Bundesverfassung (BV)

Das erste moderne Grundgesetz der Schweiz war die Helvetische Verfassung, die sich an der französischen Direktorialverfassung bzw. an denjenigen der anderen Tochterrepubliken (Batavische Republik, Cisalpinische Republik) orientierte. Sie trat 1798 in Kraft; ihr Zentralismus stand im Gegensatz zum althergebrachten Bündnisgeflecht der Kantone und liess weder den Kantonen noch den Gemeinden Raum für eine Selbstverwaltung (Helvetische Republik). 1803 wurde diese Verfassung durch die von Napoleon oktroyierte Mediationsakte ersetzt, welche die zentrale Gewalt wieder weitgehend beschränkte. Der Mediationsakte folgte nach dem Ende der Herrschaft Napoleons der Bundesvertrag von 1815, den die siegreichen Alliierten diktierten. Dieser brachte zwar Fortschritte in der militärischen Organisation, zugleich aber auch eine – verglichen mit der Mediationsakte – Schwächung der zentralen Gewalt. Über die Rechte der Staatsbürger schwieg sich der Vertrag fast gänzlich aus.

Die Bundesverfassung von 1848 war die erste Verfassung der Eidgenossenschaft, die den (männlichen) Schweizer Bürgern in den meisten Kantonen zur Abstimmung unterbreitet wurde. Ihre Annahme machte, weil die Revolutionen in den Nachbarländern scheiterten, die Schweiz für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts zur demokratisch-republikanischen Insel inmitten der Monarchien Europas. Da die Bundesverfassung in einem Bürgerkrieg wurzelte, stand ihr das in diesem unterlegene katholisch-konservative Lager anfänglich ablehnend gegenüber (Sonderbund). Erst die Verfassungsrevision von 1874, die mit dem fakultativen Referendum den Übergang von einer repräsentativen zu einer halbdirekten Demokratie einleitete, ermöglichte die Aussöhnung der Katholisch-Konservativen mit dem liberalen Bundesstaat. Die 1891 erfolgte Einführung der Initiative auf Partialrevision der Verfassung erweiterte die direktdemokratischen Rechte (Stimm- und Wahlrecht, Politische Rechte).

Die Vollmachtenbeschlüsse von 1914 und 1939 anlässlich der beiden Weltkriege schoben die Bundesverfassung beiseite (Vollmachtenregime). Sie ermöglichten einen Exekutivstaat, den das Kollegialprinzip des siebenköpfigen Bundesrats abmilderte. Zwei Volksinitiativen von 1946 für die Rückkehr zur direkten Demokratie beseitigten das auch in der staatsrechtlichen Diskussion gelegentlich als verfassungswidrig charakterisierte Vollmachtenregime erst 1952.

Ab den 1960er Jahren wurde in der politischen Diskussion, in der die Mirage-Affäre ein zentrales Thema darstellte, eine erneute Totalrevision gefordert. In einem über 30 Jahre dauernden Prozess setzte sich die Erkenntnis durch, dass die Bundesverfassung von 1874 infolge einer veralteten Sprache, zum Teil überholter Inhalte und einer grossen Inhomogenität ihre Orientierungs- und Integrationsfunktion nicht mehr erfüllte. 1999 nahmen Volk und Stände schliesslich das heute gültige Grundgesetz an.

Ja-Stimmenanteile bei den wichtigsten Verfassungsabstimmungen nach Kantonen

Kanton1848187218741999
Aargau70%62%65%49%
Appenzell Ausserrhoden78%a37%83%45%
Appenzell Innerrhoden7%a7%14%34%
Basel-Landschaft90%84%87%66%
Basel-Stadt88%81%86%76%
Bern77%69%78%62%
FreiburgJab22%21%73%
Genf82%37%77%86%
Glarus100%a74%76%30%
GraubündenJac43%53%52%
Jura---76%
Luzern59%d35%38%57%
Neuenburg95%47%93%70%
Nidwalden17%a13%19%41%
Obwalden3%a7%17%47%
St. Gallen68%50%57%48%
Schaffhausen79%94%97%42%
Schwyz25%15%18%34%
Solothurn62%62%65%53%
Tessin27%46%33%72%
Thurgau87%84%83%40%
Uri14%a4%8%40%
Waadt82%6%60%76%
Wallis40%13%16%50%e
Zug33%29%40%54%
Zürich91%81%95%62%

a geschätzter Stimmenanteil an der Landsgemeinde

b Grossratsbeschluss

c 54 zu 12 Commitialstimmen

d Nichtstimmende wurden den Ja-Stimmen zugerechnet

e 18 905 Ja- zu 19 073 Nein-Stimmen

Ja-Stimmenanteile bei den wichtigsten Verfassungsabstimmungen nach Kantonen -  Bundesblatt; Historische Statistik der Schweiz

Die Bundesverfassung von 1848

Vorgeschichte

Nach 1830 gewannen liberale Bewegungen (Liberalismus), welche die Verfassungsidee aus der Zeit der Helvetik wieder aufgriffen, in vielen Kantonen die Oberhand (Regeneration). In weniger als einem Jahr gaben sich elf Stände neue Kantonsverfassungen, die das Prinzip der Volkssouveränität und einzelne Grundrechte verankerten (Souveränität).

Die Liberalen drängten zudem auf eine Revision des Bundesvertrags. Der Kanton Thurgau brachte 1831 den offiziellen Antrag auf der Tagsatzung ein. 1832 beschloss die Mehrheit der Tagsatzung (13½ Stände) die Durchführung einer solchen Revision. Die daraufhin von einer Kommission ausgearbeitete, in einer zweiten Lesung überarbeitete Bundesurkunde wurde heftig von katholischen und reformierten Konservativen, Föderalisten und Radikalen bekämpft. Sie scheiterte 1832/1833 in der Tagsatzung sowie in Abstimmungen in den einzelnen Kantonen, wobei der Verfassungsentwurf in einigen Orten den Stimmbürgern, in anderen nur dem Grossrat zur Stellungnahme unterbreitet wurde (Rossi-Plan).

In den 1840er Jahren, in denen sich die Gewichte innerhalb des liberalen Lagers auf die Radikalen und innerhalb des konservativen auf die Ultramontanen verschoben, gewann der Konflikt infolge dieser erneuten Konfessionalisierung an Schärfe (Radikalismus, Ultramontanismus). 1847 bildeten nach Umschwüngen in Genf und St. Gallen die Revisionsbefürworter die Mehrheit an der Tagsatzung. Ihre Forderungen nach Aufhebung des Sonderbunds, Ausweisung der Jesuiten und Wiederaufnahme der Revision des Bundesvertrags führten zum Sonderbundskrieg, der nach einem knappen Monat Ende November 1847 entschieden war.

Neue Bundesverfassung: Abstimmungen und Entscheide im Sommer 1848
Neue Bundesverfassung: Abstimmungen und Entscheide im Sommer 1848 […]

Die von der Tagsatzung für die Revision des Bundesvertrags eingesetzte Kommission bestand mehrheitlich aus pragmatisch denkenden und kompromissfreundlichen Regierungsmitgliedern einzelner Stände, die nur wenig Wert auf die theoretische Konsistenz ihrer Konzepte legten. Nur fünf Tage nachdem die Kommission im Februar 1848 erstmals zusammengetreten war, brach in Paris die Revolution aus; rasch griff diese auf die autoritären Monarchien über, die noch im Januar 1848 der Tagsatzung Interventionen im Falle einer Veränderung des Bundesvertrags angedroht hatten. Es bedurfte dieser Krise, um die kantonalen Verfassungswerke der Regeneration sozusagen mit der neuen Bundesverfassung zu krönen; nach den inneren waren jetzt auch die äusseren antiliberalen Kräfte entscheidend geschwächt. Die Kommission nutzte diese Chance: Sie schuf in wenigen Wochen die Bundesverfassung. Im Juni akzeptierte die Tagsatzung das neue Grundgesetz; im Juli und August folgten die Abstimmungen in den Kantonen, von denen 15½ zustimmten, während 6½ (Uri, Schwyz, Ob- und Nidwalden, Zug, Wallis, Tessin und Appenzell Innerrhoden) den Verfassungsentwurf ablehnten. In Luzern erfolgte die Annahme nur, weil man die Nichtstimmenden zu den Ja-Stimmen zählte, in Freiburg hatte der Grosse Rat allein entschieden.

