de fr it

Ingenieurwesen

Das Ingenieurwesen umfasst die Gesamtheit des Könnens und Wissens der Ingenieure. Es erscheint selten als Ganzes, sondern in den Leistungen der einzelnen Disziplinen, die sich aus nationalen Eigenheiten ergeben. In der Schweiz bildeten sich als Hauptrichtungen das Bauingenieurwesen (Bauwesen), der Maschinenbau (Maschinenindustrie), die Elektrotechnik, die Technische Chemie, die Informatik und die Biotechnologie heraus. Das Wort Ingenieur tauchte erstmals im Mittelalter auf und bezeichnete im 14. Jahrhundert jene italienischen Fachleute, die aus militärischen und bautechnischen Erfahrungen neuartige städtische Befestigungen errichteten (Stadtbefestigungen). In dieser eingeschränkten Bedeutung verbreitete sich der Begriff dann in andere Sprachen. Im Zuge der Industrialisierung entwickelten sich neue Disziplinen, deren Vertreter sich trotz ihrer nun vorwiegend zivilen Ausrichtung als Ingenieure bezeichneten. Ihre Gliederung folgte nicht mehr dem traditionellen Handwerk und den Zünften, sondern den neu geschaffenen technischen Schulen (Technikum, Eidgenössische Technische Hochschulen, ETH) und Berufsverbänden. Die Zahl der Spezialrichtungen wuchs seither ständig an, wobei gleichzeitig stets die Forderung nach Orientierung an einem grösseren Ganzen bestand. Das Ingenieurwesen in der Schweiz steht in den italienischen, französischen und deutschen Traditionen, die sich im 19. Jahrhundert vor allem durch die technische Ausbildung von der angelsächsischen unterschieden. Die jüngsten Disziplinen sind konstituierende Teile einer wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung von globalem Ausmass.

Von der Kriegsbaukunst zu den zivilen Anfängen (16.-18. Jahrhundert)

Befestigungsplan der Stadt Yverdon, aufgestellt 1699 von Pierre Willommet im Auftrag der Berner Obrigkeit (Staatsarchiv Bern).
Befestigungsplan der Stadt Yverdon, aufgestellt 1699 von Pierre Willommet im Auftrag der Berner Obrigkeit (Staatsarchiv Bern). […]

Im 16. Jahrhundert wurde unter Ingenieurwesen das gleiche verstanden wie unter dem Begriff Kriegsbaukunst (damals auch architectura militaris genannt). Zuvor hatte sich die Kriegstechnik durch die Feuerwaffen grundlegend verändert. Als Reaktion darauf entstanden ab dem 15. Jahrhundert neuartige Bauteile und Systeme von Stadtbefestigungen, sogenannte Bastionen. Ihre Schöpfer nannten sich Ingenieure. Sie waren von den Machthabern in ganz Europa begehrt, standen also im Dienst eines Landesherrn, Bürgerrats oder Feldherrn. Im Fall der Verteidigung bauten sie die Befestigung, im Fall eines Angriffs führten sie die Belagerung oder berieten den Befehlshaber. In diese Funktion kamen sie über den Militärdienst, teils als kriegserfahrene Offiziere, oder über das Handwerk als Steinmetz, Baumeister bzw. Architekt, wenn ihnen die Leitung des gesamten öffentlichen Bauwesens übertragen wurde.

Um den Festungsbau zu beherrschen, war es für die Ingenieure erforderlich, mit dem perspektivischen Zeichnen und der sogenannten Civil-Baukunst vertraut zu sein. Dazu mussten sie die Fächer Geometrie, Arithmetik und Mechanik gründlich beherrschen; empfohlen waren Kenntnisse in Geografie, Grammatik und Rhetorik. Ihr eigenes Wissen verbreiteten sie zunehmend schriftlich in Form von Zeichnungen und Traktaten. Ab Beginn des 18. Jahrhunderts fassten sie es systematisch zusammen und gaben solchen Sammlungen den Titel «Ingenieurwissenschaft».

