und zu behaupten; Indiz dafür sind Revokationsrödel wie das Habsburgische Urbar. Bei der heute gegebenen, bezüglich der einzelnen Gebiete sehr ungleichmässigen Forschungslage lässt sich aber vermuten, dass eine territorialpolitische Einbindung gewisser Regionen mittels Intensivierung der lehnsrechtlichen Beziehungen zur österreichischen Landesherrschaft zumindest versucht wurde, zum Beispiel im Raum Rothenburg-Wolhusen. Diese Ansätze wurden jedoch nicht weiter verfolgt. Die Aufzeichnung der Lehen am Lehnshof Herzog Rudolfs IV. 1361 zeigt bereits deutlich eine ungünstige Entwicklung des Lehnswesens in Vorderösterreich. Die Lehnsträger setzten sich grösstenteils aus Bürgern und wohlhabenderen Bauern zusammen. Adlige waren in der Minderheit, und Lehnsobjekte waren offenbar stark zerstückelt. Die vorderösterreichischen Lehen wurden infolge der Herrschaftsferne nicht genügend kontinuierlich und konsequent verwaltet, um für den Aufbau der Landesherrschaft wirksam eingesetzt werden zu können. Das Lehen wurde zu einem Element der Gefolgschaftsbildung auf einer unteren sozialen Stufe, zu einem Kapitalgeschäft für die Lehnsträger, die mehr an den Einkünften interessiert waren als an ihren Rechten und Pflichten gegenüber der österreichischen Herrschaft.

In der Westschweiz fand das Lehnswesen eine stärkere Ausprägung als in den deutschsprachigen Gebieten. Nach dem Aussterben der Herzöge von Zähringen kam es zwar zunächst zu einer Allodisierung. Der lokale Adel vermochte aber seine Reichsunmittelbarkeit nicht lange zu behaupten. Nach 1240 gerieten die waadtländischen Herren wie bereits die Bischöfe von Lausanne und Genf durch Lehnsauftragung teilweise in savoyische Lehnsabhängigkeit (seigneuries). Peter II. versuchte im 13. Jahrhundert, die Lehnsbeziehungen durch ein durchorganisiertes Verwaltungssystem (châtellenies) zu ersetzen und dadurch die einzelnen Herrschaften in die savoyische Landesherrschaft zu integrieren. Dies gelang ihm nur punktuell. Lehnsabhängig waren unter anderen die Grafen bzw. Herren von Greyerz, Cossonay, Bioley, Stäffis, Grandson und Montagny. Anfang des 15. Jahrhunderts erstellte Jean Balay, savoyischer Lehnskommissar für die Waadt, ein Verzeichnis der Lehnsgüter, welche die Grafen von Savoyen ihren Vasallen übertragen hatten ("La Grosse de la Rénovation des fiefs nobles du Pays du Vaud"). Während also in der alemannischen Schweiz die Erblichkeit von Lehen im 14. Jahrhundert bereits weit fortgeschritten war, kannte das Gebiet unter savoyischer Herrschaft ein funktionierendes Lehnswesen mit Lehnsgerichtshof und der Möglichkeit zum Lehnsentzug. Charakteristisch für das Lehnswesen im savoyischen Fürstenstaat sind das ligische Lehnsverhältnis (homagium ligium), das den Vasallen enger an den Herrn band als das einfache Lehnswesen (homagium planum), und, damit zusammenhängend, das Ritual des Lehnskusses. Die Grafschaft Neuenburg schliesslich war ab 1288 von den burgundischen Grafen von Châlon lehnsabhängig.

Quellen und Literatur

  • A. Gasser, Entstehung und Ausbildung der Landeshoheit im Gebiet der Schweiz. Eidgenossenschaft, 1930, 364-384
  • T. Endemann, Vogtei und Herrschaft im alemann.-burgund. Grenzraum, 1967
  • Sablonier, Adel
  • G.P. Marchal, Sempach 1386, 1986, 29-59
  • E. Tremp, «Feudale Gebärden im SpätMA», in Fälschungen im MA 3, 1988, 675-710
  • G. Castelnuovo, L'aristocrazia del Vaud fino alla conquista sabauda, 1990
  • K.-F. Krieger, König, Reich und Reichsreform im SpätMA, 1992, 74-84
  • H.K. Schulze, Grundstrukturen der Verfassung im MA 1, 31995, 54-94
  • B. Andenmatten, La maison de Savoie et la noblesse vaudoise (XIIIe-XIVe s.), 2005
Weblinks

Zitiervorschlag

Franziska Hälg-Steffen: "Lehnswesen", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 25.11.2009. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/009923/2009-11-25/, konsultiert am 28.03.2024.