de fr it

Sozialtopografie

Die Sozialtopografie untersucht die Verteilung der Bevölkerung im städtischen Raum nach sozialen Lagemerkmalen, insbesondere Vermögen, Berufen, Ämtern und Geschlecht. Für die Zeit des Spätmittelalters bilden für einige Städte historische Grundbücher, so für Basel, oder Sammlungen von Hausurkunden eine hervorragende Quellenbasis. Besonders günstig ist die Quellenlage für Zürich, wo die präzise Verknüpfung der Vermögenssteuerlisten mit dem Stadtplan möglich ist. Archäologie und Denkmalpflege erlauben Aussagen über Parzellen- und Häusergrössen.

Mittelalter und frühe Neuzeit

Vom Hoch- zum Spätmittelalter lässt sich ein Wandel von der hohen Bewertung der Stadtmauerlage, wo sich die grossen Adelshöfe befanden, hin zu einem Zentrum-Peripherie-Modell verfolgen: Zentral in der Nähe der Märkte gelegene Grundstücke wurden bei kaufmännischer Dominanz in der städtischen Elite hoch bewertet, während das Prestige der Wohnlagen zur Peripherie hin abnahm. Ansätze zu eigentlichen Soziotopen sind nur in grösseren Städten feststellbar, insbesondere in den Randständigenquartieren (Randgruppen) des Basler Kohlenbergs oder des Zürcher Kratzquartiers. Eine gewisse religiös motivierte Segregation der Juden ist bemerkbar; zu einer fremdbestimmten Gettoisierung kam es aber nur in Genf. Die Ballung von Beginen bei den Klöstern der Dominikaner und Franziskaner führte in Zürich zu Frauenquartieren. Der sozial unterschiedliche Charakter einzelner Quartiere lässt sich durchaus beschreiben, insgesamt blieb die soziale Segregation aber beschränkt, was unter anderem damit zusammenhängt, dass in reichen Quartieren auch die Zahl armer Dienstboten hoch war. Je nach benötigten Ressourcen (Wasser, Wasserkraft, Gefälle usw.), gewerblichen Einrichtungen (Brot- und Fleischschal usw.) und Immissionen (Geruch, Lärm, Feuergefahr usw.) konzentrierte oder verteilte sich das Gewerbe (Handwerk).

Die Vermögensverteilung in der Stadt Bern 1389
Die Vermögensverteilung in der Stadt Bern 1389 […]

Stärker in den Fokus neuerer Forschung sind die Stadterweiterungen und Vorstädte getreten, die sich hinsichtlich ihrer sozialen Merkmale von der Kernstadt unterschieden. Neuere Arbeiten beziehen die Dynamik stärker ein, indem sie Veränderungen durch die intensive binnenstädtische Mobilität darstellen.

19. und 20. Jahrhundert

Die ungleiche Verteilung sozialer Schichten im Raum nahm im 19. und 20. Jahrhundert neue Dimensionen an (Soziale Ungleichheit). Trennung von Arbeiten und Wohnen, Emanzipation von Dienstboten und Gesellen aus dem Meisterhaushalt sowie deren Möglichkeit, eine eigene Familie zu gründen, Niederlassungsfreiheit und neue Erwerbsmöglichkeiten in den Städten führten zu wachsenden Unterschichtquartieren (Unterschichten), von denen sich das Bürgertum abgrenzte. Die mit der sozialen Segregation verbundene Problematik wurde in der Schweiz seit der Mitte des 19. Jahrhunderts zumindest indirekt thematisiert. Cholera- und Typhusepidemien machten die besondere Gefährdung der Armenviertel augenfällig. Philanthropische Baugesellschaften errichteten ihre Arbeiterhäuser bewusst an verschiedenen Orten der Stadt, um einer Gettoisierung entgegenzuwirken.

Die Missstände gaben ab 1889 zu breit angelegten Wohnungsenqueten (Sozialenqueten) in vielen grösseren Schweizer Städten Anlass. Die Gliederung des statistischen Materials nach Wohnlagen zeigt, wie zentral die Problematik der Segregation auch in diesen Untersuchungen war. Ähnliches gilt für die Lebenserwartungs- und Todesfallstatistiken, die in dieser Zeit auf Quartierbasis veröffentlicht wurden. Das wissenschaftliche Instrumentarium zur Analyse der Sozialtopografie wurde seit den 1920er Jahren vor allem in den USA entwickelt, wo die räumliche Ausgrenzung nicht nur nach sozialen, sondern auch nach ethnischen bzw. rassistischen Kriterien erfolgte. Die dabei gewonnenen theoretischen Modelle lassen sich indessen nur bedingt auf schweizerische Städte anwenden. Es ergeben sich aber auch hier Muster der räumlichen Verteilung. Unterschichtquartiere entstanden regelmässig in Teilen der Altstadt (z.B. Zürich Niederdorf, Bern Matte), im Gebiet der Vorbahnhöfe (z.B. Bern Lorraine, Luzern Untergrund, Basel Badischer Bahnhof) oder in feuchten Niederungen (z.B. Bern Altenberg, Basel entlang des Birsigs), während die Oberschicht sich an mikroklimatisch oder landschaftlich bevorzugten Lagen niederliess (z.B. Zürich Enge, Lausanne am Südhang über dem Bahnhof). Indikatoren für den Sozialstatus eines Quartiers im 19. Jahrhundert sind neben den Resultaten der Wohnungsenqueten auch mittlere Lebenserwartung, Einkommen und Vermögen, Anzahl Dienstboten oder Untermieter pro Haushalt, die miteinander korrelieren.

