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Philosophie

Es gibt eine Vielzahl nennenswerter philosophischer Aktivitäten in der Schweiz, jedoch weder eine von der Schweiz ausgehende wirkungsmächtige philosophische Strömung noch eine als schweizerisch zu bezeichnende philosophische Lehre oder Schule. Dass sich immerhin ein schweizerisches Philosophieren (u.a. gekennzeichnet durch sachorientiertes Denken und die Aversion gegen spekulative Philosophie) ausmachen lässt, wird da und dort behauptet, ist aber umstritten. Es steht ausser Zweifel, dass das philosophische Schaffen in der Schweiz kulturgeschichtlich bedingte Besonderheiten aufweist, etwa das Vermitteln zwischen deutscher und französischer Philosophie.

Die Ursprünge institutioneller Philosophie im Gebiet der Schweiz gehen auf die Scholastik zurück, die sich durch aristotelische, neuplatonische und christliche Grundideen auszeichnet. Im 10. und 11. Jahrhundert entwickelte sich in St. Gallen auf Anregung von Notker dem Deutschen eine expansive Schultätigkeit. In den Lehrbüchern seines Kreises wurden logische Regeln mustergültig in deutscher Sprache ausformuliert. Im 12. und 13. Jahrhundert war die Klosterschule Engelberg unter den Äbten Frowin und Berchtold philosophisch aktiv. Inspiriert von Pierre Abaelard befasste sich Frowin eingehend mit dem Problem der Willensfreiheit. Von ihrer Gründung 1460 bis zur Reformation war schliesslich die älteste Hochschule auf schweizerischem Gebiet, die Universität Basel, wichtiger Ausgangspunkt scholastischen Denkens. Sie sorgte unter anderem für die Ausbreitung der nach Petrus Hispanus gelehrten Logik. In der frühen Neuzeit lehrten die Jesuiten das scholastische Gedankengut.

Frontispiz und Titelseite der zweiten Auflage des Werks Logique von Jean-Pierre de Crousaz, 1737 (Schweizerische Nationalbibliothek, Bern).
Frontispiz und Titelseite der zweiten Auflage des Werks Logique von Jean-Pierre de Crousaz, 1737 (Schweizerische Nationalbibliothek, Bern). […]

Eine markante Phase schweizerischen Philosophierens begann im 16. Jahrhundert. Durch das Wirken des Erasmus von Rotterdam gingen von Basel entscheidende Impulse für die humanistische und reformatorische Erneuerung der antiken und christlichen Philosophie aus. Zudem machte sich, angeregt durch Theophrastus Paracelsus, auf schweizerischem Gebiet die theosophisch-naturphilosophische Neubegründung der Scholastik bemerkbar. Mit den zu einer Religion des natürlichen Gottesglaubens drängenden Ideen Huldrych Zwinglis und Johannes Calvins hielten sodann an einigen Hohen Schulen Strömungen der neuzeitlichen Philosophie Einzug. Im 16. Jahrhundert gewann in Basel und Bern die antiaristotelisch auftretende Philosophie des Petrus Ramus (Theodor Zwinger und Johann Thomas Freigius), im 17. und frühen 18. Jahrhundert in Basel und in der Westschweiz der Cartesianismus an Bedeutung (Samuel Werenfels, Jean-Robert Chouet und der frühe Jean-Pierre de Crousaz). Im Zuge dieser Entwicklung etablierte sich im 18. Jahrhundert in der deutschsprachigen reformierten Eidgenossenschaft die System-Philosophie von Christian Wolff.

