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Städtebau

Die Römer brachten erste Vermittlungsformen der beim Bau von Städten gesammelten praktischen Erfahrungen auch in das Gebiet der heutigen Schweiz. Früh wurde das einschlägige technische und rechtliche Wissen durch geeignete Verwaltungsinstrumente ergänzt, obwohl entsprechende Belege dafür in der Schweiz fehlen und ihre Existenz nur aufgrund des Vergleichs mit anderen römisch besiedelten Regionen vermutet werden kann. Mittelalterliche Freiheitsbriefe, Sammlungen städtischer Erlasse, die ab dem 16. Jahrhundert stets präziser werdenden Stadtpläne und die im 17. Jahrhundert immer zahlreicher erscheinenden Abhandlungen über das militärische und später auch über das zivile Ingenieurwesen zeugen von der sich intensivierenden Planung und Regulierung der Stadterweiterung. Aber erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelte sich der Städtebau zu einer wissenschaftlichen Disziplin mit dem Zweck, die Bedürfnisanalyse, die baulichen Eingriffe und die laufende Überprüfung der erzielten Ergebnisse mittels experimenteller, vergleichender und statistischer Methoden aufeinander abzustimmen.

Im Französischen und Italienischen wurden die neuen Begriffe urbanisme bzw. urbanistica aus Ildefonso Cerdàs grundlegendem Text «Teoría general de la urbanización» (Madrid 1867) abgeleitet. Der Lyoner Geograf Pierre Clerget verwendete den Terminus urbanisme erstmals 1910 in französischer Sprache in einem Beitrag im «Bulletin de la Société neuchâteloise de géographie». Auf Deutsch kamen die Standardwerke von Camillo Sitte «Der Städtebau nach seinen künstlerischen Grundsätzen» (Wien, 1889) und von Josef Stübben «Der Städtebau» (Darmstadt, 1890) nahezu gleichzeitig heraus. Sittes Buch erschien in der französischen Übersetzung von Camille Martin 1902 in Genf unter dem sprechenden Titel «L'art de bâtir les villes». Dessen Gegenstück bildete das 1928 publizierte Werk «La science des plans de villes», in dem die Architekten Augustin Rey aus Paris und Charles Barde aus Genf zusammen mit dem ebenfalls in Genf ansässigen Astronomen Justin Pidoux einen Überblick über 30 Jahre Forschungsarbeit zum Thema der optimalen Lüftung und Besonnung von Wohnhäusern bieten.

Der neue Städtebau basierte zunächst auf dem Modell der positivistischen Medizin, das die Stadt als einen für Krankheiten und Funktionsstörungen anfälligen Organismus betrachtete. Die Planung des Stadtraums galt als Mittel zur Bekämpfung oder Verhinderung von Epidemien, zu deren Ausbreitung die zunehmende Urbanisierung beitrug (Hygiene). Im Rahmen von Kongressen, Verbänden (insbesondere dem 1899 in Grossbritannien gegründeten Gartenstadtverband, der bald in Town and Country Planning Association unbenannt wurde), Ausstellungen und Wettbewerben tauschten sich die Schweizer Exponenten des neuen Städtebaus schon früh mit den britischen, französischen und deutschen Pionieren des Fachgebiets aus. Die erste Schweizer Städtebauausstellung, die 1911 in Zürich und anschliessend in Biel gezeigt wurde, fasste die Ergebnisse aus dem Wettbewerb für die Erweiterungspläne für Gross-Berlin (1910) und Düsseldorf (1911) zusammen.

Die anfängliche Einheit der Lehre, die auf der Idee des gesunden Wohnens beruhte, zerfiel bald in eine Vielzahl von Visionen mit politisch-rechtlichen (Bodenrechtsreform, Förderung von genossenschaftlichen Modellen, Gemeindefusionen), ökonomischen (rationeller Einsatz öffentlicher Gelder), technischen (Leistungsfähigkeit und Sicherheit der Verkehrsnetze, der Wasserversorgung und der Kanalisation), sozialen (Wohnraum für einkommensschwache Personen) oder ästhetischen Schwerpunkten (Kampf gegen die Monotonie der Überbauungen und die Zerstörung historischer Bausubstanz, Förderung von Grünflächen). Die seit 1914 durchgeführten Landesausstellungen und insbesondere die 1927 in La Sarraz gegründeten Congrès internationaux d'architecture moderne (CIAM) boten Vertretern dieser verschiedenen Strömungen eine rege genutzte Begegnungsplattform (Neues Bauen). Unter den Schweizer Vordenkern des Städtebaus hielt sicher Le Corbusier mit polemischen, didaktischen und zuweilen auch mit lyrischen und visionären Texten («Urbanisme» 1925, deutsch 1929, Nachdruck 1979) die öffentliche Debatte am stärksten in Gang. Es war ihm jedoch nie vergönnt, ein grösseres städtebauliches Projekt in seinem Herkunftsland zu realisieren. Andere, weniger bekannte Persönlichkeiten wie Hans Marti übten dagegen beträchtlichen Einfluss auf die Erweiterungsplanung der Gemeinden und die Differenzierung der Planungskriterien aus, ohne dadurch allerdings zu grosser Berühmtheit zu gelangen.