Am 12. September 1848 erklärte die Tagsatzung, dass die Bundesverfassung «damit angenommen [sei] und als Grundgesetz der Eidgenossenschaft» gelte. Der alte Bundesvertrag blieb noch während einiger Wochen neben der neuen Verfassung in Kraft. Nach Artikel 7 der Übergangsbestimmungen wurde er hinfällig, nachdem die Bundesversammlung und der Bundesrat konstituiert waren. Im Oktober 1848 bestellten die Kantone National- und Ständerat durch Volkswahl bzw. durch Ernennung seitens der Kantonsparlamente. Die Abgeordneten beider Räte versammelten sich am 6. November 1848 in Bern und wählten als Vereinigte Bundesversammlung am 16. November die sieben ersten Bundesräte. Der Bundesvertrag von 1815 trat somit ausser Kraft.

Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft. Gouache auf Papier, kalligrafiert, vom Solothurner Künstler Laurenz Lüthi 1850 dem Nationalrat geschenkt, 94 x 72 cm (Schweizerisches Nationalmuseum, Zürich, LM-78495.1-2)
Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft. Gouache auf Papier, kalligrafiert, vom Solothurner Künstler Laurenz Lüthi 1850 dem Nationalrat geschenkt, 94 x 72 cm (Schweizerisches Nationalmuseum, Zürich, LM-78495.1-2) […]

Bund und Kantone

Die neue Bundesverfassung verband, durch den Fortbestand der eidgenössischen Orte als Kantone, das nationale mit dem föderalistischen Prinzip (Föderalismus); Bund und Gliedstaaten erfüllen ihre Aufgaben in einem dualistischen Zusammenwirken. Gemäss Artikel 3 benötigte der Bund für seine Kompetenzen eine Grundlage in der Bundesverfassung. Die Kantone wurden – dieses Prinzip blieb auch in den Verfassungen von 1874 und 1999 bestimmend – soweit subsidiär generalkompetent, als die Bundesverfassung den Bund nicht für zuständig erklärt. Dem Bund oblag die Garantie der kantonalen Verfassungen, die an drei Bedingungen geknüpft war: Sie mussten bundesrechtskonform sein (Bundesrecht), eine gewisse demokratische Beteiligung ermöglichen und revidiert werden können, sofern die Mehrheit der Stimmenden dies verlangte. Insgesamt waren die Befugnisse des Bundes bescheiden: Sie umfassten neben der Aussenpolitik (Krieg und Frieden, Staatsverträge, Verkehr mit anderen Staaten) nur das Münzregal (Münzen), die Festlegung der Masse und Gewichte sowie die Errichtung öffentlicher Werke. Die Kantone behielten die Kompetenzen über das Zivilrecht, das Strafrecht, das Prozessrecht und die Polizei. Sie blieben auch verantwortlich für das Schulwesen, den Verkehr, den grössten Teil des Militärwesens (Armee) und die Gesetzgebung über die wichtigsten Wirtschaftszweige wie Handel und Banken.

Bundesbehörden

Die in der Bundesverfassung von 1848 verankerte staatsrechtliche Organisation hatte zu Beginn des 21. Jahrhunderts noch Bestand. Allerdings verschob die wirtschaftliche, politische und soziale Entwicklung die Gewichte von den Kantonen immer mehr zum Bund und zeigte die Grenzen der Belastungsfähigkeit von dessen Institutionen auf.

Das Parlament wurde als Folge eines Kompromisses zwischen Zentralisten und Föderalisten nach amerikanischem Vorbild als Zweikammersystem ausgestaltet: Im nach dem Majorzverfahren (Wahlsysteme) bestellten Nationalrat sind die Kantone entsprechend ihrer Bevölkerungszahl vertreten. Der Ständerat besteht aus je zwei Ständeräten pro Kanton bzw. einem pro Halbkanton. Die beiden Kammern sind völlig gleichberechtigt und tagen für die üblichen Geschäfte wie Budget, Krediterteilung und Gesetzgebung in getrennter Verhandlung. Die Vereinigte Bundesversammlung, d.h. die zusammen verhandelnden National- und Ständeräte, wählt die Bundesräte, die Bundesrichter sowie im Kriegsfall den General. Als richterliche Instanz entscheidet sie Kompetenzstreitigkeiten. Die Bundesverfassung realisierte demnach die Gewaltenteilung nur unvollständig, da die Bundesversammlung als «Versammlungsregierung» konzipiert war.

Für die Exekutive folgten die Verfassungsschöpfer, welche die durch das Fehlen einer eigentlichen Regierung bedingte Schwäche des Vorortssystems während des Züriputsches (1839) noch vor Augen hatten, dem Beispiel der Regenerationsverfassungen. Sie kombinierten das Kollegialsystem mit einem Departementalsystem: Die sieben Bundesräte stehen einzelnen Departementen der Bundesverwaltung vor und bilden als Körperschaft gemeinsam Regierung und Staatsoberhaupt. Der Bundespräsident ist nur Primus inter Pares. Der Bundesrat kann während seiner anfangs dreijährigen, später vierjährigen Amtsdauer nicht zum Rücktritt gezwungen werden.

Das Bundesgericht nahm in der Bundesverfassung von 1848 eine schwache Stellung ein. Es war kein ständiges Gericht mit vollamtlichen Richtern. Nur von Fall zu Fall wurde es in Streitsachen einberufen, welche die Bundesgesetzgebung speziell ihm zuwies (z.B. Enteignungen, Heimatlosigkeit, Bau der Eisenbahnen, Scheidung gemischter Ehen usw.). Die ordentliche Rechtspflege besorgten die Kantone. Die Staatsrechtspflege nahm der Bundesrat wahr, dessen Entscheide mit Rekurs an die Bundesversammlung weitergezogen werden konnten. Einen einzigen staatsrechtlichen Fall überwies die Bundesversammlung dem Bundesgericht (Dupré 1852, Staatsrechtliche Beschwerde).

Demokratische und liberale Errungenschaften

Den zeitgenössischen demokratischen Ansprüchen suchten die Verfassungsschöpfer von 1848 mit dem Repräsentationsprinzip gerecht zu werden. Die Stimmberechtigten hatten das Recht, den Nationalrat zu wählen. Ausserdem konnten sie sich – dies waren die einzigen direktdemokratischen Elemente der neuen Bundesverfassung – infolge des obligatorischen Referendums zu Partial- oder Totalrevisionen äussern (Artikel 113 und 114) und mittels 50'000 Unterschriften die Totalrevision der Bundesverfassung verlangen (Artikel 113). Auch wirtschaftsliberales Gedankengut fand Eingang in die Bundesverfassung. Etliche Bestimmungen suchten den Handel sowie den Personenverkehr zwischen den Kantonen zu erleichtern (Artikel 29-32), wenn auch die Gewährleistung der Handels- und Gewerbefreiheit von der Tagsatzungskommission nicht einmal diskutiert worden war. Die Zölle im Innern der Eidgenossenschaft wurden abgeschafft (Binnenmarkt) und für christliche Schweizer Bürger, nicht aber für jüdische, die Niederlassungsfreiheit eingeführt (Artikel 41 und 42). Die in der Verfassung verankerte Kultusfreiheit hob nur die Diskriminierung von Reformierten in katholischen Kantonen bzw. von Katholiken in reformierten Kantonen auf; Israeliten oder Gläubige anderer Religionen konnten dieses Recht nicht für sich beanspruchen. Artikel 54 enthielt ein Verbot der Todesstrafe für politische Verbrechen.