Die Aufklärung des 18. Jahrhunderts, die den katholischen und reformierten Ansichten einer göttlichen Ordnung Vorstellungen von autonomer Vernunft und der Vervollkommnung der natürlichen und geistigen Anlagen des Menschen gegenüberstellte, ging auch in eidgenössischen Zentren mit einem äusserst fruchtbaren philosophischen Schaffen einher. Dieses wurde insbesondere durch die Gelehrten Gesellschaften und Clubs belebt, aber auch durch die aufstrebende Naturforschung und die Anthropologie (Albrecht von Haller, Charles Bonnet, Johann Jakob Scheuchzer), die überdies wesentliche Grundlagen des neuen Denkens bereitstellten. Insgesamt hat die Schweiz in dieser Zeit erheblichen Anteil an der französischen, englisch-schottischen und deutschen Aufklärung. Im In- und Ausland tätige Schweizer schufen anerkannte philosophische Arbeiten im Bereich der Erziehungslehre (Jean-Pierre de Crousaz, Beat Ludwig von Muralt, Karl Viktor von Bonstetten, Jean-Jacques Rousseau, Johann Heinrich Pestalozzi, Francesco Soave), der Theologie (Johann Kaspar Lavater), der Geschichtstheorie (Isaak Iselin), des Naturrechts (Jean Barbeyrac, Jean-Jacques Burlamaqui, Jean-Jacques Rousseau), der Ästhetik (Johann Jakob Bodmer, Johann Georg Sulzer) und der Logik (Leonhard Euler, Johann Jakob Breitinger, Johann Heinrich Lambert). Ende des 18. Jahrhunderts entfalteten sich in Bern, Zürich und in der Waadt auch die für die ethischen Ideale der Helvetik bedeutsam werdenden kritischen Vernunftlehren Immanuel Kants und Johann Gottlieb Fichtes (Johann Samuel Ith, Philipp Albert Stapfer, Jens Baggesen, Germaine de Staël, Benjamin Constant). Dank schweizerischer Übersetzungstätigkeit hatte Kants Philosophie in Frankreich rasch Erfolg. In der Schweiz hatten die Gedanken der Aufklärung auch eine ausgeprägte staatsphilosophische Seite und verfügten über einen starken Rückhalt in der politischen Elite.

Im 19. Jahrhundert setzte mit dem Ausbau der Hohen Schulen zu Universitäten in Zürich, Bern, Genf, Lausanne und Neuenburg ein Schub der Professionalisierung der philosophischen Lehrtätigkeit ein. Der seit der frühen Neuzeit auf Vorlesung und Disputation abgestützte Unterricht wich einer differenzierteren und mit neuen Prioritäten (Fachstudium statt Universalbildung) versehenen Lehrform. In der gesamten Schweiz dominierten die deutsche Philosophie und französische Denkansätze, die dem deutschen Idealismus nahestanden (z.B. jener von François-Pierre Maine de Biran). Über die erste Hälfte des Jahrhunderts hinaus standen die Freiheitsphilosophie Kants und Fichtes, die Naturphilosophie Friedrich Wilhelm Joseph von Schellings sowie die Geistphilosophie Georg Wilhelm Friedrich Hegels hoch im Kurs (Ignaz Paul Vital Troxler, Carl Hebler, Alexandre Vinet, Charles Secrétan, Ernest Naville, Henri-Frédéric Amiel).

In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts stiessen aufgrund des Wirkens namhafter deutscher Denker an Schweizer Universitäten (Friedrich Albert Lange, Wilhelm Windelband, Wilhelm Dilthey und Friedrich Nietzsche) der Neukantianismus und die Lebensphilosophie auf beträchtliche Resonanz. Mit der Gründung des schweizerischen Bundesstaates stellte sich ein Kompromiss zwischen konservativen und liberalen Kräften ein, der sich auf die Akzeptanz gegensätzlicher philosophisch-theologischer Ansichten positiv auswirkte. In der reformierten Westschweiz erstarkte ein ethisch-religiöser Idealismus. Diese philosophische Bewegung, die sich zum Teil der sozialen Frage zuwendete, führte 1868 zur Gründung der bis heute bestehenden "Revue de Théologie et de Philosophie". Die nach der Reformation wesentlich in Freiburg, Luzern, Chur, Lugano und im Wallis gelehrte katholische Theologie und Philosophie verschaffte sich mit der Wende zur neuscholastisch-thomistischen Philosophie erneut Geltung. An der 1889 gegründeten Universität Freiburg wurde der Philosophieunterricht dem Dominikanerorden übertragen (Gallus Maria Manser, Norbert A. Luyten, Arthur Fridolin Utz). 1923 erfolgte die Gründung der Zeitschrift "Divus Thomas", die seit 1954 als "Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie" erscheint. Ab Mitte des 20. Jahrhunderts lockerte sich an der Universität Freiburg wie auch an der im Jahr 2000 zur Universität erweiterten Hochschule Luzern die Bindung der Philosophie an die offizielle Lehre. Auch Schweizer Philosophen lieferten im 19. Jahrhundert philosophisch-wissenschaftliche Beiträge richtungsweisender Natur, so in der Sprachphilosophie Ferdinand de Saussure und Anton Marty.