Ein bestimmtes Quartier wurde nicht nur als Wohnort gewählt, weil dort eine dem Einkommen adäquate Wohnung, sondern auch das dem eigenen Sozialstatus entsprechende Habitat zu finden war. Umgekehrt formte das Habitat den Habitus. Das gilt insbesondere für die Unterschichten, die ihre Identität und Solidarität erst finden mussten. Die Arbeiterquartiere der grossen Städte bildeten den Nährboden für die Entwicklung der Arbeiterbewegung. Der Höhepunkt der sozialen Segregation fiel mit dem Höhepunkt des Klassenkampfes zwischen 1900 und 1920 zusammen. Ab Beginn des 20. Jahrhunderts war die Auflösung der hoch verdichteten zentralen Arbeiterquartiere und die Bereitstellung von Wohnraum für kleine Einkommen in den Aussenbezirken, die neu mit öffentlichen Verkehrsmitteln erschlossen wurden (z.B. Zürich-Affoltern, Bern-Bümpliz), ein wesentliches Element der Stadtentwicklungspolitik (Städtebau, Wohnungsbau). Gartenstädte, bestehend aus kleinen Häusern am Stadtrand, wurden als ideales Mittel gegen die Überlastung der Stadtzentren und das Wohnen in Mietskasernen betrachtet. Der motorisierte Individualverkehr erschloss in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vorwiegend mittelständische Wohngebiete in der Agglomeration. Die Oberschicht wich vor dem zunehmenden Städtedruck in besonders privilegierte Vororte aus. Durch Diffusion in die Fläche haben sich die alten Probleme weitgehend entschärft; dagegen lebt ein grosser Teil der ausländischen Wohnbevölkerung immer noch stark segregiert in den Innenstädten (Einwanderung). An der Schwelle zum 21. Jahrhundert begann eine Rückwanderung der Mittel- und Oberschicht in die Innenstädte, die sich auf das gesteigerte Interesse an einem urbanen Leben zurückführen lässt. Damit entsteht eine neue Form der Segregation, die als Gentrifizierung bezeichnet wird.

Quellen und Literatur

Mittelalter und frühe Neuzeit
  • U. Portmann, Bürgerschaft im ma. Freiburg, 1986
  • K. Simon-Muscheid, «Randgruppen, Bürgerschaft und Obrigkeit: Der Basler Kohlenberg, 14.-16. Jh.», in Spannungen und Widersprüche, hg. von S. Burghartz et al., 1992, 203-225
  • J. Gisler, «Vermögensverteilung, Gewerbetopographie und städt. Binnenwanderung im spätma. Zürich, 1401-1425», in ZTb 1994, 1993, 29-59
  • W. Schoch, Die Bevölkerung der Stadt St. Gallen im Jahre 1411, 1997
  • H.-J. Gilomen, «Spätma. Siedlungssegregation und Ghettoisierung, insbes. im Gebiet der heutigen Schweiz», in Stadt- und Landmauern 3, 1999, 85-106
  • Fribourg au temps de Fries, hg. von J. Steinauer, 2002
19. und 20. Jahrhundert
  • J. Friedrichs, Stadtanalyse, 1977, 31983
  • K. Kreis, Städt. soziale Segregation und Arbeiterwohnungsfrage, Liz. Zürich, 1981
  • B. Fritzsche, «Mechanismen der sozialen Segregation», in Homo habitans, hg. von H.J. Teuteberg, 1985, 155-168
  • B. Fritzsche, «Moderne Stadtgesch.», in SZG 41, 1991, 29-37
  • F. Walter, La Suisse urbaine 1750-1950, 1994
  • O. Perroux, Tradition, vocation et progrès, 2006
Weblinks

Zitiervorschlag

Hans-Jörg Gilomen; Bruno Fritzsche: "Sozialtopografie", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 08.01.2013. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/007945/2013-01-08/, konsultiert am 16.04.2024.