Die Teilrevision 1866

1862 wollte der Bund einen Handels- und Niederlassungsvertrag mit den Niederlanden abschliessen. Der Vertrag hätte allen niederländischen Staatsangehörigen, also auch den Israeliten, Rechtsgleichheit und Freizügigkeit eingeräumt; niederländische Israeliten wären somit besser gestellt gewesen als solche aus der Schweiz. Wegen dieser Ungleichbehandlung lehnte das niederländische Parlament die Ratifikation des Vertrags aber ab. Die Bundesbehörden schlugen zur Beseitigung dieser Diskriminierung und zur Behebung weiterer Mängel eine Revision der Bundesverfassung vor. 1866 unterbreitete das Parlament Volk und Ständen neun Vorlagen, welche die Juden den übrigen Schweizer Bürgern gleichstellen, neue Individualrechte (Gewissensfreiheit und kommunales Stimmrecht für niedergelassene Schweizer) begründen sowie weitere Bundeskompetenzen schaffen sollten. In der Volksabstimmung wurde lediglich die Anpassung der Niederlassungsfreiheit und der Rechtsgleichheit (Artikel 41 und 48, zusammengefasst im sogenannten zweiten Revisionspunkt) angenommen; die übrigen acht Teilrevisionspostulate scheiterten.

Dieser Misserfolg war auch auf das naturrechtlich-statische Verfassungsverständnis zurückzuführen, das aus der Regenerationszeit stammte (Naturrecht). Gemäss diesem legte die Verfassung die höchsten Werte fest, die das Leben der politischen Gemeinschaft bestimmten. Diese Werte resultierten aus der politischen Philosophie, und die Verfassung übertrug sie in die Rechtsordnung. Die Verfassung galt als ein auf Dauer ausgerichtetes, in sich geschlossenes Werk, das möglichst unantastbar sein sollte. Demzufolge war sie nicht nur gegenüber der gewöhnlichen Rechtsetzung erschwert abänderbar, sie sollte auch gar nicht geändert werden.

Die Bundesverfassung von 1874

Der gescheiterte Versuch von 1872

Flugblatt der Föderalisten gegen die Verfassungsrevision von 1872 (Schweizerische Nationalbibliothek, Bern).
Flugblatt der Föderalisten gegen die Verfassungsrevision von 1872 (Schweizerische Nationalbibliothek, Bern).

In den 1860er Jahren erstarkte die demokratische Bewegung, die in Opposition zur liberalen Elite, den sogenannten Bundesbaronen, einen weiteren Ausbau der direktdemokratischen Institutionen verlangte. Nachdem sie die Erneuerung vieler kantonaler Verfassungen durchgesetzt hatte, strebte sie auch eine Revision der Bundesverfassung an. Der Entwurf, den die Revisionskommission der beiden Räte ausarbeitete, enthielt viele Neuerungen. Die 1869 in einem Postulat geforderte Einführung der Zivilehe brachte ein kulturkämpferisches Moment ins Spiel (Ehe), das an Schärfe noch gewann, als das Erste Vatikanische Konzil mit dem Dogma der päpstlichen Unfehlbarkeit 1870 den Kulturkampf in der Schweiz neu entfachte. Liberalem Gedankengut entsprangen die Vorschläge für einen Schulartikel und die Festschreibung der Handels- und Gewerbefreiheit. Der Schweizerische Juristenverein forderte eine Rechtsvereinheitlichung und die Reorganisation des Bundesgerichts. Die während der Grenzbesetzung im Deutsch-Französischen Krieg unübersehbar gewordenen Mängel der Landesverteidigung legten eine Verschiebung der Kompetenzen auf den Bund nahe. Die demokratische Bewegung forderte neben einer eidgenössischen Fabrikgesetzgebung das Initiativrecht für Bundesgesetze und Bundesbeschlüsse sowie die entsprechenden Referendumsrechte.

Totalrevision der Bundesverfassung: Abstimmung vom 12. Mai 1872
Totalrevision der Bundesverfassung: Abstimmung vom 12. Mai 1872 […]

Der Verfassungsentwurf vereinte insgesamt zu viele Postulate. Seine Gegner rekrutierten sich aus dem katholisch-konservativen Lager und den welschen Föderalisten. In der Abstimmung vom 12. Mai 1872 wurde die totalrevidierte Bundesverfassung mit 260'859 zu 255'609 Volksstimmen und dreizehn zu neun Standesstimmen verworfen.

Die neue Verfassung von 1874

Das knappe Ergebnis bewog die Befürworter der Revision zu einem zweiten Anlauf. Es gelang ihnen, die Gegnerschaft auf die Katholisch-Konservativen zu beschränken, indem sie im neuen Entwurf einerseits die Bundeskompetenzen in den Gebieten Armee, Recht und Schule sowie die demokratischen Rechte gegenüber der Vorlage von 1872 abbauten und andererseits die kulturkämpferischen Bestimmungen verschärften. Die reformierten Kantone Appenzell Ausserrhoden, Graubünden, Waadt, Neuenburg und Genf wechselten das Lager. In der Volksabstimmung vom 19. April 1874 wurde die Vorlage mit 340'199 zu 198'013 Volks- und 13½ zu 8½ Standesstimmen angenommen.

Totalrevision der Bundesverfassung: Abstimmung vom 19. April 1874
Totalrevision der Bundesverfassung: Abstimmung vom 19. April 1874 […]

Die neue Bundesverfassung brachte eine Konsolidierung des Bundesstaats. Die erweiterte Gesetzgebungskompetenz des Bundes im Handelsrecht ermöglichte ein einheitliches eidgenössisches Recht, dessen Anwendung das jetzt ständige Bundesgericht sichern sollte. Die Bundesverfassung gewährte allen Glaubensgemeinschaften die Kultusfreiheit und nicht nur den beiden grossen christlichen Konfessionen. Die Niederlassungsfreiheit wurde erweitert und Gemeinden sowie Kantonen vorgeschrieben, auch den männlichen Niedergelassenen aus anderen Orten oder Kantonen nach einer kurzen Übergangsfrist die Ausübung der politischen Rechte zu ermöglichen. Die Glaubens- und Gewissensfreiheit, die Handels- und Gewerbefreiheit und das Recht auf Ehe wurden erstmals garantiert. Schliesslich schaffte die Bundesverfassung Körperstrafen, die Schuldhaft und die Todesstrafe ab. Nach einem Dreifachmord in Basel 1876 kam aber schon 1879 eine Verfassungsvorlage durch, welche die Wiedereinführung der Todesstrafe durch die Kantone ermöglichte; deren Anwendung blieb bei politischen Verbrechen verboten. Die Verfassung erklärte Zivilstandsangelegenheiten zur reinen Staatssache und untersagte die Gründung neuer Orden und Klöster. Schweizer Bürger geistlichen Standes wurden von der Wahl in den Nationalrat ausgeschlossen. Das Jesuitenverbot von 1848 wurde verschärft und die Schaffung neuer Bistümer von der Genehmigung des Bundes abhängig gemacht (Ausnahmeartikel). Diese Bestimmungen, die eine Mehrheit der Katholiken als diskriminierend erachtete, spielten für das Selbstverständnis des politischen Katholizismus bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts eine identitätsstiftende Rolle.

