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Offnungen

Weistümer

Offnungen bezeichneten in der Deutschschweiz die Auskunft (offnen = verkünden, offenbaren) rechtskundiger Herrschaftsangehöriger über einen bestehenden Rechtszustand oder geltendes Gewohnheitsrecht anlässlich der jährlichen Gerichtsversammlung. Die ursprünglich mündliche Rechtsverkündung aus der Erinnerung der Gerichtssässen wurde nach der Aufzeichnung dieser Rechte von der periodischen Vorlesung am Gericht abgelöst. Damit ging der Begriff Offnungen auf diese Rechtsurkunden über, bezeichnete aber bisweilen auch die Gerichtsversammlung selbst, an der geoffnet wurde, oder den Bezirk, in welchem eine Offnung galt. Der Vorgang des Offnens und der Verschriftlichung des Rechts (Schriftlichkeit) war europaweit verbreitet: In der Südschweiz hiessen die Offnungen ordini, in Süddeutschland und Österreich Recht und (Bann-)Taiding, im Elsass und im Schwarzwald Dingrodel und im Mittelrhein- und Moselgebiet Weistum. Letzter Ausdruck setzte sich als Fachbegriff in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Deutschland und Österreich durch; er wird daher von Schweizer Historikern mitunter verwendet, obwohl er für das Gebiet der Eidgenossenschaft nicht durch Quellen belegt ist.

In der rechtsgeschichtlichen Forschung der Schweiz werden jene ländlichen Rechtsquellen des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit als Offnungen bezeichnet, die zur bleibenden Klärung strittiger Rechtsverhältnisse im Bereich von Grund- und Landesherrschaft niedergelegt wurden und im Ingress oft, aber nicht zwingend, auf die Befragung der Gerichtssässen durch den Gerichtsvorsitzenden nach dem mündlich überlieferten Recht und auf dessen Offnen unter Eid hinweisen. Es handelt sich um unterschiedliche Rechtsquellen wie Dorfrechte, Hofrechte, Landrechte und Twingrechte (Twing und Bann). In erweitertem Sinn werden diese etwa auch dann als Offnungen bezeichnet, wenn sie auch Satzungsrecht (Statutarrecht) beinhalten.

Entstehung der Offnungen

Eine Offnung aus dem Oberaargau, 1454 auf Pergament geschrieben (Staatsarchiv Bern, F Wangen 1454, Mai 27) © Foto Frutig, Bern.
Eine Offnung aus dem Oberaargau, 1454 auf Pergament geschrieben (Staatsarchiv Bern, F Wangen 1454, Mai 27) © Foto Frutig, Bern. […]

Das Rechtsinstrument der Offnungen entstand am Übergang von der alten feudalen Rechtsordnung zur neuen Ordnung von Städten und Länderorten. Allgemeine Rechtsunsicherheit führte seit dem 14. Jahrhundert zur allmählichen Verschriftlichung des alten, mündlich tradierten ländlichen Rechts. Grund- und Gerichtsherrschaften griffen dann zum Mittel des Offnens und der Aufzeichnung, wenn sie sich der Übergriffe von oben (Landesherr) oder unten (bäuerliche Dorfgemeinde) zu erwehren hatten. Landesherren liessen zur Positionssicherung gegenüber Twingherren neu erworbene Herrschaftsrechte an Landtagen offnen und schriftlich fixieren. In der Regel verlangte die Herrschaft die Rechtsoffnung vom öffentlichen Gericht (Hof-, Twing-, Landgericht), stützte sich aber bei der Durchführung wesentlich auf die Mitwirkung aller am Gericht anwesenden Hof- oder Dorfgenossen. Die Umfrage des Gerichtsvorsitzenden nach dem tradierten Recht richtete sich an die Gerichtssässen (Mitglieder des Gerichts im Ring) mit oder ohne Umstand (anwesende Gerichtsgenossen ausserhalb des Rings) oder an eigens aufgebotene "älteste" Männer, deren Aussage unter Eid aufgezeichnet wurde; oft sind die Namen der Befragten in Zeugenlisten festgehalten. Die Umfrage fand oftmals öffentlich statt. Besiegelt und teilweise notariell beglaubigt, sind Offnungen als Urkunden, Hefte oder Rödel aus Pergament sowie meist auch als gleichzeitige Eintragung im Herrschaftsurbar überliefert.

