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Zunftstädte

Als Zunftstädte werden für die Zeit des Mittelalters und des Ancien Régime die Schweizer Städte mit Zunftverfassung bezeichnet (Zünfte), namentlich Zürich, Basel, Schaffhausen und St. Gallen. Definitorisch umschliesst der Begriff Zunftstädte zunftverfasste, handwerklich-industriell geprägte Städte, die staatlich autonom waren (abgesehen von St. Gallen) und eine mächtige, politisch einflussreiche Handwerker- und Kaufmannschaft aufwiesen (Handwerk, Kaufleute). Der Begriff ist insofern irreführend, als auch in patrizischen Städten (Patrizische Orte) Zünfte (auch Gesellschaften genannt) mit politischen Funktionen auftraten und andere Städte trotz Zunftverfassung – reformierte wie Biel, Winterthur, Stein am Rhein und Chur oder katholische wie Rapperswil (SG) und Rheinfelden – nicht oder selten als Zunftstädte bezeichnet werden.

Begriffsgeschichte und Historiografie

Zunftstädte ist kein Quellenbegriff, sondern eine Wortschöpfung von Deutschschweizer Historikern, vermutlich um 1950. In Werken zur Schweizer-, Kantons- und Stadtgeschichte, die vor 1950 verfasst wurden, ist der Begriff nicht zu finden; analog aber wird etwa "Zunftaristokratie" (Wilhelm Oechsli) oder "zünftische Stadtaristokratie" (Richard Feller) verwendet. Der Begriff Zunftstädte erscheint erstmals in verfassungsgeschichtlichen Studien: Alfred Müller und Kurt Bächtold, der auch von "Zunftstaaten" spricht, benutzen ihn zur Typisierung von Städten mit Zunftverfassung, die damit den Patrizierstädten gegenübergestellt werden. In der Westschweiz und im Tessin spielten die Zünfte nur eine wirtschaftliche, aber keine politische Rolle.

Ulrich Im Hof stellte 1977 sein Konzept einer politischen Dreigliederung der alten Eidgenossenschaft in Länder (Länderorte), Zunftstädte und Patriziate auf. Hans Conrad Peyer übernahm das Konzept, durchleuchtete es indes kritisch und arbeitete den Wandel von Verfassungsrecht und Verfasssungswirklichkeit heraus. Obschon die Gliederung inzwischen allgemein üblich war, fand sie keine Aufnahme in die "Geschichte der Schweiz und der Schweizer" (1982-1983). Die typologische Unterscheidung zwischen Zunftstädten und patrizischen Städten vermag denn auch nicht zu befriedigen, zumal das Gliederungskonzept zu sehr auf die souveränen Städte zugeschnitten ist und andere, vor allem die Westschweizer Städte, ausschliesst. Der Begriff Zunftaristokratien trifft die historische Wirklichkeit besser als Zunftstädte. In der deutschsprachigen Stadttypologie ist der Begriff Zunftstädte unbekannt, nicht aber das Phänomen zunftverfasster Reichsstädte.

Verfassungen

Die Einführung der Zunftverfassung in Zürich 1336, Basel 1337, St. Gallen 1354 und Schaffhausen 1411 war ein teils Jahrzehnte währender, mehrheitlich friedlicher Prozess, der nur in Zürich mit einem Umsturz verbunden war (Brun'sche Zunftrevolution). Mit der Zunftverfassung wurden die Zünfte neben den Gesellschaften (Hohe Stube in Basel, Konstaffel in Zürich) zu Wahlgremien. Die Zunftversammlungen in Zürich, Schaffhausen und St. Gallen bzw. der Zunftvorstand in Basel wählten aus ihrer Mitte die Zunftmeister, die zur Hälfte den Kleinen Rat besetzten. In Schaffhausen und St. Gallen wählten die Zünfte auch ihre Delegation in den Grossen Rat; darüber hinaus ergänzten sich Kleiner und Grosser Rat selbst in Kooptation. Bürgermeister und Oberzunftmeister wurden vom Grossen Rat, in St. Gallen durch die Bürgergemeinde gewählt.

Die Schwierigkeit einer typologischen Unterteilung in Zunftstädte und patrizische Orte liegt darin, dass im 14. und 15. Jahrhundert bezüglich Organisation, Wahl und Kompetenz von Bürgergemeinde und Räten zwischen zünftischen und nicht-zünftischen Stadtverfassungen keine wesentlichen Unterschiede bestanden und alle diese Verfassungen während des Ancien Régime ohne einschneidende Änderungen eine Aristokratisierung zuliessen. Auch die Zunftstädte waren also von aristokratisch-patrizischen Elementen geprägt. Beide, Zunftstädte und patrizische Orte, konnten zu den Reichsstädten gehören. Ihre erst im 14. Jahrhundert erwähnten Bürgergemeinden, Gesamtversammlungen der vollberechtigten Bürger, hatten wenig Kompetenzen und kamen jährlich nur ein- bis zweimal zur Eidleistung und alle fünf Jahre zur Bündnisbeschwörung zusammen. Der Rat des 12. und 13. Jahrhunderts erweiterte sich im 14. Jahrhundert zu einem Kleinen Rat, der zwischen 20 und 60 Mitglieder zählte (die sogenannten Häupter), und einem Grossen Rat, der 60 bis 200 Mitglieder umfasste und als eigentlicher Souverän keiner Bürgerversammlung verantwortlich war (Souveränität). Wie in den patrizischen Orten war schliesslich auch in den Zunftstädten der Grosse Rat Repräsentant der Bürgerschaft und verfassungsmässig die oberste Instanz, welcher der Kleine Rat integriert war; der Grosse Rat tagte meist zusammen mit dem Kleinen Rat als geschlossene Körperschaft. Da der Kleine Rat oft täglich zusammentrat und die wichtigsten Funktionen ausübte, wurde er allmählich zur De-facto-Regierung, und weil Kleinräte abkömmlich sein mussten, kamen sie auch in den Zunftstädten aus der Schicht der Begüterten und Reichen. Bereits im 15. Jahrhundert befanden sich darunter Herren ohne Berufstätigkeit.

