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Estavayer-le-Lac

Ehemalige politische Gemeinde FR, Broyebezirk, bildet seit 2017 mit Bussy (FR), Morens (FR), Murist, Rueyres-les-Prés, Vernay und Vuissens die neue Gemeinde Estavayer. Estavayer-le-Lac liegt am Südufer des Neuenburgersees auf einer Höhe von 430 bis 460 m und bildet als Bezirkshauptort das regionale Verwaltungs- und Wirtschaftszentrum. 2012 fusionierte es mit Font. 1156 Stavaiel, 1228 Estavaier; deutsch früher Stäffis am See. 1850 1323 Einwohner; 1900 1636; 1950 2452; 2000 4437.

Urgeschichte

Eisendolch aus der Hallstattzeit (zwischen 650 und 550 v.Chr.), gefunden im Neuenburgersee (Amt für Archäologie des Kantons Freiburg).
Eisendolch aus der Hallstattzeit (zwischen 650 und 550 v.Chr.), gefunden im Neuenburgersee (Amt für Archäologie des Kantons Freiburg).

Die in der Nähe des Hafens La Tuillère gelegene Seeufersiedlung Estavayer-le-Lac I aus der Jungsteinzeit (4. und 3. Jahrtausend v.Chr.) wurde bereits 1857 erforscht. 1969 erfolgten anlässlich grösserer Erdbewegungen und Bauarbeiten weitere Teilgrabungen. Aus der späten Bronzezeit (11.-9. Jahrhundert v.Chr.) stammen zwei Fundstätten: Pianta II, für die Hinweise seit 1860 vorliegen, und die Station II, auch Ténevières genannt, die ab 1856 erwähnt und 1878-1879 ausgegraben wurde. Leider wurden die meisten der im 19. Jahrhundert entdeckten Seeufersiedlungen systematisch von Antiquitätenliebhabern geplündert; das Material ist heute auf mehrere Museen im In- und Ausland verteilt. Qualität und Quantität der Fundstücke belegen, dass sich Anfang des 1. Jahrtausends v.Chr. ein lokales Handwerk entwickelt hatte und dass die Bronzehandwerker dieser Epoche Nadeln, Reifen und Messer in grösseren Stückzahlen gossen, die wohl mehrheitlich für den Tausch bestimmt waren. Die Pfahlbaudörfer an den Uferzonen in Estavayer-le-Lac wurden um 850 v.Chr. aufgegeben. Der bemerkenswerte hallstattzeitliche Dolch aus Eisen, der zwischen 650 und 550 v.Chr. angefertigt wurde, ist nicht einer bestimmten Pfahlbausiedlung zuzuordnen, sondern war wahrscheinlich eine Opfergabe. Die in den 1950er Jahren im Neuenburgersee zufällig gefundene Schmuckwaffe ist eines der besterhaltenen und technisch geglücktesten Beispiele eines Antennendolchs. Der Dolch besteht aus 30 geschmiedeten Elementen, die vernietet wurden. Die Scheide ist aus 25 Stücken zusammengesetzt und verschweisst. Während der frühen Eisenzeit (800-450 v.Chr.) lagen die grössten Siedlungen auf Anhöhen oder befestigten Hügeln. Auch das Gebiet La Motte Châtel im Herzen des heutigen Estavayer-le-Lac dürfte – dies lassen die dort gefundenen Keramikscheiben vermuten – seit frühgeschichtlicher Zeit bewohnt gewesen sein.

Mittelalter und Neuzeit

Die Stadt aus der Vogelperspektive in Richtung Osten. Frontispiz des handschriftlichen Berichts über die Hochzeit von Philippe d'Estavayer und Elisabeth Vallier, verfasst 1599 von Joseph Hörttner aus Innsbruck. Gouache auf grundiertem Papier (Schweizerische Nationalbibliothek, Bern).
Die Stadt aus der Vogelperspektive in Richtung Osten. Frontispiz des handschriftlichen Berichts über die Hochzeit von Philippe d'Estavayer und Elisabeth Vallier, verfasst 1599 von Joseph Hörttner aus Innsbruck. Gouache auf grundiertem Papier (Schweizerische Nationalbibliothek, Bern).