Die Offnungen sind nur eine der verschiedenen Gattungen ländlicher Rechtsquellen, oft aber die ältesten schriftlichen Zeugen des ländlichen Rechts und der spätmittelalterlichen Hof- und Dorforganisation. Auf "ewig" angelegt, wurden sie vom 15. bis ins 18. Jahrhundert häufig mehrfach und meist ohne jede Änderung bestätigt, sodass sie mit ihrer archaischen Form und ihrem überholten Inhalt bereits im 17. oder 18. Jahrhundert zum Rechtsdenkmal erstarrt waren. Noch im 15. und 16. Jahrhundert wurde zur Erneuerung der Offnungen das Gericht einberufen; nach Verlesen der Offnungen hatte jeder die Richtigkeit der einzelnen Artikel, wie er dies "von Vordern und Eltern" gehört habe, zu bestätigen. Im 17. und 18. Jahrhundert zog die Landesobrigkeit die Bestätigung an sich. Dieselbe Offnung ist deshalb meist mehrfach überliefert.

Die alte Form des Offnens vor Gericht überlebte in der Zeugenaussage (kuntschaft) aus der Erinnerung im Dienste der Urteilsfindung und Rechtsprechung.

Inhalt

In den Offnungen werden die Verhältnisse zwischen dem Grundherrn und seinen Hofleuten (Eigenleuten) oder Dorfgenossen oder der Genossen unter sich, nämlich ihre wechselseitigen Rechte und Pflichten geregelt. Alle Rechtssätze zielen auf die Vermeidung von Konflikten, sei es in der Hof- bzw. Dorfwirtschaft oder im dörflichen Zusammenleben. Die Inhalte der Offnungen spiegeln die Unterschiede zwischen den einzelnen Regionen wie zwischen den rechtlichen Körperschaften, die Offnungen veranlasst haben: Überliefert sind Offnungstypen mit Schwerpunkten im herrschaftlichen Recht der Grund-, Gerichts- und Leibherren (Hof-, Twingrechte) oder im bäuerlich-genossenschaftlichen Recht der Hofverbände und Dorfschaften (Dorfrechte). Offnungsrecht war stets mehrschichtig und umfasste neben Brauchtum und Gewohnheitsrecht auch Verträge, Urteile, Privilegien und Satzungsrecht. "Weistumsfamilien" von unter sich ähnlichen Offnungen entstanden in Territorien mächtiger Herren wie zum Beispiel der Fürstabtei St. Gallen oder in verschiedenen Herrschaften desselben Ordens.

Dem Herrschaftsrecht entstammen das Leiherecht (Leihe- und Zinsmodi, Ehr- oder Friedschatz, Verkauf und Heimfall von Leihegut), das Leibrecht (Genossame, Todfall, Erbrecht der Eigenleute) und das Gerichtswesen (Besetzung, Zuständigkeit, Tätigkeit, Verfahren, Strafrecht), ferner Aufsichtsrechte des Herrn über Hofgüter, Ansprüche auf Fronen, Zwangsrechte bei Bannbetrieben (Mühle, Taverne), eigenen Massen, Gewichten und Märkten. Aus dem bäuerlich-genossenschaftlichen Rechtsgut kommen Normen für die dörfliche Wirtschaft und Gemeinschaft: Geregelt werden mussten die Flurnutzung (Allmend, Weide, Wald, Wasser), der Weidebetrieb (Termine, Auftriebsrechte) sowie die Brache- und Wegrechte; Hof- und Dorfgenossen sicherten sich Vorrechte vor Zuzügern (Zug-, Güter-, Erbrecht); örtliche Selbstverwaltung zeigte sich im dörflichen Gemeinwerk mit eigenen Dorfbeamten (Hirt, Bannwart).

