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Gau

Der neuhochdeutsche Begriff Gau ist eine Schöpfung des 17. Jahrhunderts; die Gauforschung hat ihn vom althochdeutsch gewi/gouwi abgeleitet. Dieses Wort konnte für Gegend, Landschaft oder Nachbarschaft stehen und spielte als Grundwort in zahlreichen frühmittelalterlichen Raumnamen eine wichtige Rolle, wobei ihm mehrheitlich Toponyme vorangestellt waren (z.B. Aaregau). In den lateinischen Quellen wurde der Ausdruck mit pagus übersetzt (französisch und italienisch pagus).

In der Antike sind solche pagi als Untereinteilungen von italischen Stämmen (Civitas) zur Zeit der Republik, von keltischen Stämmen in Gallien und Germanien und solchen in Nordafrika bezeugt. Caesar nennt vier pagi der Helvetier, von denen der recht selbstständige pagus Tigurinus am Kimbern- und Teutonenzug 113-101 v.Chr. teilnahm und nachher im Gebiet um Aventicum bezeugt ist. Augustus beliess den 65 belegten Stämmen bei der Neueinteilung Galliens ihre Struktur. Die Einteilung in pagi wurde beibehalten, ausserdem wurden als weitere unterste Verwaltungseinheiten Kleinstädte (Vicus) gegründet. Offenbar bestanden beide Einteilungen nebeneinander. Als Beamte der pagi sind vereinzelt magistri oder aediles belegt; etwas öfter sind Weihungen wie zum Beispiel an den genius pagi Tigorini inschriftlich überliefert.

Ein Bezug zwischen den ohnehin nur sehr schwach bezeugten antiken pagi und den früh- und hochmittelalterlichen Gauen ist nicht nachgewiesen. Vermutlich wurde die römische Einteilung in civitates und deren innere räumliche Gliederung am mittleren und oberen Rhein vom Burgunder- und Frankenreich übernommen. Der in den einzelnen civitates als militärischer Kommandant amtierende comes wurde zur wichtigsten staatlichen Mittelinstanz und sein Sprengel, die civitas, zur Kernzelle der staatlichen Organisation auf lokaler Ebene. Ab dem 7. Jahrhundert bezog sich der Begriff civitas vorwiegend auf die (Bischofs-)Stadt, während das Umland meist als pagus bezeichnet wurde. Am häufigsten findet man in dieser Zeit den Begriff pagus in Lageangaben von Besitzungen in Urkunden. In der karolingischen Epoche wurde der Begriff des pagus immer mehr durch denjenigen des comitatus (Grafschaft) abgelöst. Die Komitate als geografische Bezirke orientierten sich an den frühmittelalterlichen pagi, ohne dass sie jedoch stets mit diesen zusammenfielen. So konnten auch mehrere Komitate in einem pagus aufgehen und umgekehrt. Vorsteher eines Komitats war der comes. Im Verlaufe des 8. Jahrhunderts breitete sich dieses Struktur- und Herrschaftselement im gesamten Reich aus. Ziel der karolingischen Herrschaft war es, in ihrem Einflussbereich diese Raumeinteilung als die reguläre Verwaltungseinheit einzuführen; in Rätien gelang dies um das Jahr 806. Ab dem 9. Jahrhundert wurde die Gliederung des Reichs in episcopatus, abbatia und comitatus immer geläufiger, während pagus nach 831 fast völlig aus den Kapitularien verschwand.

Nur ungenau fassbar ist der räumliche Umfang der Gaue, da sie sich mehrfach von ihren Kerngebieten aus in die benachbarten Gebiete ausdehnten. Innerhalb von grösseren Gauen konnten ab der Mitte des 8. Jahrhunderts kleinere Einheiten – die man behelfsweise als Untergau oder Kleingau (z.B. Pagellus Uroniae, Uri) bezeichnete – bestehen. Diese differenziertere Landeseinteilung muss als Folge der zunehmenden Besiedlung und des verstärkten Landesausbaus gesehen werden. Das enge Verhältnis zwischen Gaueinteilung und kirchlicher Organisation zeigt sich mitunter im Zusammenfallen der Gaugrenzen mit solchen der kirchlichen Bezirke (Archidiakonate) und in der häufigen Verwendung der Gaueinteilung bei der Erfassung des Kirchenbesitzes (z.B. in Urbaren von Bistümern und Klöstern). Durch die grossen verfassungsgeschichtlichen Veränderungen im 11. Jahrhundert verloren die Gaue weiter an Bedeutung. Mit der Ablösung der Grafschaftsverfassung durch Strukturen der Landesherrschaft im Feudalisierungsprozess verschwanden sie schliesslich als politisch-organisatorische Verwaltungseinheiten. Zahlreiche Gaunamen leben aber als geografische Landschaftsbezeichnungen bis heute fort (Thurgau, Aargau, Elsgau, Buchsgau, Sisgau usw.).

Quellen und Literatur

  • Y. Jeannin, «Le pagus d'Ajoie à l'époque mérovingienne», in Mémoires de la Société d'émulation de Montbéliard 65, 1966, 21-33
  • H.K. Schulze, Die Grafschaftsverfassung der Karolingerzeit in den Gebieten östlich des Rheins, 1973
  • M. Borgolte, Gesch. der Grafschaften Alemanniens in fränk. Zeit, 1984
  • LexMA 4, 1141
  • Reallex. der Germ. Altertumskunde 10, 21998, 468-479
  • M. Tarpin, "Vici" et "pagi" dans l'Occident romain, 2002
Weblinks

Zitiervorschlag

Thomas Schibler: "Gau", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 07.05.2010. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/009842/2010-05-07/, konsultiert am 28.03.2024.