Die eidgenössischen Orte begannen erst aufgrund der Bedrohungen während des Dreissigjährigen Krieges mit der technischen Erneuerung ihrer Befestigungen. Dazu zogen Städte Ingenieure aus dem In- und Ausland bei. Für ein System mit Bastionen entschieden sich Zürich (Johann Ardüser), Bern (Agrippa d'Aubigné, François Treytorrens, Wolf Friedrich Löscher), Basel (Agrippa d'Aubigné, Claude und Jean Flamand) und Solothurn (Michael Gross, Francesco Polatta, Sébastien Le Prestre de Vauban). Lausanne, Freiburg, Luzern, Zug, Rapperswil und St. Gallen behielten ihre von den Baumeistern mit Bollwerken und Wällen verstärkten Ringmauern bei, während Schaffhausen über den 1564-1589 neu gebauten Munot verfügte. Diese Städte hatten zwar Ingenieurgutachten eingeholt (Pietro Morettini), verschoben aber den Ausbau aus finanziellen, militärischen oder innenpolitischen Gründen. Andere beschränkten sich auf den Unterhalt oder duldeten eine Umnutzung. Einen eigenen Weg ging der 1536-1798 unabhängige Stadtstaat Genf, der seine Befestigungen wegen der Angriffe Savoyens und seiner exponierten Lage kontinuierlich auf dem neusten Stand hielt (Agrippa d'Aubigné, Jacques-Barthélemy Micheli du Crest).

Im Staat Bern entstand im 18. Jahrhundert ein Netz von Kunststrassen, zu deren Errichtung die Obrigkeit Ingenieure beschäftigte (Abram-Henri Exchaquet, Pierre Bel, Antonio Maria Mirani). Als Geometer waren sie auch für die Herstellung von Karten und Plänen (Kartografie, Vermessung) zuständig. Diese Ingenieure waren fachlich vor allem von Frankreichs Genieoffizieren beeinflusst, die ab dem 17. Jahrhundert eigene Ingenieurkorps und Ingenieurschulen gegründet und so eine gesellschaftliche Vorrangstellung erlangt hatten (um 1675 Corps des ingénieurs du Génie militaire, um 1720 Corps des ponts et chaussées, 1747 Ecole des ponts et chaussées).

Ingenieurwesen der Moderne (19.-20. Jahrhundert)

Mit dem Umbruch der staatlichen Strukturen und der Industrialisierung entwickelte sich auch in der Schweiz ein modernes Ingenieurwesen. Auf politischem Weg förderten die Ingenieure die technische Ausbildung und schufen eine wissenschaftliche Grundlage nach französischem Vorbild. Daraus entstand – verbunden mit neuen Disziplinen – eine neue Identität des Berufsstandes.

Ausschnitt aus dem Panoramabild Die Schweiz, das Ferienland der Völker, das Hans Erni für die Landesausstellung 1939 in Zürich malte. Tempera auf Holz (Schweizerisches Nationalmuseum, Zürich).
Ausschnitt aus dem Panoramabild Die Schweiz, das Ferienland der Völker, das Hans Erni für die Landesausstellung 1939 in Zürich malte. Tempera auf Holz (Schweizerisches Nationalmuseum, Zürich). […]

Bis um die Mitte des 19. Jahrhunderts behielt das Ingenieurwesen seinen staatlichen Charakter bei. Es umfasste vor allem den Strassen- und Brückenbau, die Gewässerkorrektionen sowie die Anfertigung der Karten- und Vermessungswerke. Das Schwergewicht verschob sich in den zivilen Bereich, während die militärischen Bauaufgaben vom Genie- und Festungswesen der Eidgenossenschaft (Generalstab, Genietruppen) wahrgenommen wurden. Die Ingenieure entwickelten ihre technischen Kenntnisse vermehrt im Dienst der Kantone, sei es als Beamte oder im Auftragsverhältnis (Ignaz Venetz, Guillaume-Henri Dufour, Richard La Nicca, Francesco Meschini, Karl Emanuel Müller).