Die Anfänge der Stadt Estavayer-le-Lac liegen im 12. Jahrhundert. Aus der engen Bindung der nachmaligen Stadtherren der Hochadelsfamilie von Stäffis (französisch d'Estavayer) an die Bischöfe von Lausanne kann man auf eine bischöfliche Gründung im 12. oder 13. Jahrhundert schliessen; die ersten Bürger werden allerdings erst 1291 erwähnt. Die mittelalterliche Geschichte der Stadt ist eng mit derjenigen ihrer Stadtherren verknüpft: Bis ins 13. Jahrhundert spalteten sich die Herren von Stäffis in drei Zweige auf, die je eine Burg in der Stadt besassen und über einen Teil der Bürger Herrschaftsrechte ausübten, die Stadtherrschaft jedoch gemeinsam wahrnahmen. Auf die lehnsrechtliche Abhängigkeit vom Bischof von Lausanne folgte 1244 die Unterwerfung der Herren von Estavayer-le-Lac unter die Grafen von Savoyen. Von diesem Zeitpunkt an spielte die Ausrichtung auf die savoyische Waadt eine wichtige Rolle für die Stadt, insbesondere nach 1349, als Wilhelm IV. von Stäffis seinen Herrschaftsteil an Isabelle von Chalon, Herrin der Waadt, verkaufte. Als Residenzort des savoyischen Kastlans war Estavayer-le-Lac der administrative Mittelpunkt der gleichnamigen Kastlanei. 1403-1535 entsandte Estavayer-le-Lac Vertreter an die meistens in Moudon stattfindenden Ständeversammlungen. Diese Vertretung galt auch in der Zeit Humberts von Savoyen, der 1421-1443 eine Teilherrschaft besass. Nach dessen Tod fiel Estavayer-le-Lac wieder an den Herzog von Savoyen. Im Vorfeld der Burgunderkriege wurde der Ort von den Eidgenossen belagert und am 27. Oktober 1475 erobert, wobei die Stadtbevölkerung schwere Verluste erlitt. Über den Erwerb von Pfandschaften gelang es Freiburg, sich Herrschaftsrechte in Estavayer-le-Lac zu verschaffen; 1488 wurde ein freiburgischer Kastlan in Schloss Chenaux eingesetzt. Nachdem Freiburg 1536 einen weiteren Herrschaftsteil annektiert hatte, wurde die savoyische Kastlanei in eine freiburgische Landvogtei umgewandelt. Der Landvogt war gleichzeitig Schultheiss der Stadt und stand dem Rat vor. Nach dem Tod des letzten Herrn von Stäffis 1632 zog Freiburg 1635 den Rest der Herrschaft an sich und wurde alleinige Stadtherrin. Ende der Helvetik kam Estavayer-le-Lac zum Broyebezirk und wurde dessen Hauptort.

In der Rechtsprechung galt ab dem Spätmittelalter das Gewohnheitsrecht von Lausanne, bis die Freiburger Obrigkeit 1671 für Estavayer-le-Lac einen eigenen Coutumier erliess. In den Freiheiten von 1350, die Isabelle von Chalon gewährt hatte, ist bereits von einem Rat die Rede. Im 15. Jahrhundert bestand dieser aus den Stadtherren bzw. deren Kastlanen, dem sogenannten Gubernator und 18 Bürgern, je sechs aus den drei Teilherrschaften. Nach 1536 setzte sich der Rat aus dem Schultheissen, dem Gubernator, zwölf Räten und sechs (ab 1576 drei) Adjunkten (adjoints) zusammen, die ab 1590 Venner (bannerets) hiessen. Die Räte wurden von der Bürgerversammlung auf Vorschlag der Stadtherren bzw. des Schultheissen ernannt, ebenso die wichtigsten Amtsträger der Stadtverwaltung (Gubernator, Ratsschreiber, Weibel, Spitalverwalter). Der Pfarrer, die Mitglieder des Klerus und die Inhaber der niederen Ämter wurden vom Rat gewählt. Durch die Schaffung einer kleinen bzw. minderen Bürgerschaft ohne Zutritt zu den wichtigen Ämtern schloss sich die alte Bürgerschaft 1715 nach unten ab. Diese Strukturen hielten sich bis zum Ende des Ancien Régime. Vom politischen Selbstverständnis der Stadtgemeinde zeugen die erhaltenen spätmittelalterlichen Stadtmauern und Stadttore.