Obwohl das liberale System durch die Verankerung neuer Freiheitsrechte und die weiter vorangetriebene Säkularisierung seinen Höhepunkt erreichte, war in der Bundesverfassung von 1874 zugleich auch der Übergang von einer repräsentativen zu einer halbdirekten Demokratie und damit auch das Ende der liberalen Alleinherrschaft angelegt. Da die Kantone eine Reihe von Kompetenzen verloren hatten, wurden Bundesgesetze und allgemeinverbindliche Bundesbeschlüsse als Kompensation dem fakultativen Referendum unterstellt; 30'000 Unterschriften mussten gesammelt werden, um eine Abstimmung über einen solchen Parlamentsentscheid zu verlangen. Diese Neuerung machte zunächst den Einbezug der Katholisch-Konservativen in die Regierung nötig. Diese konnten mit dem Referendum Parlamentsvorlagen blockieren, so zum Beispiel 1884 beim «vierhöckrigen Kamel», als vier Vorlagen gleichzeitig scheiterten. Infolgedessen wählte die Bundesversammlung 1890 den Luzerner Josef Zemp als ersten katholisch-konservativen Bundesrat. Später mussten auch andere referendumsfähige Kräfte wie die Bürger-, Gewerbe- und Bauernpartei (BGB) sowie die Sozialdemokratische Partei (SP) an der Regierung beteiligt werden (Konkordanzdemokratie).

Gedenkblätter zur Abstimmung über die Revision der Bundesverfassung von 1874. Links: Lithografie von Josephine Schütz-Witt, gedruckt in Zürich bei Hindermann & Siebenmann, 1874, 76,5 x 58 cm. Rechts: Lithografie von E. Conrad gedruckt in Zürich bei A. Frey, 1874, 51 x 41,5 cm (Zentralbibliothek Zürich, Graphische Sammlung, Geschichte 1874 Schweiz III, 1).
Gedenkblätter zur Abstimmung über die Revision der Bundesverfassung von 1874. Links: Lithografie von Josephine Schütz-Witt, gedruckt in Zürich bei Hindermann & Siebenmann, 1874, 76,5 x 58 cm. Rechts: Lithografie von E. Conrad gedruckt in Zürich bei A. Frey, 1874, 51 x 41,5 cm (Zentralbibliothek Zürich, Graphische Sammlung, Geschichte 1874 Schweiz III, 1). […]

Erweiterungen bis 1998

Die totalrevidierte Verfassung von 1874 übernahm zwar viele Artikel der alten Verfassung wörtlich, aber sie verlor ihren statischen Charakter. Politiker und Rechtswissenschaftler verstanden die Verfassung nicht mehr als Heiligtum unveränderlicher Normen, sondern als Grundlage der demokratischen Auseinandersetzung; sie galt fortan als Fechtboden, auf welchem die politischen Kämpfe ausgetragen werden. Die Einführung der Volksinitiative für Teilrevisionen 1891 verstärkte diesen Effekt. 1875-1998 waren mehr als 162 Teilrevisionen der Bundesverfassung zu verzeichnen (einschliesslich der befristeten 12 Verfassungsgesetze); allerdings handelte es sich dabei fast immer um Behördenvorlagen und nicht um Volksinitiativen. Die Verfassung war auch gegenüber fragwürdigen Werten offen; die erste erfolgreiche Volksinitiative, das 1893 angenommene Schächtverbot, setzte beispielsweise ein antisemitisches Anliegen um.

Die Einfügungen in den bestehenden Verfassungstext wurden mit lateinischen Zahlen (bis, ter, quater usw.) gekennzeichnet. Da sie in Bezug auf Entstehungszeit, Ausführlichkeit und sprachlicher Formulierung grosse Unterschiede aufwiesen, wurde die Bundesverfassung zusehends heterogener und unübersichtlicher. Die Änderungen tangierten die bundesstaatliche Kompetenzverteilung, die politischen Rechte, die Organisation der Bundesbehörden, die Grundrechte sowie den Bestand und die Zahl der Kantone.

Die Bundesverfassung von 1874 war wie ihre Vorgängerin als Gesamtkodifikation konzipiert. Die Verfassungsurkunde sammelte alle Verfassungsnormen in einem systematisch gegliederten Gesetz. Ausserhalb der Urkunde bestand kein Recht, welches das Verfahren der Verfassungsgesetzgebung nicht durchlaufen hatte. Der Verfassungsgeber wich in den Jahren 1915 bis 1970 von dieser Idee ab. Er erliess ein Dutzend Verfassungsgesetze, d.h., er statuierte Normen im Verfahren der Verfassungsgebung, aber inkorporierte sie nicht in die Bundesverfassung. Es handelte sich stets um befristete Normen mit einem vorübergehenden Charakter. Nach 1970 brachte der Verfassungsgeber solche vorübergehende Normen in den Übergangsbestimmungen der Artikel 8 bis 18 BV 1874 unter. Diese Praxis setzte sich bis in die Gegenwart fort. Damit ist immerhin der Charakter der Verfassung als einer Gesamtkodifikation wieder gewahrt.

Die Bundesversammlung verfügte fortan bei der Gesetzgebung über die nicht anfechtbare Kompetenz, die Verfassungskonformität der Gesetze abschliessend zu bestimmen (Artikel 113 Absatz 3 BV 1874), was ihr in der Beurteilung der Frage, ob eine einzelne Vorlage den verfassungsrechtlichen Vorgaben entspreche, grosse Spielräume gewährte; ihre Verfassungsauslegung folgte regelmässig rein politischen Mustern und nicht unbedingt rechtlichen Argumentationen. Den rechtsanwendenden und rechtssprechenden Behörden wurde zwar die Überprüfung nicht verwehrt, gleichwohl hatten sie auch verfassungswidrige Bestimmungen anzuwenden.

Bundesstaatliche Kompetenzverteilung

Die Mehrzahl der Teilrevisionen betraf die Aufgabenteilung zwischen Eidgenossenschaft und Kantonen. Dabei verschob sich das Gewicht auf den Bund. Diesem wurden Kompetenzen im Bereich der Rechtsvereinheitlichung (Zivil- und Strafrecht), des Bürgerrechts, des Sozialversicherungswesens und zum Schutz schwächerer Vertragsparteien wie zum Beispiel Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, Mieterinnen und Mieter (Miete) sowie Konsumentinnen und Konsumenten zugewiesen. Ausserdem wurden in Bezug auf Raumplanung und Umweltschutz (Umwelt), Verkehrswesen, Wirtschaftspolitik und staatliche Abgaben bestehende Zuständigkeiten erweitert bzw. neue begründet. Viele dieser Kompetenzerweiterungen zogen die Schaffung von entsprechenden Behörden, zum Beispiel neuen Bundesämtern, nach sich und führten so zum Ausbau der Bundesverwaltung.

