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Civitas

Als die Römer im 2. Jahrhundert v.Chr. Gebiete ausserhalb Italiens zu erobern begannen, trafen sie auf Stämme, die zum Teil über ausgedehnte Territorien verfügten. Zur Etablierung der Herrschaft nutzte die römische Verwaltung die schon bestehenden stammesstaatlichen Einrichtungen. Das lateinische Wort Civitas bezeichnete zunächst einen solchen organisierten Stamm und dessen Territorium, später dann eine Verwaltungseinheit unter römischer Kontrolle. Die Civitates waren somit vorwiegend ländliche Gebietseinheiten unterschiedlicher Grösse, die von einem Hauptort aus, in der Regel der wichtigsten Marktsiedlung, geleitet wurden. Der Ausdruck Civitas bezog sich auch auf die in diesem Gebiet ansässige, politisch organisierte Gemeinschaft. Die Berücksichtigung der vorrömischen Strukturen ermöglichte, zusammen mit dem stetigen Ausbau der administrativen Kontrolle und der fortschreitenden Urbanisierung, die allmähliche Eingliederung der indigenen Bevölkerung in das römische System. Am Ende dieses Prozesses in der späten Kaiserzeit erhielt der Ausdruck Civitas vor allem in Gallien allgemein die Bedeutung «Stadt». Das Gebiet der heutigen Schweiz umfasste mehrere Civitates, die verschiedenen einheimischen Stämmen entsprachen.

Die Civitas der Helvetier

Caesar erwähnte die Civitas der Helvetier in seinen «Commentarii» aus dem 1. Jahrhundert v.Chr. Die Helvetier besassen ein Dutzend Oppida, dazu mehrere Vici und einzelne Gehöfte. Sie setzten sich aus vier Stämmen zusammen, darunter die vermutlich um Aventicum anzusiedelnden Tiguriner. Nach ihrer Niederlage 58 v.Chr. wurden die Helvetier gezwungen, ihre Civitas im schweizerischen Mittelland wiederherzustellen. Ihr Territorium wurde von den Römern jedoch erst nach der Eroberung des Alpenraums reorganisiert, womit auch eine Neufestlegung der Grenzen einherging. Diese Veränderungen sind vermutlich in Zusammenhang mit der Errichtung des Legionslagers Vindonissa 16-17 n.Chr. zu sehen. Umstritten ist die territoriale Ausdehnung der Civitas. Gemäss einigen Historikern umfasste diese das gesamte Mittelland vom Rhein bis zu den Alpen und vom Jura bis zum Bodensee; andere messen ihr nur das Gebiet westlich der Limmat zu – in diesem Fall wäre der östliche Teil des Mittellands wie andere Randgebiete des Römischen Reichs nicht als Civitas organisiert gewesen. Vielleicht können zukünftige Untersuchungen der Limitationssysteme diesbezüglich Klarheit schaffen.

Erste Spuren einer Besiedlung des Gebiets von Avenches, dem Hauptort der neuen Civitas der Helvetier, gehen auf das beginnende 1. Jahrhundert n.Chr. zurück. Ihren eigentlichen Aufschwung erlebte die Stadt unter Kaiser Tiberius (14-37 n.Chr.). Aus dieser Zeit ist ein erstes Forum belegt, weshalb der Ort vermutlich den Namen Forum Tiberii trug.

Inschriften aus Avenches erhellen die Strukturen der Civitas. In ihnen werden als administrative Untereinheiten die pagi (Gaue) erwähnt, die eine gewisse Autonomie besassen, da sie selbstständig Beschlüsse fassen durften. Belegt ist zudem ein Kaiserpriester sowie wahrscheinlich ein magister, dessen genaue Funktion allerdings nicht zu eruieren ist. Die auf helvetischem Territorium lebenden römischen Bürger waren in einer Vereinigung zusammengeschlossen, dem conventus civium Romanorum, dessen Vorsitz ein jährlich wechselnder curator innehatte.

Neben dem Hauptort entwickelten sich kleinere städtische Zentren, die vici, die von der Ausbreitung des urbanistischen und administrativen Modells der Römer im Gebiet der Civitas zeugen. Durch Inschriften sind beispielsweise Eburodunum (Yverdon-les-Bains) und Aquae Helveticae (Baden) belegt.