Die Linthkorrektion (1807-1816) und das Bedürfnis nach besseren Verkehrswegen machten deutlich, dass die öffentlichen Werke mehr als eine kantonale Aufgabe waren. Weil es in der Schweiz 1815 weder eine nationale Bauakademie noch eine Ingenieurschule gab, wurde 1837 zwecks Erfahrungsaustausch und Beurteilung von Grossprojekten der Schweizerische Ingenieur- und Architektenverein gegründet. Zur Förderung der Industrie umfasste er auch die Vertreter des Maschinenbaus, damals noch Mechaniker genannt. Ziel des Vereins war es, die Kenntnisse in der Bau- und Ingenieurwissenschaft anzuheben.

Diese Aufgabe, die Ingenieure «theoretisch und, soweit tunlich, praktisch auszubilden», übernahm das 1855 in Zürich gegründete Eidgenössische Polytechnikum. Gleichzeitig wurde das Ingenieurwesen damit wie in anderen Ländern an eine staatliche Institution geknüpft. Die einzelnen Disziplinen wurden von hier aus über die Gliederung der Fachabteilungen und über die erteilten Titel festgelegt. Dabei wurden auch die Anliegen von Industrie, privater Forschung, Berufsverbänden und Ehemaligenvereinen berücksichtigt. Trotz der laufenden, teils explosionsartigen Auffächerung in den technischen Wissenschaften folgte die Schule dem Prinzip, neue Spezialgebiete in bestehende Strukturen einzugliedern. Einige der anfänglichen Hauptrichtungen wurden später als Ingenieurdisziplin bezeichnet (1867 Maschinenbau, 1899 Kulturtechnik, 1924 Technische Chemie sowie Land- und Forstwirtschaft) oder durch neue Unterabteilungen erweitert (1909 Elektrotechnik, 1981 Informatik sowie Werkstoffe, 1990 Betrieb und Produktion). Was im 19. Jahrhundert noch als Ingenieurwesen galt, wurde ab 1909 unter dem Begriff Bauingenieurwesen zusammengefasst. Davon getrennt blieb die Bauschule (ab 1866 Hochbauschule, seit 1924 Abteilung für Architektur). Diese Struktur entsprach der Definition des Ingenieurs als wissenschaftlich gebildetem Fachmann der Technik, wie sie seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts üblich ist. Sie blieb auch 1969 unverändert, als die Ecole polytechnique de l'Univérsité de Lausanne zur zweiten Technischen Hochschule der Schweiz erhoben wurde. Seit der Reform der ETH Zürich 1998 umfasst das Ingenieurwesen dort 15 einzelne Studiengänge, die herkömmliche Gliederung wurde ersetzt.

Auskunft über Bezeichnungen und Bildungsstufen in Technik und Baukunst gibt das 1952 gegründete schweizerische Register der Ingenieure, Architekten und Techniker, das auch Autodidakten offen steht. Auf der wissenschaftlichen Seite fördert die Schweizerische Akademie der Technischen Wissenschaften die Forschung im Ingenieurwesen.

Quellen und Literatur

  • Urner, Klaus: «Vom Polytechnikum zur Eidgenössischen Technischen Hochschule. Die ersten hundert Jahre 1855-1955 im Überblick», in: Bergier, Jean-François; Tobler, Hans Werner et al. (Hg.): Eidgenössische Technische Hochschule Zürich 1955-1980, 1980, S. 17-59.
  • Straub, Hans: Die Geschichte der Bauingenieurkunst, 19924.
  • Corboz, André: «La fortification urbaine après 1500: les phases de sa mutation», in: Sigel, Brigitt (Hg.): Stadt- und Landmauern, 1, 1995, S. 123-134.
Weblinks

Zitiervorschlag

Bruno Meyer: "Ingenieurwesen", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 29.05.2012. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/008265/2012-05-29/, konsultiert am 28.03.2024.