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BellinzonaPieve, Vogtei, Bezirk

Im Mittelalter und in der Neuzeit Pieve und Grafschaft bzw. 1503-1798 eidgenössische Vogtei, seit 1803 Bezirk des Kantons Tessin.

Mittelalter

Auch wenn eindeutige Belege fehlen, so weisen doch Indizien auf sehr frühe Anfänge der Pieve Bellinzona hin. Das Petrus-Patrozinium – die erste Erwähnung einer ecclesia Sancti Petri datiert von 1168 – ist ein Hinweis, dass die erste Kirche von Bellinzona in der Spätantike oder in den Anfängen der Völkerwanderung (5.-6. Jh.) entstanden sein könnte. Entlang den Strassen, die von der Poebene in die Alpentäler führen, befinden sich viele dem heiligen Petrus geweihte Kirchen. Dieser Apostel scheint von den Langobarden, die schon 590 als Besitzer des Kastells bezeugt sind, besonders verehrt worden zu sein. Wenn auch die genaue Lage des ersten Gotteshauses noch nicht bekannt ist, so besteht doch ein Konsens darüber, dass die Kirche im befestigten Bereich des Kastells stand, das die Römer im 4. Jahrhundert auf dem Hügel des Castel Grande errichtet hatten. Der Friedhof, der bei den archäologischen Untersuchungen 1967 im Osthof der Festung gefunden wurde, könnte in Zusammenhang mit dieser Festungskirche gestanden haben, die gegen Ende des 13. Jahrhunderts aufgegeben und als Stiftskirche mit den dazugehörenden Chorherrenhäusern im darunter gelegenen Ort Bellinzona neu aufgebaut wurde. Diese Verlegung war wohl eine Folge veränderter Strukturen: Der verfügbare Platz auf dem Kastellhügel dürfte eng geworden sein, während sich zugleich die städtische Siedlung am Hügelfuss entfaltete. Die früher vorgeschlagene Identifikation der Taufkirche von Bellinzona mit der ausserhalb der Mauern an der Hauptverkehrsachse gelegenen Kirche San Biagio in Ravecchia wird heute von der Forschung abgelehnt. Um die Hypothese einer Taufkirche auf dem Hügel des Castel Grande zu festigen, können auch aus späterer Zeit (12.-13. Jh.) stammende Zeugnisse herangezogen werden, die sich auf Gebäude wie zum Beispiel die innerhalb der Kastellmauern gelegenen Priesterwohnungen beziehen.

Die Geschichtswissenschaft hat allgemein die von Gotthard Wielich formulierte Hypothese akzeptiert, wonach die Pieve Bellinzona zusammen mit den Pieven Locarno und Agno zwischen 1002 und 1004 dem Bischof von Como übergeben wurde. Dies bedeutete die endgültige Loslösung Bellinzonas von den mailändischen Ursprüngen und eine tiefgreifende Veränderung der mittelalterlichen Diözesanstruktur im südlichen Alpenvorland. Von da an erstreckte sich die Herrschaft des Bischofs von Como auf einen guten Teil des späteren Kantons Tessin, während Mailand sich auf die Kontrolle der Ambrosianischen Täler beschränkte.

Die eher kleine Pieve Bellinzona umfasste das Territorium der gleichnamigen sogenannten Grafschaft (Vogtei) Bellinzona, des mittelalterlichen comitatus, der wahrscheinlich aus einer spätantiken Bezirkseinteilung entstanden war. Sie war nicht, wie andere Pieven (Balerna, Agno, Biasca), Aufteilungsversuchen ausgesetzt und überdauerte, gerade wegen ihres geringen Umfangs, das ganze Mittelalter, ehe sich zu Beginn der Neuzeit die bäuerlichen Gemeinden der Grafschaft Bellinzona von der Mutterkirche lösten und eigene Pfarreien errichteten. Wie die andern alten Pfarrkirchen des südlichen Alpenrands erhielt auch diejenige von Bellinzona bereits im 12. Jahrhundert den Status eines Kollegiatsstifts. Zu Beginn des 13. Jahrhunderts umfasste das mit pfarrrechtlichen Privilegien ausgestattete Kapitel einen Erzpriester und sechs Chorherren. 1371 aufgestellte Kapitelsstatuten wurden 1440 erneuert und bestätigt.

