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Volkszählungen

Die Geschichte der Volkszählungen ist eng mit jener des Staats und der Staatsverwaltung verbunden. Bis ins 17. Jahrhundert hinein wurden in Europa keine Volkszählungen durchgeführt. Für die Untersuchung der Bevölkerungsentwicklung ist die demografische Forschung (Demografie) daher auf Steuerbücher, Listen von Wehrpflichtigen oder Stimmberechtigten, behördliche und kirchliche Feuerstättenzählungen oder Familienrekonstruktionen angewiesen. Der Gedanke, der Staat brauche quantitative Informationen, um gut regiert zu werden, wurde im 16. und 17. Jahrhundert von Humanisten und Staatstheoretikern entwickelt. In der politischen Arithmetik und Ökonomie verbanden sich politische Macht, Statistik und Volkswirtschaftslehre zu einer neuen Gesamtschau von Wirtschaft und Gesellschaft, in welcher Volkszählungen als Datenquelle einen festen Platz einnahmen.

Eine der Übersichtstafeln zur Volkszählung von 1850, die unter der Leitung von Bundesrat Stefano Franscini durchgeführt wurde, publiziert in den Uebersichten der Bevölkerung der Schweiz, Bd. 1, 1851 (Privatsammlung).
Eine der Übersichtstafeln zur Volkszählung von 1850, die unter der Leitung von Bundesrat Stefano Franscini durchgeführt wurde, publiziert in den Uebersichten der Bevölkerung der Schweiz, Bd. 1, 1851 (Privatsammlung). […]

In der alten Eidgenossenschaft wurden im 17. und 18. Jahrhundert nur in einzelnen Kantonen und mit unterschiedlichen Methoden Bevölkerungszählungen organisiert, wobei deren Resultate nicht selten bemerkenswert waren (vgl. die Zürcher Volkszählungen des 17. und 18. Jh.). In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts engagierten sich die Berner Ökonomische Gesellschaft und die Zürcher Ökonomische Kommission aktiv bei der Durchführung der Volkszählungen und förderten die Veröffentlichung demografischer Studien gegen den Widerstand der Regierungen, welche die Zählungsergebnisse als staatliche Geheimsache betrachteten. Dieser Vorgang zeigt, dass auch in der alten Eidgenossenschaft eine kritische Öffentlichkeit im Entstehen begriffen war. Die erste, die ganze Schweiz betreffende Volkszählung war diejenige der Helvetik von 1798. Sie sollte die Grundlagen für die Reform der territorialen Strukturen des Landes liefern. Für weite Gebiete (einen Teil der Ostschweiz, Graubünden, Tessin, Freiburg und Wallis) standen bis dahin überhaupt keine brauchbaren Daten zur Verfügung. Die Erhebung, deren Ergebnisse insgesamt als zuverlässig gelten, erstreckte sich auf zwei Jahre. In der Mediationszeit wurden keine Volkszählungen mehr durchgeführt. Erst 1836 unternahm die Tagsatzung den Versuch, die Gesamtzahl der Bevölkerung der Eidgenossenschaft zu bestimmen. Um die kantonalen Militärkontingente und die Geldbeiträge für die Landesverteidigung anzupassen, forderte sie die Kantone auf, Tabellen mit demografischen Grunddaten einzusenden. Die Datenerhebung wurde aber erst nach fast zwei Jahren abgeschlossen, wodurch Doppelzählungen und Erhebungslücken unvermeidbar waren.

Aufkleber des Kommunistischen Jugendverbands Schweiz, der zum Boykott der Volkszählung 1990 aufrief (Schweizerisches Sozialarchiv, Zürich, F Ob-0001-008).
Aufkleber des Kommunistischen Jugendverbands Schweiz, der zum Boykott der Volkszählung 1990 aufrief (Schweizerisches Sozialarchiv, Zürich, F Ob-0001-008). […]