Noch bis Mitte des 20. Jahrhunderts stand die Philosophie in der Schweiz im Banne der philosophischen Hauptströmungen in Deutschland und Frankreich. Nach dem Zweiten Weltkrieg verstärkte sich die Ausrichtung auf den Neupositivismus (Positivismus), der vom Wiener Kreis ausging und in der Folge im anglo-amerikanischen Sprachraum zu verschiedenen Ansätzen der analytischen Philosophie weiterentwickelt wurde. Die Erfahrung des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs führte zudem zur Besinnung auf die eigentlichen Aufgaben der Philosophie und zum Wunsch, sich auf organisatorischer Ebene ein eigenständigeres Profil zu geben. 1940 entstand als Dachverband kantonaler und regionaler philosophischer Sozietäten die Schweizerische Philosophische Gesellschaft, die seither mit der 1941 gegründeten Zeitschrift "Studia philosophica" an die Öffentlichkeit tritt. 1947 wurde auf Initiative Paul Bernays und Ferdinand Gonseths die Zeitschrift "Dialectica" und 1948 die Schweizerische Gesellschaft für Logik und Philosophie der Wissenschaften ins Leben gerufen. Wie in anderen europäischen Ländern ist seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die sozialpolitisch konnotierte Polarisierung von hermeneutischem (bzw. dialektischem) und analytischem Denken ein wichtiger Antrieb des philosophischen Fortschritts. Als Folge des ökologischen Denkens und neuer technologischer Schübe verstärkte sich Ende des 20. Jahrhunderts das Interesse an angewandter Ethik. In Zürich, St. Gallen, Basel und in Genf wurden Ethikinstitute gegründet. Die Besinnung auf das eigene Schaffen erfährt heute durch die 1991 gegründete Schweizerische Gesellschaft zur Erforschung des 18. Jahrhunderts eine Fortsetzung. Breitere Anerkennung finden Beiträge von Schweizern oder in der Schweiz lehrenden Philosophen auf dem Gebiete der Logik und Wissenschaftstheorie (Joseph M. Bochenski), der Erkenntnistheorie (Jean Piaget), der Ontologie und Anthropologie (Paul Häberlin), der Existenzphilosophie (Karl Jaspers, Heinrich Barth, Ludwig Binswanger) sowie der politischen Philosophie (Jeanne Hersch, Hermann Lübbe, Hans Saner).

Quellen und Literatur

  • Philosophie in der Schweiz, 1946
  • A. Tumarkin, Wesen und Werden der schweiz. Philosophie, 1948
  • A. de Muralt, Philosophes en Suisse française, 1966
  • P. Good, «Das soziale Geschehen der Philosophie in der Schweiz von 1900-1977», in Studia philosophica 37, 1977, 295-354
  • Philosophie in der Schweiz, hg. von M. Meyer, 1981
  • H. Lauener, Zeitgenöss. Philosophie in der Schweiz, 1984
  • R. Imbach, «Thomist. Philosophie in Freiburg», in Menschen und Werke, 1991, 85-113
  • C. Dejung, Philosophie aus der Schweiz, 1994
  • Ethik in der Schweiz, hg. von H. Holzhey, P. Schaber, 1996
  • F. Minazzi, «La filosofia in Svizzera», in Storia della filosofia, hg. von G. Paganini, 11, 1998, 1187-1258
  • Artisten und Philosophen, hg. von R.C. Schwinges, 1999
  • M. Bondeli, Kantianismus und Fichteanismus in Bern, 2001
  • W. Rother, «Die Hochschulen in der Schweiz», in Das Hl. Röm. Reich Dt. Nation, hg. von H. Holzhey et al., 2001, 447-474
Weblinks

Zitiervorschlag

Martin Bondeli: "Philosophie", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 20.11.2013. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/008427/2013-11-20/, konsultiert am 18.04.2024.