Neue oder erweiterte Bundeskompetenzen (Auswahl) 1890-1993

JahrVerfassungsartikelAufgabe
189034bisKranken- und Unfallversicherung
189139Banknotenausgabe
189724Forstwesen (Erweiterung)
189864, 64bisVereinheitlichung des materiellen Zivil- und Strafrechts
190824bisWasserkraft
190834terAllgemeiner Schutz der Arbeitnehmer
191741bisStempelabgaben
191924terSchifffahrt
192137bisAutomobilverkehr
192534quaterAlters- und Invalidenversicherung
192844Regelung des Bürgerrechts
194534quinquiesMutterschaftsversicherung
194731, 31bis-quinquies, 32Wirtschaftsartikel
194734terArbeitslosenversicherung
194734terAllgemeiner Schutz der Arbeitnehmer
195324bis und quaterWasserkraft
195841bisVerrechnungssteuer
195841terWarenumsatzsteuer, direkte Bundessteuer
196922quaterRaumplanung
197124septiesUmweltschutz
197234quaterAlters- und Invalidenversicherung
197234septiesMieterschutz
197524bis und quaterWasserkraft
197634noviesArbeitslosenversicherung
197831quinquiesKonjunkturpolitik
1981 und 198231sexies und septiesKonsumentenschutz
198634septiesMieterschutz
199335Aufhebung des Verbots der Spielbanken
199341terUmwandlung der Warenumsatzsteuer in die Mehrwertsteuer
Neue oder erweiterte Bundeskompetenzen (Auswahl) 1890-1993 -  Autor

Politische Rechte

Das 1874 eingeführte fakultative Gesetzesreferendum erwies sich als Waffe der parlamentarischen Minderheiten: Von 1874 bis 1891 brachte die vom Freisinn dominierte Mehrheit nur sechs Vorlagen durch, während 13 Vorlagen an Referenden scheiterten, die konservative und föderalistische Gruppen ergriffen hatten. Um dem Stimmvolk die Möglichkeit zu geben, nicht nur verhindernd, sondern auch gestaltend in das politische Geschehen einzugreifen, wurde 1891 die Volksinitiative auf Teilrevision der Bundesverfassung eingeführt (Artikel 121 und 122); 50'000 Unterschriften waren nötig, um eine Abstimmung über eine Verfassungsänderung zu erzwingen. Die meisten Initiativen wurden als ausformulierte Verfassungstexte eingereicht; die offizielle Mitwirkung der Bundesversammlung beschränkte sich in diesen Fällen auf eine Empfehlung für die Volksabstimmung. Die Form der allgemeinen Anregung, die der Bundesversammlung einen viel grösseren Einfluss auf den Inhalt der Initiative erlaubt, wurde von den Initianten fast nie benützt.

Die Initiative wurde im 20. Jahrhundert zum Instrument der ausserparlamentarischen Kräfte sowie der linken und rechten Gruppierungen, die im Parlament für ihre Anliegen keine Mehrheiten fanden. Die weitaus meisten Initiativen scheiterten. Da sie aber Gegenvorschläge und politische Diskussionen provozierten, leiteten sie häufig eine – in der Regel erheblich verzögerte – Gesetzgebung durch das Parlament ein.

1918 wurde nach zwei erfolglosen Anläufen in den Jahren 1900 und 1910 durch eine Initiative die Wahl des Nationalrats nach dem Grundsatz der Proportionalität eingeführt (Artikel 73), die auch das Oltener Aktionskomitee im Landesstreik gefordert hatte. Diese Änderung kostete die Freisinnigen 1919 die absolute Mehrheit im Nationalrat, während die Sozialdemokraten gleich viele Sitze wie die Katholisch-Konservativen gewannen. Auch die neu entstandene Bauern- und Bürgerpartei zog ins Parlament ein und festigte die bürgerliche Vorherrschaft.

Als Folge des umstrittenen Gotthardvertrags mit Italien und Deutschland (1909) wurde 1921 das Staatsvertragsreferendum als weiteres direktdemokratisches Element in der Verfassung verankert. Die Umschreibung der referendumspflichtigen Verträge war wenig glücklich; so war der Beitritt zur Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) 1974 zum Beispiel nicht referendumspflichtig. Wegen dieser Mängel, aber auch wegen der zunehmenden Bedeutung der internationalen Vertragswerke in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts (Internationale Organisationen, IO), wurde 1977 genauer definiert, welche Verträge dem Referendum unterstehen (Artikel 89 Absatz 3-5). Andere Initiativen, die einen weiteren Ausbau der direktdemokratischen Elemente forderten, lehnte das Volk dagegen ab. So verwarf es zum Beispiel 1987 eine Volksinitiative für die Einführung eines Rüstungsreferendums.

1966 erhielt der Bundesgesetzgeber die Befugnis, das Stimmrecht der Auslandschweizer zu regeln (Artikel 45bis Absatz 2). Das allgemeine Erwachsenenstimmrecht fand erst 1971 eine Mehrheit (Artikel 74), nachdem noch 1959 eine entsprechende Vorlage abgelehnt worden war (Frauenstimmrecht). Nach einem erfolglosen Versuch 1979 wurde 1991 das Stimm- und Wahlrechtsalter von 20 auf 18 gesenkt (Artikel 74, Mündigkeit).

1977 stimmten Volk und Stände den vom Parlament vorgeschlagenen Erhöhungen der Unterschriftenzahlen für das fakultative Referendum auf 50'000 und für die Initiative auf 100'000 zu. Das Volk billigte in der Referendumsabstimmung über das Bundesgesetz über die politischen Rechte die Befristung der Unterschriftensammlung für Volksbegehren auf 18 Monate. 1987 behob man einen grundlegenden Mangel des Abstimmungsverfahrens, indem der Bund bei einer Abstimmung über eine Volksinitiative und einen Gegenentwurf der Bundesversammlung neu das doppelte Ja (Artikel 121bis) ermöglichte. Seitdem ist es der Bundesversammlung verwehrt, die reformfreudigen Kräfte durch die Lancierung eines Gegenvorschlags in zwei Lager aufzuspalten.

Die Bundesverfassung von 1874 enthielt die sogenannte Dringlichkeitsklausel, mit der referendumspflichtige Bundesgesetze und Bundesbeschlüsse dem Referendum entzogen werden konnten. Die ausserordentlich häufige Anwendung dieser Klausel in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts beseitigte das Gesetzesreferendum auf kaltem Wege. Eine 1939 angenommene Volksinitiative gegen das Dringlichkeitsrecht schuf diesem Missstand nur ungenügend Abhilfe. Neu formuliert wurde das Dringlichkeitsrecht (Artikel 89bis) erst durch die 1949 angenommene Initiative «Rückkehr zur direkten Demokratie». Diese unterstellte auch dringlich erklärte Bundesgesetze dem Referendum, verlegte dieses aber in die Zeit nach dem Inkrafttreten der Vorlage.

Organisation der Bundesbehörden

Die Bestimmungen über die Bundesbehörden wurden während 125 Jahren kaum geändert, obwohl sich das politische Gewicht allmählich von der Bundesversammlung auf den Bundesrat verlagerte. Initiativen, welche die Volkswahl des Bundesrats und eine Vergrösserung desselben auf neun Mitglieder vorsahen, scheiterten 1900 und 1942. Der Verfassungsgeber erhob 1914 mit dem Artikel 114bis das Bundesgericht zum obersten Verwaltungsgericht. Dessen Kompetenzen ergaben sich bis 1968 nach dem System der Enumeration. Erst die Mirage-Affäre bewog die Bundesversammlung, die Kompetenzen nach dem System der Generalklausel zu normieren.

Viele Massnahmen, die der Bundesrat zur Bewältigung der Notlagen während des Ersten Weltkriegs, der Weltwirtschaftskrise in den 1930er Jahren und des Zweiten Weltkriegs ergriff, hatten keine verfassungsmässige Basis. Die Bundesversammlung übertrug dem Bundesrat damals, gestützt auf ungeschriebenes «extrakonstitutionelles Notrecht», ausserordentliche Vollmachten. So wurde in jener Zeit zum Beispiel die Wehrsteuer eingeführt, eine direkte Einkommenssteuer, die 1950 eine verfassungsgesetzliche und erst 1958 eine Grundlage in der Bundesverfassung erhielt.