Im 16. Jahrhundert setzte auch in den Zunftstädten die Aristokratisierung der Räte ein. Diese Entwicklung wurde erstens durch die sukzessive Abschliessung des Bürgerrechts begünstigt, zweitens durch die vermehrte Attraktivität der Ratstätigkeit dank einträglicher Vogtei- und Klosterämter (aus dem in der Reformation säkularisierten Kirchengut), drittens durch die Lebenslänglichkeit der Ratsstellen (Ämterrotation, Wiederwahl) und deren Erblichkeit mithilfe des Ämterkaufs, des sogenannten Praktizierens und viertens durch die Unterwanderung der Handwerkerzünfte durch die reiche Oberschicht der Grosskaufleute, Unternehmer, Offiziere und Rentner (Guts-, Gerichtsherren). Diese Entwicklung setzte in Zürich bereits 1498 ein, als die Kaufleute nicht mehr an die Konstaffel gebunden waren, sondern ihre Zunft frei wählen konnten. Die Ratskarrieren der Oberschicht wurden damit planbar. Grossfamilien verteilten sich über mehrere Zünfte, um aus ihnen mit verschiedenen Familiengliedern in die Räte zu gelangen. Die Verlagerung der Macht auf den Kleinen Rat ging Hand in Hand mit der Etablierung des Einflusses von Ratsfamilien mit aristokratischem Lebensstil bei gleichzeitiger Verdrängung der berufstätigen Handwerker aus dem Kleinen Rat.

Wahlpfennig der Zürcher Zunft zur Schiffleuten, 1713 (Schweizerisches Nationalmuseum, Zürich).
Wahlpfennig der Zürcher Zunft zur Schiffleuten, 1713 (Schweizerisches Nationalmuseum, Zürich). […]
Wahlpfennig der Zürcher Zunft zur Gerwe, 1713 (Schweizerisches Nationalmuseum, Zürich).
Wahlpfennig der Zürcher Zunft zur Gerwe, 1713 (Schweizerisches Nationalmuseum, Zürich). […]
Wahlpfennig der Zürcher Zunft zum Gelben Schaf der Schneider, 1713 (Schweizerisches Nationalmuseum, Zürich).
Wahlpfennig der Zürcher Zunft zum Gelben Schaf der Schneider, 1713 (Schweizerisches Nationalmuseum, Zürich). […]

Die im 17. Jahrhundert verfestigte Vorherrschaft der Kaufleute, Unternehmer und Rentner, die wachsende Macht des Kleinen und schwindende des Grossen Rats blieb nicht unwidersprochen: Zwischen 1680 und 1720 lehnten sich die Handwerker in den Zünften gegen die oligarchischen Tendenzen auf (Oligarchie), 1689 in Schaffhausen, 1691 in Basel, 1713 in Zürich. Sie konnten die Kaufleute zwar nicht aus der Regierung verdrängen, setzten aber in Basel und St. Gallen durch, dass der von den Zünften bestimmte Grosse Rat wieder die oberste Gewalt war. In Zürich und Schaffhausen bewahrte der Kleine Rat seine Vormacht knapp. Schaffhausen (1689) und Basel (1718) führten die Wahl durchs Los ein. Den Ratsfamilien der Zunftstädte war es damit im Unterschied zu jenen der patrizischen Orte nicht gelungen, sich gegen Aufsteiger aus dem Handwerk ganz abzuschliessen; eine Scheidung in sogenannte regimentsfähige und andere Bürger gab es in Zunftstädten nicht. In St. Gallen dagegen, wo bei fehlendem Untertanengebiet keine einträglichen Vogteistellen lockten, zeigte die tonangebende Schicht der Grosskaufleute und Unternehmer wenig Interesse an Ratsstellen. Sie blieben in den Räten gegenüber den Handwerkern in der Minderheit; es bildete sich keine politische Aristokratie heraus.

Mit der Helvetischen Revolution 1798 wurden die Zunftverfassungen aufgehoben. Ab 1803 erfolgte teilweise deren Restauration. So hielt Basel bis 1875 an Elementen der alten Zunftverfassung fest.

Quellen und Literatur

  • Idiotikon 11, 1702-1712
  • W. Oechsli, Gesch. der Schweiz im neunzehnten Jahrhundert 1, 1903
  • H. Nabholz et al., Gesch. der Schweiz 1, 1932
  • A. Müller, «Die Ratsverfassung der Stadt Basel von 1521 bis 1798», in BZGA 53, 1954, 5-98
  • K. Bächtold, «Wandlungen der Zunftverfassung», in SchBeitr. 38, 1961, 46-81
  • Peyer, Verfassung
  • HbSG
  • Gesch. der Schweiz und der Schweizer, 3 Bde., 1982-83 (32004)
  • E. Isenmann, Die dt. Stadt im SpätMA, 1988
  • HRG 4, 1863-1874
  • LexMA 8, 30-31.
Weblinks

Zitiervorschlag

Anne-Marie Dubler: "Zunftstädte", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 25.01.2015. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/009917/2015-01-25/, konsultiert am 19.03.2024.