Auch bei Zwist unter Herrschaften, im Kompetenzstreit zwischen Hoch- und Niedergerichten etwa, offneten Gerichtssässen oder der Landtag einzelne strittige Rechte oder ganze Kataloge an Rechten (Twingrechte, Landrechte). Im Zeichen spätmittelalterlicher Grenzbildung erhielten Grafschaften, Herrschaften, Hoch-, Nieder-, Freigerichtsbezirke, auch Wälder, Fischerei-, Zehntbezirke usw. durch Offnen ihre erste Grenzbeschreibung.

Eine besondere Form der Offnungen stellen die Urbare (Güterverzeichnisse) der Grundherrschaft dar, bei deren Abfassung der Lehenbauer vor dem herrschaftlichen Beamten seine Grundstücke, Zinsbelastungen und Zinstermine, Sonderrechte und Servitute unter Eid anzugeben hatte.

Die Erstaufzeichnungen der Offnungen erfolgten fast überall im 14. oder 15. Jahrhundert; nur für wenige Regionen sind Offnungen aus der Zeit vor 1300 bzw. nach 1500 tradiert. Die ältere Forschung war überzeugt, dass die Rechtssätze zum Zeitpunkt ihrer schriftlichen Fixierung schon lange bestanden hatten und immer mündlich verkündet worden waren. Indes lassen die formelhaften Hinweise auf altes Herkommen der Offnungen (als die von alterhar komen sint, gwonheit und alter bruch, das nieman von alters har anders gedenket), die urtümlich-irrational wirkenden Formen bäuerlicher Rechtssetzung (z.B. Sichelwurf) sowie die Vorliebe für Paarformeln, Reim und Stabreim (wunn und weid) keinen Schluss auf das tatsächliche Alter der entsprechenden Rechtsinhalte zu. Aufmerken lässt vielmehr, dass sich jüngere Offnungen von älteren durch einen "moderneren" Rechtsstand unterscheiden. Das mündlich tradierte Recht hatte also an der Rechtsentwicklung teil bzw. machte sie mit; es kann somit kaum als direkter Zeuge des "alemannischen Volkstums" angesprochen werden. Viele der Rechtssätze dürften, dem Erinnerungsvermögen der Zeugen entsprechend, höchstens 60 Jahre vor die Aufzeichnung zurückreichen.

Ergänzung der Offnungen durch neues Satzungsrecht

Die Offnungen schrieben eine momentane Rechtssituation fest, die auf dem Konsens von Herrschaft und Untertanen beruhte. Nach der schriftlichen Fixierung war sie, durch wiederholte Beglaubigung zementiert, kaum mehr zu ändern und entzog sich der Rechtsentwicklung. Ähnlich wie die Stadtrechte mussten die Offnungen deshalb durch erneuerbares Satzungsrecht ergänzt werden. In der Tat wurden die Offnungen nach 1500 von der Entwicklung überrollt: Bevölkerungswachstum und wirtschaftlicher Wandel machten allenthalben neues Recht nötig. Neue Dorfordnungen beinhalteten teils Absprachen mit oder unter Dorfgenossen, teils obrigkeitliche Verordnungen; sie regelten vor allem die dörfliche und interkommunale Gemeinnutzung mit Reglementen für Weide, Pflanzland, Wald und Wasser oder setzten organisatorische Ordnungen für das Gemeinwesen (Bau-, Gemeinwerks-, Steuer-, Niederlassungs-, Hintersässenordnungen). Nach der Aufhebung interkommunaler Weidgänge entstanden vom 15. bis ins 17. Jahrhundert durch Rechtsprechung zahlreiche Gemeindegrenzen. In Abwehr landesherrlicher Eingriffe verzeichneten neue Twingrechte Kompetenzen, Gerichtsbehörden (Gast-, Wochen-, Geschwornen-, Zivilgericht), Gerichtsverfahren und Bestellung des Gerichts.

Ab dem 16. Jahrhundert lag das fixierte lokale Offnungsrecht auch zunehmend quer zur politischen Entwicklung: Landesobrigkeiten drängten auf Vereinheitlichung des Rechts in ihren Territorien und zogen die Rechtssetzung auch auf kommunaler Ebene immer mehr an sich; obrigkeitliche Mandate, Amtsrechte, Polizei- und Sittenordnungen liefen den Offnungen faktisch den Rang ab. Gleichwohl blieben diese weiterhin in Kraft und wurden trotz verminderter Geltung jährlich vor Gericht verlesen. Mit der Abschaffung des Feudalwesens 1798 wurden die Offnungen, obwohl nie aufgehoben oder ungültig erklärt, gegenstandslos.