Hans Bernoulli wirkte 1913-1938 als erster Professor für Städtebau an der ETH Zürich. Er erhielt seine Ausbildung in München und Karlsruhe, wo er seinen langjährigen Freund Camille Martin kennenlernte. Das entschiedene Eintreten dieser beiden Männer für die Sache des Städtebaus begünstigte den Austausch von Ideen und Spezialisten (Arnold Hoechel, Albert Bodmer) zwischen der West- und der Deutschschweiz. Davon zeugen etwa die 1928 im Kunsthaus Zürich eröffnete Wanderausstellung über Städtebau und die auf Deutsch und Französisch verfasste Begleitpublikation von Bernoulli und Martin. Eugène Beaudouin, der sich im Atelier von Emmanuel Pontremoli an der Pariser Ecole des Beaux-Arts ausgebildet hatte, lehrte 1942-1968 als erster Direktor der 1946 in die Universität integrierten Genfer Hochschule für Architektur die «grande composition», also die städtebauliche Anordnung und Gestaltung im grossen Massstab. Hoechel vermittelte die theoretischen Grundlagen zu Beaudouins angewandtem Unterricht. Jean Tschumi, ein weiterer Absolvent der Pariser Ecole des Beaux-Arts und Schüler von Marcel Poëte und Jacques Gréber am Institut d'urbanisme in Paris, unterrichtete dasselbe Fach ab 1943 als erster Direktor der Schule für Architektur und Städtebau der Universität Lausanne. Ein vergleichbares Kompetenzzentrum in der italienischen Schweiz wurde erst 1996 mit der Eröffnung der Akademie für Architektur an der Universität der italienischen Schweiz in Mendrisio geschaffen.

Bedeutende Kunsthistoriker und Archäologen trugen dazu bei, den Unterricht in operativem Städtebau mit ihrem Wissen über die historische Entstehung der Städte zu untermauern. Joseph Gantner berücksichtigte die historischen Erkenntnisse ab den 1920er Jahren in seiner Lehrtätigkeit an der Universität Zürich, später Basel, und publizierte 1925 das Werk «Die Schweizer Stadt», gefolgt von «Grundformen der europäischen Stadt» (1928). Auch in der 1923-1927 von ihm redigierten Zeitschrift «Das Werk» sensibilisierte er seine Fachkollegen für die städtische Kultur. Sigfried Giedion, Sekretär der CIAM, hielt ab 1946 an der ETH Zürich eine Vorlesung über Architekturgeschichte, in der die Probleme der Stadt eine zentrale Stellung einnahmen. Die dreibändige «Geschichte des Städtebaus» (1959-1967) von Ernst Egli, der ab 1942 Lehrbeauftragter, ab 1947 Professor an der ETH Zürich war, galt lange als eines der Standardwerke der Disziplin. In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg führten die Professoren Paul Hofer von der Ecole polytechnique de l'université de Lausanne (seit 1969 ETH Lausanne), später ETH Zürich, Conrad André Beerli von der Universität Genf, später ETH Lausanne, und André Corboz von der ETH Zürich die Geschichte der Stadt und des Städtebaus in der Schweiz auf ein hohes wissenschaftliches Niveau.

Nach der oben erwähnten Ausstellung von 1911 entstand eine Reihe von Richtplänen für den Ausbau der wichtigsten Schweizer Städte. Befördert wurde dieser Prozess zunächst durch den Wettbewerb für einen Erweiterungsplan für Gross-Zürich (1915-1918), dessen Abgabetermin infolge der Kriegssituation und des Ausbruchs der Spanischen Grippe verschoben wurde. Der Genfer Edmond Fatio sass in der Jury mit Hans Bernoulli, Gustav Gull und verschiedenen Experten des Berliner Wettbewerbs. Der umfangreiche, 1919 publizierte Schlussbericht des Ingenieurs Carl Jegher, der als Redaktor der «Schweizerischen Bauzeitung» intensiv zur städtebaulichen Debatte in der Schweiz beitrug, wurde bald zum einschlägigen Standardwerk. Der Wettbewerb eröffnete den beiden Preisträgern Albert Bodmer und Konrad Hippenmeier eine glänzende Karriere als Praktiker des Städtebaus und reisende Experten. Bodmer wurde nacheinander als Stadtplaner und Organisator der Stadtbauämter nach Biel, Winterthur, Genf und Bern berufen. 1915-1936 wurden 35 Wettbewerbe für Erweiterungspläne durchgeführt. Eine umfangreiche historiografische Darstellung der Pionierzeit des Städtebaus in der Schweiz wurde mit Unterstützung des Schweizerischen Nationalfonds erarbeitet und unter der Ägide der Gesellschaft für Schweizerische Kunstgeschichte 1982-2004 in elf Bänden veröffentlicht («Inventar der neueren Schweizer Architektur 1850-1920»).

Quellen und Literatur

  • J. Gubler, Nationalisme et internationalisme dans l'architecture moderne de la Suisse, 1975
  • M. Koch, Städtebau in der Schweiz: 1800-1990, 1992
  • F. Walter, La Suisse urbaine 1750-1950, 1994
  • Concours d'architecture et d'urbanisme en Suisse romande, hg. von P.-A. Frey, I. Kolecek, 1995
  • L. Bridel, Manuel d'aménagement du territoire pour la Suisse romande, 3 Bde., 1996-2002
  • F. Giacomazzi, Le città importate: espansioni e trasformazioni urbane del Ticino ferroviario 1882-1920, 1998
  • S. Malfroy, B. Marchand, «Genf als Gradmesser des modernen Städtebaus in der Schweiz», in Architektur im 20. Jh.: Schweiz, hg. von A. Meseure et al., 1998
  • K. Gilgen, Kommunale Raumplanung in der Schweiz, 1999 (22005)
  • 1896-2001: projets d'urbanisme pour Genève, 2003
  • D. Kurz, Die Disziplinierung der Stadt, 2008
Weblinks

Zitiervorschlag

Sylvain Malfroy: "Städtebau", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 04.03.2014, übersetzt aus dem Französischen. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/007877/2014-03-04/, konsultiert am 29.03.2024.