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LocarnoPieve, Vogtei, Bezirk

Mit dem Namen Locarno wurden vom Frühmittelalter an unterschiedliche geografische und verwaltungsmässige Einheiten bezeichnet: Neben dem Flecken und seinem See trugen die mittelalterliche Grosspfarrei (Pieve), nach der Eroberung des Tessins durch die Eidgenossen eine der ennetbirgischen Landvogteien (1516-1798) und der 1803 geschaffene Bezirk den Namen Locarno.

Pieve

Das Gebiet der Pieve Locarno umfasste das rechte Ufer des Langensees bis Ronco sopra Ascona, die Täler Maggia, Onsernone, Verzasca und Centovalli, die Magadinoebene bis Cugnasco und Contone sowie das Gambarogno. Sie war in die sieben Landdekanate Locarno, Ascona, Loco, Vira, Cevio, Maggia und Vogorno unterteilt. Die Bildung von Pfarreien begann vor 1000. Bis 1002/1004 gehörte die Pieve zur Erzdiözese Mailand, anschliessend zum Bistum Como mit Ausnahme der Jahre 1582-1588, als Locarno der Diözese Novara zugeteilt war. Die Pfarrkirche der Pieve war San Vittore in Muralto.

Die Pieve Locarno fiel mit der weltlichen Gebietskörperschaft der Landschaft (comunitas) von Locarno und Ascona zusammen, die ab dem Frühmittelalter bezeugt ist. Sie bestand aus Nachbarschaften (vicinanze), die gemeinsame Güter (Alpen, Weiden, Wälder, Kirchen) verwalteten und eigene Beamte mit Steuer- und Polizeibefugnissen hatten. Die Einwohner des Fleckens Locarno gehörten je nach ihrem sozialen Status zur Korporation der Adligen oder zur Korporation der Bürger. Im 16. Jahrhundert erhielten einige im Flecken niedergelassene Familien das Bürgerrecht und bildeten fortan die dritte Korporation der Landsassen. Die Adels- und die Bürgerkorporation beherrschten den Rat. 1365 bestand dieser aus 27 Mitgliedern, im 15. Jahrhundert wurde er auf 21 reduziert: Vier Sitze waren den Bürgern zugeteilt, sechs den Adligen (bzw. fünf im folgenden Jahr), zwei den Landsassen (bzw. drei), acht den Aussengemeinden, einer dem Adelsgeschlecht der Duno (später der Trevani und ab 1771 der Nessi). Der Rat wählte die Landschaftsbeamten, vertrat die Einwohner vor der Landesherrschaft und verwaltete die Infrastrukturen der Region. Die Landschaft Locarno wurde 1804 aufgelöst, aber ein Rat der ehemaligen comunitas behielt einige ihrer Funktionen bis nach 1850 bei. Die Nachbarschaften lebten teilweise in den Bürgergemeinden (patriziati) weiter.

Die Pieve Locarno wurde nach 569 von den Langobarden der judiciaria von Stazzona (Angera) im Herzogtum Mailand zugeteilt. 866 ist ein von einem Burgvogt regierter Königshof nachgewiesen. Später wurde Locarno Teil der von Guido da Spoleto geschaffenen lombardischen Mark; diese gab der Bischof von Como den Edeln von Besozzo später zu Lehen. 1164 gewährte Friedrich Barbarossa Locarno einen neuen Markt und bestätigte dem Adel den Titel der Capitanei und die Nutzniessung des honor (Abgabenerhebungsrecht) und des districtus (Gerichtsgewalt), allerdings nicht als grundherrschaftliche Rechte. 1186 verlieh er den Bewohnern von Locarno die Reichsunmittelbarkeit. In Locarno entwickelte sich folglich eine dualistische Gesellschaft: auf der einen Seite der Adel mit dem Recht auf Erhebung und Nutzniessung von Regalien, Zehnten, Zöllen und Weggeldern, Marktgebühren, Alp- und Weiderechten (z.B. in der Magadinoebene, zur einen Hälfte Eigentum der Adligen, zur anderen Eigentum der Bürger, der Nachbarschaft Minusio, der Orelli und ab 1547 auch der Landsassen), von Holz-, Fisch- und Jagdrechten, mit dem Recht auf die Abgaben der Drechsler und dem Recht zur Betreibung von Mühlen und Sägereien; auf der anderen Seite die Nachbarschaften der Einwohner, Eigentümer von Grund und Boden mit Ausnahme der Königs- und Kirchengüter.