Die 1228 erstmals erwähnte, vermutlich frühmittelalterliche Pfarrei Estavayer-le-Lac gehörte zum Dekanat Avenches; der Bischof von Lausanne verfügte über die Patronatsrechte. An der Pfarrkirche St. Laurentius bildete sich im 14. Jahrhundert eine Klerikergemeinschaft. Zwar kam es nie zu einer formellen Stiftsgründung, doch wurde der Klerus 1432 durch den Rat und den Stadtherrn Humbert von Savoyen zur Einrichtung eines stiftsähnlichen Gottesdienstes gemäss dem Lausanner Marienoffizium gezwungen. Der Neubau der Pfarrkirche ab ca. 1440, die Anschaffung eines prächtigen Chorgestühls 1521-1525 und der Erwerb von vier Antiphonarien aus dem Berner Vinzenzstift 1530 bezeugen den Repräsentationssinn der Bürgerschaft im religiösen Bereich. 1512 wurde die Pfarrei Carignan inkorporiert, 1522 die Pfarrei Lully. Wilhelm von Stäffis, Archidiakon von Lincoln, gründete 1316 ein Dominikanerinnenkloster, das heute noch besteht. Im Chor der Klosterkirche wurde 1443 Humbert von Savoyen beigesetzt. Als wichtigste zeitweilige Niederlassungen anderer Orden sind die Minimen (1622-1728) und Jesuiten zu nennen; dazu kamen verschiedene katholische Bildungsinstitutionen (Jesuitenkollegium 1827-1847). Bis heute überwiegt in Estavayer-le-Lac die katholische Bevölkerung.

Bis zur Industrialisierung wurde in Estavayer-le-Lac vor allem Futter- und Getreidebau betrieben. Estavayer-le-Lac bildete zudem als Markt das wirtschaftliche Zentrum der Landvogtei bzw. des Bezirks. 1777 eröffnete die Indiennefabrik Fabrique-Neuve de Cortaillod in Estavayer-le-Lac eine Niederlassung. Bis Ende des 18. Jahrhunderts waren jährlich rund 100 Stoffmalerinnen, vor allem junge Frauen vom Land, beschäftigt. Vor dem Ersten Weltkrieg liessen sich Betriebe der Nahrungsmittelindustrie nieder. Heute dominieren die Bereiche Lebensmittel (Konserven) und Tabakverarbeitung sowie Holz- und Metallverarbeitung. Mit der Sekundarschule und dem Bezirksspital, das 1999 mit dem Spital von Payerne zum Hôpital intercantonal de la Broye fusionierte, nimmt die Stadt weitere Zentrumsfunktionen wahr. Dank des intakten historischen Stadtbildes und der Nähe zum See spielt der Tourismus ebenfalls eine gewisse Rolle. Verkehrsmässig wird der Ort durch die Hauptstrasse Payerne-Yverdon, die Eisenbahnlinie Payerne-Yverdon (1877) und die A1 (Autobahnteilstück 2001 eröffnet) erschlossen.

Quellen und Literatur

  • SSRQ FR I/2
Urgeschichte
  • O. Perler, «Der Antennendolch von Estavayer-le-Lac», in JbSGUF, 1962, 25-28
  • GeschFR 1, 15-54
  • S. Sievers, «Der Dolch von Estavayer-le-Lac», in HA 35, 2004, 56-67
Mittelalter und Neuzeit
  • HS V/1, 714-728; VII, 552-555; VIII/1, 308-315
  • P. Caspard, «Les pinceleuses d'Estavayer», in SZG 36, 1986, 121-156
  • D. Tappy, Les Etats de Vaud, 1988
  • P. Jäggi, Unters. zum Klerus und religiösen Leben in Estavayer, Murten und Romont im SpätMA, 1994
  • L. Marmy, Estavayer-le-Lac et sa campagne à l'heure révolutionnaire, Liz. Freiburg, 1996
Von der Redaktion ergänzt
Weblinks
Normdateien
GND

Zitiervorschlag

Denis Ramseyer; Stefan Jäggi: "Estavayer-le-Lac", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 05.05.2017. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/000812/2017-05-05/, konsultiert am 19.03.2024.