Nach 1848 institutionalisierten sich regelmässige Volkszählungen im schweizerischen Bundesstaat. Die erste eidgenössische Volkszählung erfolgte im März 1850 unter der Leitung von Bundesrat Stefano Franscini. Neben der Erhebung der Bevölkerungszahl wurde erstmals nach Geschlecht, Alter, Zivilstand, Beruf, Gewerbe und Konfession der Einwohner gefragt. Im Jahre 1860 erliessen die Räte das Bundesgesetz über die Errichtung des Eidgenössischen Statistischen Bureaus, des Vorläufers des Bundesamts für Statistik (seit 1979), und verabschiedeten ein weiteres über die periodische Wiederholung der eidgenössischen Volkszählung im Abstand von zehn Jahren. Zwischen 1860 und 2000 fanden jeweils im Dezember 15 Volkszählungen statt. Ausnahmen bildeten diejenigen von 1888 (als Grundlage für die Revision der Wahlkreiseinteilung) und 1941 (Mobilmachung vom Mai 1940). Die Ergebnisse dokumentieren als «kollektives Gedächtnis» des schweizerischen Bundesstaats die Entwicklung der Sprachen, Konfessionen, Haushalte, Wirtschaftsstrukturen und Siedlungsverhältnisse auf verschiedenen räumlichen Ebenen. Zwischen 1860 und 1910 wurde der Fragebogen insbesondere auf Aspekte der Arbeitswelt ausgedehnt (1888 Ersetzung der Haushaltsfragebogen durch individuelle Zählkarten), 1941 kamen Fragen zur Kinderzahl (familienfördernde Tendenz der Zeit) hinzu. 1930-1950 stagnierte die statistische Analyse. Immerhin wurde in dieser Zeit in den städtischen Agglomerationen eine Wohnungszählung eingeführt. Der Ausbau der Volkszählungen setzte sich 1960-1990 fort, wobei Aspekte der Verkehrs- und Raumplanung sowie der Infrastrukturpolitik in den Vordergrund traten. Neben der Untersuchung der Pendlerströme wurde 1960 die Erhebung der Daten zu den Wohnverhältnissen, 1970 auch diejenige zu den Wohngebäuden für obligatorisch erklärt. 1990 wurden die Daten erstmals flächendeckend geokodiert, d.h. dem Koordinationsnetz der Schweiz auf Hektarstufe zugeordnet. Anlässlich dieser Volkszählung regte sich aus Gründen des Datenschutzes in allen Teilen der Bevölkerung Widerstand gegen die eidgenössische Statistik. Im Lauf des 20. Jahrhunderts hat sich die Volkszählungen damit von einer reinen Kopfzählung zu einer eigentlichen Strukturerhebung der Schweiz gewandelt.

1998 wurde das Bundesgesetz über die eidgenössische Volkszählung vollständig revidiert, um die Erhebungsmethoden an die neuen Technologien anzupassen. Die Durchführung der Volkszählung 2000 erfolgte grösstenteils per Post und via Internet. Die in den Einwohnerregistern enthaltenen Daten wurden vorbedruckt. Auf der Grundlage der Volkszählung wurde ein eidgenössisches Gebäude- und Wohnungsregister aufgebaut, die Einwohnerregister wurden harmonisiert. Seit 2010 beruht die Volkszählung auf einer jährlich vorgenommenen Registererhebung; ausgewertet werden bestehende Daten der kantonalen und kommunalen Einwohnerregister, der Bundespersonenregister sowie des eidgenössischen Gebäude- und Wohnungsregisters. Zur Ergänzung dieser Informationen werden daneben verschiedene Stichprobenerhebungen durchgeführt. Diese neue Verfahrensweise ist kostengünstiger und soll eine schnellere und häufigere Auswertung und Publikation der Zählungsergebnisse ermöglichen.

Quellen und Literatur

  • T. Busset, Zur Gesch. der eidg. Volkszählung, 1993 (mit Bibl.)
  • «Statistikgesch.», in SZG 45, 1995
  • Der Informationsauftrag der Strukturerhebung Schweiz ― Volkszählung 2000, 1997
  • Eidg. Volkszählung 2000, 15 Bde., 2002-05
Weblinks

Zitiervorschlag

Werner Haug: "Volkszählungen", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 30.07.2013. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/007984/2013-07-30/, konsultiert am 28.03.2024.