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Kantonales Recht

Im geltenden kantonalen Recht lassen sich drei Rechtsschichten unterscheiden. Die erste Schicht besteht aus Elementen des germanischen Rechts, römisch-rechtlich geprägten gemeinen Rechts (Römisches Recht) und kanonischen Rechts (Kirchenrecht), die zweite Schicht umfasst das naturrechtlich geprägte Recht der Helvetik und der Regeneration (Naturrecht), die dritte «neuschweizerisches» Recht, das durch die demokratische Fortbildung der Regenerationsverfassungen und durch den Aufbau des neuen Bundesstaates entstanden ist (Bundesverfassung).

Die kantonale Rechtssetzung ist Aufgabe der kantonalen Parlamente; die Bundesverfassung (BV) garantiert dem kantonalen Stimmbürger ein Initiativrecht zur Revision der Kantonsverfassung und ein kantonales Verfassungsreferendum. Das kantonale Recht ist dem Völker- und dem Bundesrecht nach- und dem kommunalen Recht übergeordnet; seine interne Hierarchie Verfassung, Gesetz, Verordnung folgt dem erlassenden Organ.

Die Kompetenz- und Aufgabenverteilung zwischen Bund und Kantonen erfolgt im Sinne eines Kompetenzvorbehaltes des Bundes bzw. der subsidiären Generalkompetenz der Kantone (Artikel 3 BV). In einigen Bereichen verfügt der Bund über die ausschliessliche Kompetenz (Geld- und Währungswesen, Zoll); hier kommt die derogatorische Kraft des Bundesrechts ursprünglich zur Wirkung. Im Regelfall haben Bund und Kantone aber konkurrierende oder parallele Kompetenzen: Erhält der Bund eine konkurrierende Kompetenz, so bleibt der Kanton zuständig, bis und soweit der Bund von seiner Kompetenz Gebrauch macht (Bundeskompetenz mit nachträglich derogatorischer Kraft). Parallele Kompetenzen ermächtigen Bund und Kantone, unabhängig voneinander auf einem bestimmten Sachgebiet tätig zu sein.

Die nicht immer klar umrissenen Aufgaben der Kantone sind in deren Verfassungen festgehalten. Die Hauptbereiche, in denen die Kantone heute ihre Eigenständigkeit entfalten bzw. Gesetze erlassen, sind das Polizei-, Bau- und Strassenrecht, Bildung, Kultur, Gesundheitswesen, mehrheitlich das Steuerwesen und das Prozessrecht, die Organisation der – auch kommunalen – Behörden und Verwaltungen sowie die traditionellen Bereiche landeshoheitlicher Privilegien wie Jagd, Fischerei und andere derartige Monopole. Die Kantone verfügen über eigene Zivil-, Straf- und Verwaltungsgerichte.

Ancien Régime

Von einem einheitlichen kantonalen Recht kann vor 1798 nicht gesprochen werden, wohl aber von einem Staatsrecht der Kantone. Die Eidgenossenschaft bestand aus verschiedenen Bündniskreisen, die unterschiedliche Rechte und Privilegien besassen (Eidgenössisches Recht). Ausserdem wurden erhebliche Teile der heutigen Schweiz von einzelnen Kantonen als Untertanengebiet beherrscht. Die Freiheit der alten eidgenössischen Orte muss vor allem im Mittelalter als Reichsunmittelbarkeit und in der frühen Neuzeit als Unabhängigkeit gegen aussen verstanden werden.

Die Gliederung der Kantone in Gemeinden sowie die Ausgestaltung der Gemeindedemokratie im Sinne des Versammlungssystems (Gemeindeversammlungen), woraus in einzelnen Kantonen oder Regionen der Inner- und Ostschweiz die Landsgemeinden entstanden, haben ihre Wurzeln im germanischen Recht. Diese Versammlungen wandelten sich mit der Zeit durch die vermehrte Übernahme von öffentlichen Aufgaben von blossen Nutzungsgemeinschaften zu eigentlichen Staatsorganen. Sie kannten keine Gewaltentrennung und hatten politische und rechtsprechende Funktionen. Neben diesen Landsgemeindedemokratien existierte namentlich in Graubünden und im Wallis eine Referendumsdemokratie, in der die Mehrzahl der Gemeinden bzw. der Zehnträte einer Gesetzesvorlage zustimmen musste.

Frontispiz des 1727-1746 publizierten Werks von Johann Jacob Leu, mit einer allegorischen Darstellung der Gerechtigkeit und den Wappen der Kantone. Kupferstich von Johann Simler (Zentralbibliothek Zürich).
Frontispiz des 1727-1746 publizierten Werks von Johann Jacob Leu, mit einer allegorischen Darstellung der Gerechtigkeit und den Wappen der Kantone. Kupferstich von Johann Simler (Zentralbibliothek Zürich).

