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Schützenwesen

Unter Schützenwesen versteht man die Gesamtheit der Schiessaktivitäten, ihrer Organisation und gesellschaftlichen Einbettung. Seine historische Gestalt ist geprägt durch die Entwicklung der Waffentechnik (Waffen), unterschiedliche Organisationsformen und die sich wandelnde Einbindung in Militär (Militärwesen, Armee) und Sport (Feste).

Spätmittelalter und frühe Neuzeit

Ein Schützenwesen wird im schweizerischen Raum erst im Spätmittelalter fassbar. Zunächst handelte es sich um private Veranstaltungen von Jagdgesellschaften adliger Herkunft oder um Schiessübungen städtischer Gruppen mit Bogen und Armbrust. Bis um 1400 dürften die städtischen Schiessveranstaltungen noch weitgehend in der Hand von korporativ organisierten Schützen gelegen haben, die sich auch wechselseitig besuchten. Als im 15. Jahrhundert die Feuerwaffen aufkamen, wurden sie zunehmend zu Anlässen städtisch-bürgerlicher Repräsentation, über deren Planung und Durchführung die Obrigkeit entschied. Diese gestaltete durch die Auswahl ihrer Gäste die Bündnispolitik oder leitete eine Versöhnung ein, wie zum Beispiel beim Zürcher Freischiessen von 1504 mit den schwäbischen Städten nach dem Schwabenkrieg. Durch reiche Bewirtung und wertvolle Preise demonstrierte sie die wirtschaftliche Macht der Stadt und zeigte durch das Grossaufgebot an Armbrust- und Büchsenschützen sowie militärische Paraden ihre militärische Stärke. Mitunter gaben die Feste aber auch Anlass zu Zwist und Krieg wie etwa das Konstanzer Schützenfest von 1458, das zum Plappartkrieg führte.

Musketen-Schiessstand in Schaffhausen aus der Mitte des 16. Jahrhunderts. Ausschnitt aus einem Riss für die Wappenscheibe von Wilhelm May. Federzeichnung von Daniel Lindtmayer, 1581 (Bernisches Historisches Museum, Sammlung Wyss).
Musketen-Schiessstand in Schaffhausen aus der Mitte des 16. Jahrhunderts. Ausschnitt aus einem Riss für die Wappenscheibe von Wilhelm May. Federzeichnung von Daniel Lindtmayer, 1581 (Bernisches Historisches Museum, Sammlung Wyss). […]

Mit der waffentechnischen Entwicklung und der zunehmenden kriegstechnischen Bedeutung der Feuerwaffen im 16. und 17. Jahrhundert begannen die Obrigkeiten mit dem Aufbau einer Milizorganisation mit geregelten Ausbildungszyklen (Militärische Ausbildung). Die Einführung von geregelten Milizorganisationen erfolgte nach oranischem Vorbild. Zur Ausbildung der Schützen an der Waffe trugen auch die korporativ organisierten Schützengesellschaften bei. Diese genossen gewisse Privilegien und besassen eigene Plätze (Schützenmatten) und Schützenhäuser. Geschossen wurde zunächst mit Luntenschlossbüchsen. Dann folgten Rad- und Steinschlossgewehre. Im Schoss der Schützengesellschaften entstanden auch Artilleriegesellschaften wie das Zürcher Artilleriekollegium. Auch die Jugend wurde einbezogen. Das noch heute bestehende Knabenschiessen in Zürich, das seinen Ursprung im 16. Jahrhundert hat, bildete noch im 18. Jahrhundert den Abschluss der militärischen Übungen Jugendlicher während der Hundstage. Die militärische Einbindung des Schützenwesens führte zu einer Disziplinierung der Schützenfeste. Aufgrund der konfessionellen Spannungen verschwand auch der Brauch der Einladung fremder Gäste mehr und mehr. In den reformierten Orten fiel der Volksfestcharakter der Schützenfeste zum Teil den Sittenmandaten zum Opfer, doch wurde etwa am Papageienschiessen der Waadtländer Abteien durchaus ausgelassen gefeiert. In den katholischen Orten entstanden Schützenbruderschaften, deren Mitglieder die Pflicht hatten, an Jahrzeiten, Prozessionen und Leichengeleiten teilzunehmen.