Grundrechte

Der Teil der Bundesverfassung über die Grundrechte erfuhr nur wenige Änderungen. 1969 fügte man die Eigentumsgarantie als Artikel 22ter ein, nachdem das Bundesgericht diese bereits zehn Jahre zuvor als ungeschriebenes Grundrecht der Bundesverfassung anerkannt hatte. Nach 1950 wuchs die Kritik an den konfessionellen Ausnahmeartikeln; 1973 wurden schliesslich die Bestimmung gegen die Jesuiten sowie das Verbot, neue Klöster zu errichten, aufgehoben. 1974 trat die Eidgenossenschaft der EMRK bei; die in dieser vereinbarten Rechte wurden von da an faktisch wie Rechte der Bundesverfassung behandelt (Menschenrechte). Die Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit fielen 1975 völlig weg (Artikel 45, nochmalige Änderung 1983). 1981 wurde die Gleichberechtigung der Geschlechter im Artikel 4 Absatz 2 verankert (Gleichstellung). 1992 wurde für Militärdienstverweigerer ein ziviler Ersatzdienst eingeführt, nachdem 1977 und 1984 entsprechende Vorlagen noch gescheitert waren. Soziale Grundrechte hatten es besonders schwer. Auf Ablehnung stiessen zum Beispiel das Recht auf Arbeit (1894, 1946, 1947), das Recht auf Wohnung (1970) und das Recht auf Bildung (1973). 1987 entschied sich die Bundesversammlung auch gegen die Unterzeichnung der 1961 verabschiedeten Europäischen Sozialcharta. Um 1960 begann das Bundesgericht, die in der Bundesverfassung formulierten Grundrechte durch sogenannte ungeschriebene Grundrechte zu ergänzen, sofern diese die Voraussetzung für ein geschriebenes Freiheitsrecht darstellten oder als unentbehrlicher Bestandteil der demokratisch-rechtsstaatlichen Ordnung angesehen wurden (Meinungsfreiheit, persönliche Freiheit, Recht auf Leben, Sprachenfreiheit, Versammlungsfreiheit sowie Recht auf Existenzsicherung).

Bestand und Zahl der Kantone

Die Zahl der Kantone und ihre jeweiligen Territorien blieben von der Bundesstaatsgründung bis 1978 unverändert, als Volk und Stände der Gründung des Kantons Jura zustimmten, was eine Anpassung der Artikel 1 und 80 BV nach sich zog. Die späteren Gebietsverschiebungen, der Wechsel des Laufentals von Bern zu Basel-Landschaft 1993 und der Übertritt der Gemeinde Vellerat von Bern zum Jura 1996, unterlagen jeweils dem eidgenössischen Verfassungsreferendum, da Artikel 5 die Kantonsterritorien garantierte.

Der Totalrevisionsversuch von 1935

Nach dem Ersten Weltkrieg forderte der Nationalrat die Totalrevision der Bundesverfassung, doch angesichts der drängenden wirtschaftlichen und sozialen Probleme rückte das Bestreben in den Hintergrund.

1934 reichten die Frontisten zusammen mit gewerblichen Gruppen, Jungkonservativen und der Aufgebotsbewegung um Jacob Lorenz eine Initiative auf eine Totalrevision der Bundesverfassung ein. In den Vorstellungen der Initianten verbanden sich in diffuser Weise faschistische, nationalistische, antikommunistische, antisemitische, antiparlamentarische und antiliberale Anschauungen (Faschismus, Antikommunismus, Antisemitismus, Frontenbewegung). Das kapitalistische Wirtschaftssystem sollte durch ein korporatives ersetzt werden (Kapitalismus, Korporativismus), das Arbeitgeber und Arbeitnehmer wieder vereinte; die Wahl- und Referendumsdemokratie sollte einem autoritären Ständestaat weichen, dessen starke Führer – die frontistischen Theoretiker dachten in diesem Zusammenhang an einen eidgenössischen Landammann – die durch die internationalistische Sozialdemokratie dem Vaterland entfremdete Arbeiterschaft zurückgewinnen würde. Am 8. September 1935 wurde die Initiative mit 511'578 zu 196'135 Stimmen und 19 gegen 3 Standesstimmen deutlich verworfen.

Die Bundesverfassung von 1999

Vorgeschichte

Plakat zur Abstimmung vom 18. April 1999 über die Totalrevision der Bundesverfassung (Plakatsammlung der Schule für Gestaltung Basel, Münchenstein).
Plakat zur Abstimmung vom 18. April 1999 über die Totalrevision der Bundesverfassung (Plakatsammlung der Schule für Gestaltung Basel, Münchenstein).

Die Mirage-Affäre und die politische Publizistik (u.a. die 1965 vom Staatsrechtler Max Imboden veröffentlichte Schrift Helvetisches Malaise) veranlassten 1965 den freisinnigen Ständerat Karl Obrecht und den liberal-demokratischen Nationalrat Peter Dürrenmatt, je eine Motion für eine Totalrevision der als nicht mehr zeitgemäss erachteten Bundesverfassung einzureichen. Nach erfolgter Überweisung durch die Räte setzte der Bundesrat 1967 eine erste Expertenkommission unter alt Bundesrat Friedrich Traugott Wahlen ein. Deren Schlussbericht von 1973 bildete die Grundlage für einen ersten Verfassungsentwurf, den eine zweite, 46-köpfige Expertengruppe unter der Leitung von Bundesrat Kurt Furgler bis 1977 erarbeitete. Nach der weitgehenden Ablehnung dieses Entwurfs in der Vernehmlassung – kritisiert wurden in den fast 900 Stellungnahmen die offene Aufgabenteilung zwischen Bund und Kantonen sowie die Sozial-, Eigentums- und Wirtschaftsordnung – gerieten die Revisionsbestrebungen ins Stocken.

Totalrevision der Bundesverfassung: Abstimmung vom 18. April 1999
Totalrevision der Bundesverfassung: Abstimmung vom 18. April 1999 […]

1985 schlug der Bundesrat dem Parlament vor, die Totalrevision fortzuführen. Erst 1987 beauftragte die Bundesversammlung den Bundesrat, einen weiteren Entwurf zu erstellen. Der Auftrag beinhaltete lediglich die Neuordnung, die sprachliche Vereinheitlichung sowie die Nachführung des geltenden geschriebenen und ungeschriebenen Verfassungsrechts. Durch die Abtrennung der sprachlichen und rechtlichen Aktualisierung von den Reformen der Volksrechte und der Justiz, die inhaltliche Neuerungen zum Ziel hatten, sollte verhindert werden, dass das Projekt wie die Vorlage von 1977 von Anfang an zum Scheitern verurteilt wäre. Die Bundesverwaltung arbeitete einen Verfassungsentwurf aus, der 1995 in die Vernehmlassung ging. 1996 legte der Bundesrat, gestützt auf die Ergebnisse der Vernehmlassung, der Bundesversammlung einen definitiven Entwurf mit Botschaft vor, den die beiden Räte am 18. Dezember 1998 verabschiedeten. Volk und Stände nahmen die totalrevidierte Verfassung am 18. April 1999 mit 969'310 zu 669'158 Volks- und 13 zu 10 Ständestimmen an.

Der Inhalt der Verfassung von 1999

Die neue Bundesverfassung, die am 1. Januar 2000 in Kraft trat, gab im Wesentlichen die bis dahin geltenden verfassungsrechtlichen Bestimmungen in zeitgemässer Formulierung wieder. Das übersichtliche Werk ist in sechs Titel gegliedert: Der 1. Titel umfasst die allgemeinen Bestimmungen. Im 2. Titel werden erstmals die Grundrechte systematisch aufgeführt, zusammen mit einem Katalog der Sozialziele, von denen aber weder Kompetenzen noch unmittelbare Ansprüche auf staatliche Leistungen abgeleitet werden können. Der 3. Titel regelt die Aufgabenteilung zwischen Bund, Kantonen und Gemeinden; dabei wird die partnerschaftliche Zusammenarbeit besonders betont. Der 4. Titel definiert die politischen Rechte der Bürgerinnen und Bürger. Der 5. Titel enthält die Bestimmungen über die Bundesbehörden und der 6. Titel diejenigen über die Revision der Verfassung.