Im Privatrecht bemühten sich die Gelehrten des 16. und 17. Jahrhunderts, das römische Recht zu rezipieren und die ratio scripta zu verbreiten. Im 18. Jahrhundert wurden Rechtsschulen gegründet, die sich mit der Sammlung und der Fortentwicklung des Rechtsstoffes befassten. Als erste Schritte der späteren Kodifikation des kantonalen Privat- und Strafrechts können die ab dem 15. Jahrhundert entstandenen Sammlungen des Statutarrechts und des ungeschriebenen Gewohnheitsrechts angesehen werden. Das öffentliche Recht entwickelte sich in den Rechtsschulen von Bern, Basel, Lausanne, Freiburg, Genf und Zürich aufgrund der vorherrschenden Zivilistik nur zögerlich. Das Prozessrecht war grösstenteils ungeschrieben und wurde als regionales Rechtsempfinden durch einen Rat bewahrt, überliefert und weiterentwickelt. Beeinflusst war es durch das germanische Partikularrecht und das gemeine Recht, das eine Verschmelzung spätrömischer, kanonischer und langobardischer Rechtsgedanken darstellt. In jedem Kanton existierte im Strafrecht eine Vielfalt von Strafnormen und Bestrafungsmöglichkeiten, die weitgehend auf die Carolina von 1532 zurückgingen. Sie beinhaltete auch Regeln für den Strafprozess, der sich aus Elementen des germanischen Strafprozesses und des Inquisitionsprozesses zusammensetzte.

Von 1798 bis 1848

In der Helvetik verloren die Kantone ihre Existenz als eigene Staatswesen – und damit auch ihr eigenes Recht. Mit der Mediationsakte Napoleons von 1803 und dem Bundesvertrag von 1815 lebten die Kantone als souveräne Staaten und damit das eigenständige kantonale Recht wieder auf. Sie erlangten wieder die Regelungskompetenz für das Strafrecht, was teilweise zu einer Rückkehr zu alten Verhältnissen und damit zu einer Verschärfung der Strafen und einer Ausweitung der Strafarten führte. Wegleitend für viele kantonale Strafprozessordnungen war Napoleons «Code d'instruction criminelle» von 1808.

Das Verfassungsrecht der Regenerationskantone regelte in erster Linie organisatorische Fragen und enthielt neben den individuellen Rechten nur wenige materielle Bestimmungen. Die Gesetzgebung der Regenerations-, später auch der Landsgemeindekantone griff zurück auf die Französische Revolution und Helvetik, so im Erziehungs-, Justiz- und Sanitätswesen. Entsprechend den Lehren des wirtschaftlichen Liberalismus wurden keine materiellen Gesetze über Industrie und Handwerk erlassen. Auch der Arbeiterschutz und die Armenpflege wurden kaum legiferiert. Neuen Auftrieb erhielten die Kodifikation des Straf- und Zivilrechts sowie die entsprechenden Prozessgesetze. Die Privatrechtskodifikationen waren vom französischen Code Civil, dem österreichischen Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuch, das den entsprechenden kantonalen Besonderheiten angepasst wurde, und dem zürcherischen Privatrechtlichen Gesetzbuch geprägt. Einige Kantone der Innerschweiz, St. Gallen und beide Basel blieben bis zum Erlass des von Eugen Huber redigierten Zivilgesetzbuches von 1907 ohne eigene Kodifikation.

Von 1848 bis heute

Schon 1832 versuchte die liberal-radikale Bewegung, eine Verfassung für die gesamte Eidgenossenschaft zu geben und damit den Bund der Kantone durch einen Bundesstaat abzulösen. Diesem Entwurf eines «Bundesvertrages» war kein Erfolg beschieden, er bildete jedoch die Vorlage für die BV von 1848. Mit ihr wurde die Schweiz zum Bundesstaat, aber die Kantone bestanden als Gliedstaaten der neuen Bundesordnung fort (Föderalismus). Aus Artikel 3 über die bundesstaatliche Kompetenzverteilung schlossen Lehre und Praxis mehrheitlich, dass in allen Bereichen, welche die BV nicht ausdrücklich dem Bund zuteilte, die Kantone zuständig seien. Dies galt etwa auch für die ersten Sozialgesetze oder für das Handelsrecht. Weil der Bund die kantonalen Verfassungen garantierte, wurde er zum Hüter der in diesen enthaltenen individuellen Rechte. Liberale und Radikale sahen im Bund das entscheidende Instrument, Freiheitsrechte und Rechtsgleichheit in sämtlichen Kantonen zu verwirklichen, was zu Auseinandersetzungen mit den agrarischen, katholischen und genossenschaftlich geprägten Kantonen führte. Diese behielten die Gebietsgarantie, die Garantie der Verfassung und Freiheit sowie die verfassungsmässigen Rechte der Bürger (Stimm- und Wahlrecht).