19. und 20. Jahrhundert

Eine Unterbrechung erfuhr das organisierte Schützenwesen nach dem Untergang der alten Eidgenossenschaft. In der Mediation und vor allem mit dem ersten eidgenössischen Schützenfest und der Gründung des Eidgenössischen Schützenvereins 1824 in Aarau nahm es einen erneuten Aufschwung. Die nach 1824 jährlich, ab 1830 im Zwei- bis Dreijahresturnus stattfindenden eidgenössischen Schützenfeste entwickelten sich insbesondere in der Regenerationszeit zu Foren der liberalen Erneuerungsbewegung und führten vornehmlich in den liberalen Kantonen zur Gründung zahlreicher Schützenvereine, die nach 1831 meist auch staatlich unterstützt wurden. Sie hatten zugleich eine nationalpolitische und eine paramilitärische Funktion. Ihre Mitglieder griffen zum Teil mit der Waffe in der Hand in die politischen Auseinandersetzungen vor 1848 ein, so etwa bei der liberalen Revolution von 1839 und der gescheiterten konservativen Gegenrevolution von 1841 im Tessin. In der deutschen Schweiz nahmen ganze Schützengesellschaften an den Freischarenzügen von 1844 bis 1845 teil. In den 1840er Jahren waren die Schützenfeste, literarisch dargestellt in Jeremias Gotthelfs Romanfragment «Der Herr Esau» (postum 1922) und Gottfried Kellers Novelle «Das Fähnlein der sieben Aufrechten» (1861), Orte heftiger Auseinandersetzungen zwischen radikalliberalen und konservativen Kräften. Sie wurden denn auch von den katholisch-konservativen Kantonen zunächst boykottiert. Die Etablierung in den ehemaligen Sonderbundskantonen gelang erst, nachdem im Zeichen einer nationalen Versöhnungspolitik 1861 in Stans unter dem Patronat des Bundesrats, aber gegen den Widerstand der Nidwaldner Kantonsregierung und des lokalen Klerus das 20. eidgenössische Schützenfest durchgeführt worden war.

Innenansicht der Festhalle des Schützenfests in Genf 1887. Aufnahme eines unbekannten Fotografen (gta Archiv/ETH Zürich, Foto- und Bildsammlung).
Innenansicht der Festhalle des Schützenfests in Genf 1887. Aufnahme eines unbekannten Fotografen (gta Archiv/ETH Zürich, Foto- und Bildsammlung). […]

Nach der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht 1848 wurde in der Militärorganisation von 1874 auch die ausserdienstliche Schiesspflicht durchgesetzt und die Schützenvereine mit der Durchführung der Schiessübungen betraut. Nun entstanden nach und nach in fast allen Orten der Schweiz Schützenstände. Seit dem eidgenössischen Schützenfest 1872 in Zürich wurde die Distanz einheitlich auf 300 m festgelegt. Geschossen wurde mit Hinterladern wie dem Vetterligewehr und dem Martinistutzer. 1911 bzw. 1931 wurden die Karabiner (Modell 11 bzw. 31) als Einheitswaffe eingeführt, 1957 bzw. 1990 die Sturmgewehre der Schweizerischen Industrie-Gesellschaft zur Ordonnanzwaffe erklärt. Die neue Militärorganisation von 1907 brachte die jährlichen Schiessübungen für alle Wehrpflichtigen. Mit einem Kreisschreiben des Militärdepartements von 1908 wurde den Schützenvereinen die Organisation des obligatorischen Schiessens übertragen und die Aktivmitgliedschaft der Wehrpflichtigen in einem Schützenverein verfügt. Die Schützenvereine übernahmen auch die Durchführung der vom Militärdepartement 1909 initierten Jungschützenkurse. Damit war die Verbindung von ziviler staatsbürgerlicher und militärischer Schützenkultur hergestellt, die auch aufgrund der äusseren Bedrohung in den zwei Weltkriegen und der faktischen Zwangsmitgliedschaft in den Schützenvereinen für fast ein Jahrhundert Bestand hatte. Ab den 1970er Jahren fand diese männlich bestimmte Vorstellung einer Einheit von Bürger und Soldat immer weniger Widerhall. Nachdem der Bundesrat die Pflichtmitgliedschaft in einem Schützenverein 1996 aufgehoben hatte, gingen auch die Mitgliederzahlen im Schweizerischen Schützenverein, die bis 1986 (588'401 Mitglieder) laufend zugenommen hatten, rapide zurück (1997 229'371 Mitglieder, 2009 149'977 Mitglieder). Die 1885 anlässlich des eidgenössischen Schützenfests gegründete Schützenstube in Bern entwickelte sich zum Schweizerischen Schützenmuseum (1914), welches das nationale Schiesswesen seit dem 19. Jahrhundert dokumentiert.