Der Verfassungsgeber verzichtete einerseits auf verfassungsunwürdige und veraltete Bestimmungen aus der Bundesverfassung von 1874. Nicht übernommen in die neue Bundesverfassung wurden zum Beispiel die Regeln über das Brotgetreide (Artikel 23bis), das Absinthverbot (Artikel 32ter), die Kontrolle der Auswanderungsagenturen (Artikel 34), die Unstatthaftigkeit der Brauteinzugsgebühren (Artikel 54) oder das Verbot von Untertanenverhältnissen (Artikel 4). Andererseits wurden einige Normen, die früher auf Gesetzesebene verankert waren, neu in die Verfassung von 1999 integriert, zum Beispiel der Anspruch auf Datenschutz (Artikel 13) oder die Bestimmungen über die Offenlegung der Interessenbindungen (v.a. Verwaltungsratsmandate, Artikel 161) und die Immunität (Artikel 162) der Mitglieder des Parlaments. Ausserdem fanden die vom Bundesgericht anerkannten ungeschriebenen Grundrechte und teilweise die in den Menschenrechtsabkommen kodifizierten Grundrechte Eingang in die Bundesverfassung.

Die sprachliche Neufassung (d.h. die textliche Fixierung von richterlichem Recht, die Aufwertung von Gesetzesrecht in Verfassungsrecht bzw. die Abwertung von Verfassungsrecht in Gesetzesrecht) stellt einen Akt der politischen Wertung dar. Diese Form der Aktualisierung zog Akzentverschiebungen nach sich, deren Konsequenzen zum Zeitpunkt der Verfassungsgebung nicht abzusehen waren. Ein neuer Verfassungstext ermöglicht neue Interpretationen – insofern griff der Ausdruck «Nachführung», der 1985 in die Debatte um die Totalrevision eingeführt worden war, aus der Rückschau zu kurz.

Materielle Neuerungen der Bundesverfassung 1999 (Auswahl)

ArtikelBereich
8 Abs. 2Diskriminierungsverbot
48, 56Abschaffung der generellen Genehmigungspflicht für Staatsverträge der Kantone mit anderen Kantonen oder dem Ausland
53 Abs. 3Abschaffung des obligatorischen Referendums bei Gebietsveränderungen zwischen Kantonen
58Verankerung des Milizprinzips der Armee auf Verfassungsstufea
63Bund erhält neue Kompetenzen im Bereich der Berufsbildung
69Bund erhält Kompetenz zur Förderung der Kultur
70Bund erhält Auftrag zur Unterstützung von mehrsprachigen Kantonen
143Aufhebung des Ausschlusses der Geistlichen vom passiven Wahlrecht für den National- und Bundesrat
151Neuregelung bezüglich der Einberufung von ausserordentlichen Sessionen der Bundesversammlung
155Parlamentsdienste sind neu der Bundesversammlung unterstellt
163Vereinfachtes System der Erlassformen der Bundesversammlung (der allgemeinverbindliche Bundesbeschluss entfällt)
170Bundesversammlung ist dafür verantwortlich, dass die Wirksamkeit der Massnahmen des Bundes evaluiert werden

a Die Formulierung «grundsätzlich nach dem Milizprinzip organisiert» impliziert die Möglichkeit von Ausnahmeregelungen (Durchdiener).

Materielle Neuerungen der Bundesverfassung 1999 (Auswahl) -  Autor

Die Bundesverfassung von 1999 brachte nur wenige explizit ausgewiesene Neuerungen; diese betrafen Themen, bezüglich denen im Parlament breiter Konsens bestand. So fügte das Parlament zum Beispiel einen Artikel zur Kulturförderung in die Verfassung ein, obwohl eine Vorlage mit ähnlicher Zielsetzung 1994 in einer Volksabstimmung am Ständemehr gescheitert war. Die meisten Neuerungen wurden von der Konferenz der Kantonsregierungen oder den staatspolitischen Kommissionen der beiden eidgenössischen Räte angeregt; sie berührten mehrheitlich das Verhältnis von Bund und Kantonen sowie das Parlamentsrecht.

Die begleitenden Reformen

Der Beschluss von 1987, der die Nachführung der Bundesverfassung von den übrigen Reformvorhaben trennte, trug entscheidend dazu bei, dass nach einem mehr als 30 Jahre dauernden Prozess die neue Verfassung die Zustimmung von Volk und Ständen fand. Der Bundesrat beantragte zudem, die von der Totalrevision abgetrennten Reformbereiche Volksrechte und Justiz weiterzuverfolgen.

Die Vorschläge des Bundesrats, die einen Ausbau der Volksrechte (fakultatives Verwaltungs- und Finanzreferendum) sowie eine Erhöhung der Unterschriftenzahl bei der Verfassungsinitiative und dem Gesetzesreferendum vorsahen, waren im Parlament nicht konsensfähig. Eine parlamentarische Initiative aus dem Ständerat übernahm 1999 die mehrheitsfähigen Punkte, die 2003 erfolgreich zur Abstimmung gebracht wurden: Über die sogenannte allgemeine Volksinitiative kann die stufengerechte Umsetzung (Verfassungs- oder Gesetzesebene) eines allgemein formulierten Anliegens verlangt werden. Zusätzlich wurde das fakultative Staatsvertragsreferendum auf alle, auch bilaterale, nicht direkt anwendbare Staatsverträge ausgedehnt. Die gesetzliche Umsetzung der allgemeinen Volksinitiative erwies sich allerdings in einem Zweikammersystem als unmöglich. Die Bundesversammlung beschloss nur wenig später wieder deren Aufhebung, welcher Volk und Stände 2009 folgten.

Schon während der Vorberatung der Justizreform im Parlament 1999 entschied der Nationalrat, auf einen Ausbau der Verfassungsgerichtsbarkeit zu verzichten. Die Vorlage, die am 12. März 2000 mit 86,4% Ja-Stimmen und von allen Kantonen angenommen wurde, beschränkte sich daher auf die unbestrittene Vereinheitlichung des Straf- und Zivilprozessrechts und den Ausbau der richterlichen Vorinstanzen, die das Bundesgericht entlasteten. Die dafür notwendige Gesetzgebung trat sukzessive bis am 1. Januar 2007 in Kraft.

Die ebenfalls auf eine Änderung des Verfassungsrechts abzielende Staatsleitungsreform, die zwar unabhängig von der Totalrevision der Bundesverfassung um 1990 eingeleitet wurde, aber inhaltlich mit dieser zusammenhing, verlor nach dem weitgehenden Scheitern der Regierungsreform 1993 allen Elan. Der Bundesrat nahm das Projekt 2001 wieder auf. 2013 endete es ohne Erfolg, da beide Räte entsprechende Anträge des Bundesrats zu einer Regierungsreform von 2010 ablehnten und Nichteintreten beschlossen.

Wichtigste Teilrevisionen von 2000 bis 2022

Seit ihrer Inkraftsetzung erwiesen sich zahlreiche Begehren auf Revision der Bundesverfassung als mehrheitsfähig, deren wichtigste hier kurz angeführt werden (die beiden grossen Reformbereiche Justiz und Volksrechte wurden im vorherigen Kapitel behandelt). So strich der Verfassungsgeber 2001 den sogenannten Bistumsartikel aus dem Grundgesetz (Artikel 72 Absatz 3). Das Parlament hatte dieses Thema aus der Vorlage über die Totalrevision herausgenommen, um das Vorhaben nicht zu belasten.