Forschung und Editionstätigkeit

Letzter Band der in Göttingen gedruckten Weisthümer des deutschen Philologen und Märchensammlers Jacob Grimm, mit Namens- und Sachindex, 1878 (Schweizerische Nationalbibliothek, Bern).
Letzter Band der in Göttingen gedruckten Weisthümer des deutschen Philologen und Märchensammlers Jacob Grimm, mit Namens- und Sachindex, 1878 (Schweizerische Nationalbibliothek, Bern).

Am Anfang der Weistumsforschung im deutschen Sprachraum stand Jacob Grimms "Weisthümer"-Sammlung, die auch zahlreiche schweizerische Offnungen enthielt. Sie löste ab den 1840er Jahren eine rege, immer auf einzelne Regionen begrenzte Sammel- und Editionstätigkeit aus. Schweizer Forscher nahmen am Gelehrtenstreit über die Definition der Weistümer und deren Urheberschaft teil. Nachdem in Österreich ebenfalls ein landesweites Editionsunternehmen begonnen worden war, fasste der Schweizerische Juristenverein 1894 den Beschluss, eine nationale Rechtsquellensammlung herauszugeben.

Titelseite des Bandes über die Offnungen des Kantons Freiburg aus der Reihe Sammlung Schweizerischer Rechtsquellen (Schweizerische Nationalbibliothek, Bern).
Titelseite des Bandes über die Offnungen des Kantons Freiburg aus der Reihe Sammlung Schweizerischer Rechtsquellen (Schweizerische Nationalbibliothek, Bern).

Bereits 1898 erschien der erste Band der "Sammlung Schweizerischer Rechtsquellen" (SSRQ). In dieser Reihe bildet jeder Kanton eine eigene Abteilung mit "Stadtrechten" und "Rechten der Landschaft". Im Unterschied zu den anderen nationalen Unternehmen nimmt die SSRQ somit nicht nur Offnungen, sondern alle ländlichen und städtischen Rechtsquellen auf; bis 2009 sind 108 Bände und Halbbände erschienen. Die SSRQ macht den reichen Bestand an Offnungen nicht nur für wirtschafts-, sozial-, rechts-, verfassungs- und lokalgeschichtliche Forschungen zugänglich, sondern erschliesst dieses aussagekräftige Quellenmaterial auch Disziplinen wie der rechtlichen Volkskunde, der Rechtsarchäologie und der Sprachforschung. Zu den bekanntesten Promotoren der in Europa einzigartigen Quellenedition zählen die Rechtshistoriker Andreas Heusler (1834-1921), Ulrich Stutz, Walther Merz, Max Gmür, Friedrich Emil Welti und Hermann Rennefahrt. Daneben prägten vor allem Hans Fehr, Walter Müller, Theodor Bühler und Karl Siegfried Bader die schweizerische Weistumsforschung.

Quellen und Literatur

  • J. Grimm, Weisthümer, 7 Bde., 1840-1878 (mit schweiz. O.)
  • SSRQ
  • K.S. Bader, Stud. zur Rechtsgesch. des ma. Dorfes, 3 Bde., 1957-73
  • W. Müller, Die Offnungen der Fürstabtei St. Gallen, 1964
  • W. Müller, «Die Offnungen des Freigerichts Thurlinden», in Fs. Karl Siegfried Bader, hg. von F. Elsener, W.H. Ruoff, 1965, 301-320
  • T. Bühler, Gewohnheitsrecht und Landesherrschaft im ehem. Fürstbistum Basel, 1972
  • P. Blickle, Landschaften im Alten Reich, 1973
  • Dt. ländl. Rechtsqu., hg. von P. Blickle, 1977
  • T. Bühler, Rechtsquellenlehre, 3 Bde., 1977-85
  • HRG 5, 1239-1252
Weblinks

Zitiervorschlag

Anne-Marie Dubler: "Offnungen", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 02.11.2011. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/008946/2011-11-02/, konsultiert am 29.03.2024.