Neuzeit

Miniatur aus der Chronik Zirkel der Eidgenossenschaft von Andreas Ryff, 1597 (Musée historique de Mulhouse; Fotografie Christian Kempf, Colmar).
Miniatur aus der Chronik Zirkel der Eidgenossenschaft von Andreas Ryff, 1597 (Musée historique de Mulhouse; Fotografie Christian Kempf, Colmar). […]

Mit dem Vertrag von Arona von 1503 gingen die Stadt Bellinzona und das Gebiet der Pieve bzw. Grafschaft Bellinzona an die eidgenössischen Orte Uri, Schwyz und Nidwalden über; de facto war Bellinzona schon seit April 1500 von den Eidgenossen kontrolliert worden. 1501-1798 wurden die Stadt und Grafschaft Bellinzona im Turnus von einem Vertreter der neuen Herrschaft verwaltet, dem Landvogt oder Kommissar, der aus einem der drei regierenden Orte stammte und zwei Jahre im Amt blieb. Er repräsentierte die höchste politische, juristische und militärische Gewalt in der Vogtei und erhielt als Entschädigung für seine Amtspflichten einen festen Lohn von der Stadtgemeinde Bellinzona. Hinzu kamen Taxen für seine Verwaltungserlasse und ein Teil der Bussgelder. Bei der Amtsführung konnte der Landvogt auf eine Reihe von Beamten zurückgreifen. Von diesen stammten der Fiskal, der Stadtschreiber und der Statthalter (Letzterer wurde direkt durch den Landvogt ernannt) aus der Stadt Bellinzona. Der Landschreiber hingegen, der das zweithöchste Amt bekleidete, kam ebenfalls aus einem der regierenden Orte. Als Garant der Gesetzlichkeit nahm der Landvogt an den Sitzungen des städtischen Rats teil. Er überwachte den allgemeinen Verwaltungsbetrieb und die Einhaltung der Verordnungen, vor allem derjenigen, die den Handel und die Verkehrswege betrafen, denn von Letzteren hing der Wohlstand Bellinzonas und der regierenden Orte weitgehend ab. Dieses Regierungssystem blieb praktisch unverändert bis zum April 1798, als die drei eidgenössischen Orte nach dem Einfall der französischen Truppen in die Eidgenossenschaft auf die Herrschaft über die ennetbirgischen Vogteien verzichteten.

Mit der Mediationsakte von 1803 wurde Bellinzona Hauptstadt des Kantons Tessin (bis 1878 abwechselnd mit Lugano und Locarno) und Hauptort des Bezirks Bellinzona. Dessen Grenzen entsprachen denjenigen der ehemaligen Vogtei. Die Bezirksgrenze deckt sich im Norden mit derjenigen der Gemeinde Moleno, im Westen mit der Wasserscheide zum Verzascatal. Im Osten folgt sie dem Lauf des Tessins bis zur Gemeinde Gnosca. Dort überquert sie den Fluss, folgt dann der östlichen Kantons- bzw. Landesgrenze und umschliesst auch das Valle Morobbia. Im Süden folgt sie den Südgrenzen der Gemeinden Isone und Medeglia bis westlich des Monte Ceneri und führt dann westlich von Cadenazzo und Gudo quer über die Magadinoebene nach Norden. Zum ca. 210 km² grossen Bezirk Bellinzona gehörten zu Beginn des 21. Jahrhunderts 19 Gemeinden, so Bellinzona, Arbedo-Castione, Cadenazzo, Camorino, Giubiasco, Gnosca, Gorduno, Gudo, Isone, Lumino, Medeglia, Moleno, Monte Carasso, Pianezzo, Preonzo, Robasacco, Sant'Antonino, Sant'Antonio und Sementina. Nach den Fusionen verringerte sich ihre Zahl bis 2017 auf sechs Gemeinden.

Quellen und Literatur

Mittelalter
  • HS II/1, 66-70
Neuzeit
  • E. Pozzi-Molo, L'amministrazione della giustizia nei baliaggi appartenenti ai cantoni primitivi: Bellinzona, Riviera, Blenio e Leventina, 1953
  • G. Pometta, Briciole di storia bellinzonese, 1977
Weblinks
Normdateien
GND

Zitiervorschlag

Giuseppe Chiesi; Pablo Crivelli: "Bellinzona (Pieve, Vogtei, Bezirk)", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 05.04.2017, übersetzt aus dem Italienischen. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/008540/2017-04-05/, konsultiert am 13.04.2024.