Die 2001 angenommene Schuldenbremse band den jährlichen Plafond für die ordentlichen Ausgaben an die Höhe der ordentlichen Einnahmen (Artikel 126 und Artikel 159 Absatz 3 Buchstabe c und Absatz 4). Sie bewirkte von 2003 bis 2019 einen Rückgang der Schuldenquote des Bundesstaats von ca. 25 auf 13%. In Situationen mit ausserordentlichem Zahlungsbedarf kann das Parlament zusätzliche Ausgaben ermöglichen, sofern beide Kammern diesen zustimmen.

1986 hatten die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger einen Beitritt der Schweiz zu den Vereinten Nationen (UNO) noch abgelehnt. Die Veränderungen des internationalen Staatensystems nach dem Ende des Kalten Kriegs 1989-1990 rückten die Neutralität als Maxime der Aussenpolitik vorübergehend in den Hintergrund. Nach dem Beitritt zu anderen internationalen Organisationen fand 2002 auch die Vollmitgliedschaft in der UNO bei Volk und Ständen eine Mehrheit (Artikel 197 Ziffer 1).

Die Neugestaltung des Finanzausgleichs und der Aufgabenteilung zwischen Bund und Kantonen (NFA), die Volk und Stände 2004 annahmen, umfasste ein Paket von Verfassungsänderungen. Dieses stellte als eigentliche Föderalismusreform in erster Linie eine Aufgaben- und Finanzierungsentflechtung zwischen Bund und Kantonen dar. Die Reform trat 2008 in Kraft.

Die Neuordnung der Verfassungsbestimmungen zur Bildung blieb in der Volksabstimmung 2006 so gut wie unbestritten (Artikel 61a-67). Sie beliess die Schulhoheit bei den Kantonen, harmonisierte aber die kantonalen Schulwesen bezüglich Schuleintrittsalter, Schulpflicht, Dauer und Ziele der Bildungsstufen, der Übergänge und die Anerkennung von Abschlüssen. Ausserdem wurde die Förderung der Innovation – d.h. die Umwandlung wissenschaftlicher Erkenntnisse in neue Technologien, Produkte und Dienstleistungen – festgeschrieben.

Die Stiftung Helvetia Nostra reichte 2007 die Volksinitiative «Schluss mit uferlosem Bau von Zweitwohnungen!» ein, um dem haushälterischen Umgang mit dem Boden Nachdruck zu verleihen. Obwohl von Bundesrat, Tourismusorganisationen und Baugewerbe bekämpft, wurde die Begrenzung der Zweitwohnungen auf 20% der Gesamtfläche des Wohnungsbestands pro Gemeinde von Volk und Ständen 2012 knapp angenommen (Artikel 75b und Artikel 197 Ziffer 9).

Der Volksinitiative «Für eine starke Pflege», die vom Schweizer Berufsverband der Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner getragen wurde, stellte das Parlament einen indirekten Gegenvorschlag gegenüber. Die Initiative wurde 2021 vor dem Hintergrund der Coronakrise trotzdem deutlich angenommen (Artikel 117b). Bei ihrer Umsetzung fokussierte der Bundesrat anfänglich vor allem auf die sogenannte Ausbildungsoffensive, um die Anzahl der qualifizierten Pflegefachpersonen zu erhöhen.

Plakate der Ja-Kampagne für die eidgenössische Volksinitiative «Gegen den Bau von Minaretten», aufgenommen im Zürcher Hauptbahnhof am Montag, 26. Oktober 2009 (KEYSTONE / Steffen Schmidt, Bild 77739328).
Plakate der Ja-Kampagne für die eidgenössische Volksinitiative «Gegen den Bau von Minaretten», aufgenommen im Zürcher Hauptbahnhof am Montag, 26. Oktober 2009 (KEYSTONE / Steffen Schmidt, Bild 77739328).

Verfassungsrechtlich von besonderer Bedeutung war, dass ab 2004 mehrere Volksinitiativen angenommen wurden, deren Umsetzung völkerrechtliche Probleme aufwarf (Völkerrecht). Dies betraf 2004 die Verwahrungsinitiative (Artikel 123a), 2009 das Minarett-Verbot (Artikel 72 Absatz 3), 2010 die Ausschaffungsinitiative (Artikel 121 Absätze 3-6 und Artikel 197 Ziffer 8) sowie 2021 die Volksinitiative «Ja zum Verhüllungsverbot» (Artikel 10a). Auch die Masseneinwanderungsinitiative (Artikel 121a) erwies sich 2014 als mehrheitsfähig, während die sich auf sie beziehende Durchsetzungsinitiative (Artikel 197 Ziffer 11) 2016 abgelehnt wurde (Ausländer, Fremdenfeindlichkeit). Die Bundesversammlung verminderte zum Teil das aus diesen Initiativen resultierende Konfliktpotenzial, indem sie deren Umsetzung milder ausgestaltete. Ausgeprägt war das bei der Verwahrungsinitiative und der Masseneinwanderungsinitiative der Fall.

Quellen und Literatur

  • Gengel, Florian: «Der Staat und seine Zustände», in: Berlepsch, Hermann Alexander (Hg.): Schweizerkunde. Land, Volk und Staat, geographisch-statistisch, übersichtlich-vergleichend dargestellt, 1864, S. 648-805.
  • Curti, Theodor: Geschichte der Schweiz im XIX. Jahrhundert, 1902.
  • His, Eduard: Geschichte des neuern schweizerischen Staatsrechts, 3 Bde., 1920-1938.
  • Aubert, Jean-François; Eichenberger, Kurt (Hg.): Kommentar zur Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 29. Mai 1874, 1987-1996.
  • Wili, Hans-Urs: Kollektive Mitwirkungsrechte von Gliedstaaten in der Schweiz und im Ausland. Geschichtlicher Werdegang, Rechtsvergleichung, Zukunftsperspektiven. Eine institutsbezogene Studie, Dissertation, Universität Bern, 1988.
  • Kölz, Alfred: Neuere schweizerische Verfassungsgeschichte, 2 Bde., 1992-2004.
  • Aubert, Jean-François; Mahon, Pascal: Petit commentaire de la Constitution fédérale de la Confédération suisse du 18 avril 1999, 2003.
  • Kreis, Georg (Hg.): Erprobt und entwicklungsfähig. Zehn Jahre neue Bundesverfassung, 2009.
  • Kley, Andreas: Geschichte des öffentlichen Rechts der Schweiz, 2011 (20152).
  • Schmid, Stefan G.: «Direkte Demokratie und dynamische Verfassung. Zum Wandel des Verfassungsverständnisses in der Schweiz im 19. Jahrhundert», in: Roca, René; Auer, Andreas (Hg.): Wege zur direkten Demokratie in den schweizerischen Kantonen, 2011, S. 23-52.
  • Seferovic, Goran: Das Schweizerische Bundesgericht 1848-1874. Die Bundesgerichtsbarkeit im frühen Bundesstaat, Dissertation, Universität Zürich, 2011.
  • Kley, Andreas: Verfassungsgeschichte der Neuzeit. Grossbritannien, die USA, Frankreich und die Schweiz, 20204, S. 211-214, 431-512 (mit dem Text aller Bundesverfassungen).
Weblinks

Zitiervorschlag

Andreas Kley: "Bundesverfassung (BV)", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 29.06.2023. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/009811/2023-06-29/, konsultiert am 19.03.2024.