In der Entwicklung von Staat und Gesellschaft im 19. und 20. Jahrhundert zeigte sich, dass viele Bereiche der Regelung durch den Bund bedurften. Auch wenn den Kantonen nicht viele Aufgaben weggenommen wurden, so zog der Bund doch alle Kompetenzen an sich, welche mit der Schaffung des modernen Sozial- und Wirtschaftsstaats überhaupt erst Staatsaufgaben wurden. Ausserdem griff auch das Bundesgericht zunehmend in die Ausgestaltung und Anwendung des kantonalen Rechts ein, um eine bundesweite Gleichbehandlung zu garantieren. Dem Bund steht aufgrund seiner umfassenden Staatsvertragskompetenz des Weiteren das Recht zu, auch in Bereichen, welche die Kantone tangieren, Abkommen mit dem Ausland zu treffen. In den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts folgte bundesseits ein Ausbau der Verkehrsinfrastruktur, eine Ausgestaltung der Umweltschutzgesetzgebung sowie in Anlehnung an die Europäische Gemeinschaft (EG) bzw. Europäische Union (EU) die Vereinheitlichung des Binnenmarktes. Die Kantone haben in diesen Bereichen kaum Kompetenzen zur eigenständigen Gesetzgebung. Obwohl den Kantonen immer mehr Vollzugsaufgaben zugewiesen wurden und der Anteil an den Einführungsgesetzen und Vollzugsverordnungen im kantonalen Recht zunahm, nahm die Öffentlichkeit die Schwächung der Eigenständigkeit der Kantone bzw. die grundsätzliche Gefährdung des föderalistischen Prinzips, die sich aus dieser Entwicklung ergab, kaum wahr.

Erst in den 1990er Jahren setzte die Debatte breiter ein, nicht zuletzt, weil die Ausarbeitung der BV 1999 an sich die Auseinandersetzung mit der Kompetenzaufteilung zwischen Bund und Kantonen unumgänglich machte, um die wenig übersichtliche Kompetenzlage zu ordnen. Konkret äusserte sich ein «Aufbruch des Föderalismus» etwa in der Schaffung der Konferenz der Kantonsregierungen 1993. Es war ein Anliegen der Kantone, ihre Eigenständigkeit, insbesondere bei der Umsetzung von Bundesrecht, in der neuen Verfassung zu sichern (Artikel 46, 47 BV). Die BV 1999 änderte aber an sich an der historisch gewachsenen Kompetenzabgrenzung nur wenig, auch wenn sie einerseits den partnerschaftlichen Charakter der Zusammenarbeit zwischen Bund und Kantonen verstärkt unterstrich und andererseits die Entwicklung des interkantonalen Rechts förderte. Die Einsicht, dass die Aufgabenverschränkung die politische Handlungsfähigkeit der Kantone gefährde, hatte schon 1994 zur Einleitung eines ersten Reformschritts geführt: Im Rahmen der Neugestaltung des Finanzausgleichs und der Aufgaben (NFA) wird die historisch gewachsene Kompetenzabgrenzung überprüft und eine entsprechende Entflechtung in Angriff genommen (Finanzausgleich). Bereits vor Abschluss dieses Vorhabens zeichnet sich nun ab, dass sich infolge der zunehmenden Anlehnung an die EU noch weitere Überprüfungen der Aufgaben der Kantone und der Zusammenarbeit mit dem Bund aufdrängen werden.

Quellen und Literatur

  • H.J. Leu, Eydgenöss. Stadt- und Land-Recht, 4 Bde., 1727-46
  • J.J. Blumer, Hb. des Schweiz. Bundesstaatsrechtes, 1863
  • J.C. Bluntschli, Gesch. des schweiz. Bundesrechtes, 21875
  • J. Dubs, Das Öffentl. Recht der Schweiz. Eidgenossenschaft, 1877-78
  • E. Huber, System und Gesch. des Schweiz. Privatrechtes, 4 Bde., 1886-93
  • C. Stooss, Die Schweiz. Strafgesetzbücher, 1890
  • E. His, Gesch. des neuern Schweiz. Staatsrechts, 3 Bde., 1920-38
  • Z. Giacometti, Das Staatsrecht der Schweiz. Kt., 1941
  • F. Fleiner, Z. Giacometti, Schweiz. Bundesstaatsrecht, 1949
  • M. Guldener, Über die Herkunft des schweiz. Zivilprozessrechtes 2, 1966
  • F. Elsener, «Geschichtl. Grundlegung», in Schweiz. Privatrecht 1, 1969
  • A. Kölz, Neuere Schweiz. Verfassungsgesch., 1992
  • W. Kälin, U. Bolz, Hb. des bern. Verfassungsrechts, 1995
  • T. Jaag, Verwaltungsrecht des Kt. Zürich, 1997
Weblinks

Zitiervorschlag

Rainer J. Schweizer: "Kantonales Recht", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 26.11.2014. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/009604/2014-11-26/, konsultiert am 28.03.2024.