Plakat für das eidgenössische Schützenfest in Bellinzona vom Juli 1929, gestaltet im Atelier Jacomo (Schweizerische Nationalbibliothek, Bern).
Plakat für das eidgenössische Schützenfest in Bellinzona vom Juli 1929, gestaltet im Atelier Jacomo (Schweizerische Nationalbibliothek, Bern). […]

Obwohl der Wettkampf im Schützenwesen seit dem Mittelalter eine Rolle spielt, löste er sich erst mit dem Aufkommen der Sportbewegung vom militärisch geprägten Schützenwesen ab. In der Schweiz war dieser Prozess durch die internationale Entwicklung mitbestimmt, etwa die Erhebung des Schiessens zur olympischen Disziplin 1896 in Athen, die Einführung des internationalen Matches 1897 und die Gründung der Internationalen Schützenunion 1907 (seit 1998 International Shooting Sport Federation). Im 20. Jahrhundert schlug sich dies in einer allmählichen Trennung von militärisch geprägten Schiessanlässen wie dem Obligatorischen und dem eidgenössischen Feldschiessen und sportlichen Schiesswettkämpfen, vielen neu gegründeten Schiesssportvereinen und einer waffentechnischen Differenzierung nieder. Nach verschiedenen Fusionen erfolgte die Umbenennung des Eidgenössischen Schützenvereins 1996 in Schweizerischer Schützenverband und 2002 in Schweizer Schiesssportverband. Ganz dem Sport verpflichtet war Anfang des 21. Jahrhunderts das Armbrust- und Bogenschiessen.

Quellen und Literatur

  • G.J. Peter, Zur Gesch. des zürcher. Wehrwesens im XVII. Jh., 1907
  • J. Steinemann, Reformen im bern. Kriegswesen zwischen 1560 und 1653, 1920
  • Gedenkschrift zum 100jährigen Jubiläum des Schweiz. Schützenvereins, 1824-1924, 1924
  • B. Henzirohs, Die eidg. Schützenfeste 1824-1849, 1976
  • H.R. Kurz, «Oran. Heeresreform wies den Weg», in Bull. der Schweiz. Ges. für hist. Waffen- und Rüstungskunde 13, 1978, 1-16
  • F. Walter, Niederländ. Einflüsse auf das eidg. Staatsdenken im späten 16. und frühen 17. Jh., 1979
  • W. Meyer, «Wettkampf, Spiel und Waffenübung in der spätma. Eidgenossenschaft», in Schweiz. Beitr. zur Sportgesch. 1, 1982, 9-18
  • Centenario del Tiro federale, Lugano, 1883-1983, 1983
  • T. Michel, Schützenbräuche in der Schweiz, 1983
  • P. Schmid, 1824-1999: 175 Jahre Schweiz. Schützenverband, 1999
Weblinks

Zitiervorschlag

HLS DHS DSS: "Schützenwesen", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 09.03.2015. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/008701/2015-03-09/, konsultiert am 29.03.2024.