Zwischen 1249 und 1318 wurde Locarno abwechselnd von der Kommune Como und dem Mailänder Condottiere Simone Orelli regiert. Gegen 1318 konnte sich die Landschaft Locarno mit ihren Capitanei selbstständig machen, aber 1342 wurde sie von Mailand erobert und der Gerichtsbarkeit des Hauptmanns vom Langensee unterstellt und von einem Podestà regiert. 1411/1412 schlossen sich das Maggia- und Verzascatal sowie die Nachbarschaft Mergoscia zu einer unabhängigen Gemeinde zusammen, aber 1422 brachte Filippo Maria Visconti wieder die ganze Landschaft unter mailändische Herrschaft. 1439-1513 wurde Locarno als Lehen der Visconti von den Rusca beherrscht. 1495 bot Frankreich den Eidgenossen im Austausch für militärische Hilfe gegen Mailand unter anderem auch Locarno an. Da dieser Handel aber nicht zustande kam, entbrannte der Konflikt um Locarno erneut. Das Schloss Locarno widerstand einem Belagerungsversuch der Eidgenossen, aber nach der Schlacht von Novara 1513 befahl Ludwig XII. seine Übergabe.

Landvogtei

Der Frieden von Freiburg 1516 bestätigte den Eidgenossen den Besitz von Locarno, das gemeine Herrschaft der Zwölf Orte wurde. Das Maggiatal wurde aus der Landvogtei ausgegliedert, Brissago dieser aber – unter Gewährung einer gewissen Autonomie – einverleibt, während Gambarogno und Verzasca separate Gemeinden innerhalb der Vogtei bildeten. Ein Landvogt (commissario), der im Turnus von einem der Zwölf Orte ernannt wurde, übte administrative, militärische, richterliche und polizeiliche Funktionen aus. Ihm zur Seite stand ein aus einem Kanzler, einem Statthalter, einem Fiskal und einem Malefizschreiber gebildetes Amt. Die Verwaltung der Vogtei wurde jährlich vom Syndikat, das aus den Gesandten der Zwölf Orte bestand, kontrolliert. Bei wichtigen Entscheidungen konsultierte der Vogt jeden der Zwölf Orte, in dringlichen Fällen nur die Provisionalorte Zürich, Luzern, Uri und seinen Herkunftsort. Das Malefizgericht bestand aus dem Vogt (sieben Stimmen), sieben von der Landschaft gewählten Mitrichtern (mit je einer Stimme) und dem Amt (Konsultativstimme). Über kleinere Delikte und die Zivilrechtsfälle richteten der Landvogt und sein Statthalter. In den separaten Gemeinden war der Podestà oder der Konsul die erste Zivilinstanz; bei Appellationen wandte man sich an das Syndikat oder holte die Meinung der einzelnen Orte ein. Vorrechte der Landschaft Locarno waren der Einzug von Bussen für kleine Übertretungen, das Recht der Verwandten, in Streitfällen an Schiedsrichter zu gelangen, die Wahl des Sanitätsrats und der Proviantrichter (Lebensmittelpolizei), die Festsetzung des Wechselkurses, der Masse und Gewichte sowie die Freiheit des Salzhandels.

Bezirk

1798 erhielt die Landvogtei auf Veranlassung der Zwölf Orte die Freiheit und nahm die helvetische Verfassung an. Sie wurde dem Kanton Lugano zugeteilt. Der Bezirk Locarno wurde mit der Tessiner Mediationsverfassung von 1803 geschaffen. Er setzt sich gegenwärtig aus 40 Gemeinden (ursprünglich 47) zusammen und ist in sieben Kreise unterteilt. Gebietsmässig deckt er sich mit der ehemaligen Landvogtei. Bezirkshauptort ist die Stadt Locarno.

Quellen und Literatur

  • K. Meyer, Die Capitanei von Locarno im MA, 1916
  • G. Wielich, Das Locarnese im Altertum und MA, 1970
  • Kdm TI 1, 1972, 3-17
  • Sintesi dell'evoluzione demografica ed economica, 1977
  • G.G. Nessi, Memorie storiche di Locarno fino al 1660, 21985 (Neudr. der Ausg. von 1854)
Weblinks
Normdateien
GND

Zitiervorschlag

Rodolfo Huber: "Locarno (Pieve, Vogtei, Bezirk)", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 18.11.2014, übersetzt aus dem Italienischen. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/008544/2014-11-18/, konsultiert am 19.03.2024.