69 n.Chr. geriet die Civitas der Helvetier in Konflikt mit den römischen Legionen. Aus dem Bericht des Tacitus («Historien» I, 67-69) scheint hervorzugehen, dass den Helvetiern zu diesem Zeitpunkt bereits das Recht gewährt worden war, ein befestigtes Lager und eine Garnison zu unterhalten. Dieser wichtige Hinweis auf die Organisation der Civitas bedarf noch einer eingehenden Prüfung.

Inschrift auf einer Marmortafel in Avenches aus dem 1. Jahrhundert n.Chr. (AVENTICUM - Site et Musée romains d'Avenches; Fotografie Gerold Walser).
Inschrift auf einer Marmortafel in Avenches aus dem 1. Jahrhundert n.Chr. (AVENTICUM - Site et Musée romains d'Avenches; Fotografie Gerold Walser). […]

Um 71 n.Chr. verlieh Kaiser Vespasian Aventicum den Status einer Kolonie (Colonia) mit dem Namen Colonia Pia Flavia Constans Emerita Helvetiorum Foederata. Strittig ist, ob und in welcher Form die Civitas neben der Kolonie weiterbestand. Die von André Chastagnol und Patrick Le Roux geführte Debatte dreht sich um die Frage nach der Rechtsstellung der Stadt: War es eine Kolonie römischen oder latinischen Rechts? Die epigrafischen Zeugnisse geben darüber nicht eindeutig Aufschluss, doch belegen sie die Präsenz einer helvetischen Elite in Aventicum, welche die Koloniegründung überdauerte. Diese Elite bestand aus Mitgliedern der örtlichen Aristokratie, die in der Civitas der Helvetier seit langem eine führende Rolle spielten, wie zum Beispiel die Vertreter des Familienclans der Camilli. Seit Beginn des 1. Jahrhunderts n.Chr. im Besitz des römischen Bürgerrechts und vollkommen romanisiert, bekleideten sie sowohl in der Civitas wie auch in der neuen Kolonie hohe Ämter. Somit trugen sie zunächst zur Romanisierung der Civitas bei und später – sozusagen als Elemente der Kontinuität im Übergang von der Civitas zur Kolonie – zum Aufschwung der Stadt in der Kaiserzeit.

Die Civitas der Rauriker

Nach 58 v.Chr. wurde der Stamm der Rauriker (oder Rauraker) wahrscheinlich – darüber schweigen allerdings die schriftlichen Quellen – von Caesar in seinem ursprünglichen Gebiet in der Gegend von Basel, Jura und Oberelsass wieder angesiedelt. Die Rauriker scheinen auf dem Basler Münsterhügel ein Oppidum errichtet zu haben. Über die Organisation der Rauriker in einer Civitas ist, ausser dem Namen des Hauptortes, Argentovaria, fast nichts bekannt. Die Einteilung der raurikischen und sequanischen Soldaten in dieselben römischen Kohorten legt jedoch die Vermutung nahe, dass die Civitas der Rauriker an das Territorium der Sequaner im Jura und Elsass angrenzte. Rudolf Fellmann lokalisiert Argentovaria bei Biesheim-Oedenburg in den Vogesen.

Die Civitates im Alpenraum

Die in den Alpenfeldzügen zwischen 25 und 15 v.Chr. unterworfenen Stämme wurden zunächst in einer Verwaltungseinheit zusammengeschlossen, die das Wallis und Graubünden umfasste. Unter Kaiser Claudius (46-54 n.Chr.) wurde das Wallis wahrscheinlich von Rätien abgetrennt und der Provinz Vallis Poenina angegliedert.

Das Wallis

Auf dem 7/6 v.Chr. in La Turbie oberhalb von Monaco errichteten Tropaeum Alpium sind unter den von Rom unterworfenen Völkern auch vier Walliser Stämme aufgeführt: die Uberer, die Seduner, die Veragrer und die Nantuaten. Augustus beliess diesen Völkern ihre Gebiete, reorganisierte sie in Civitates und wurde deren Patronus. Dies geht aus den Ehreninschriften für den Kaiser hervor, welche die Walliser Stämme ab 8 v.Chr. im Tempel von Tarnaiae (Massongex), dem Hauptort der Nantuaten, angebracht haben. Sofern die aus der Zeit des Tiberius stammenden, von den – so die genaue Buchstabenfolge – «IIII Civitates» verfassten Inschriften verlässlich sind, könnten sich die vier Stämme zu einem Bund zusammengeschlossen haben. Nach Ansicht mehrerer moderner Forscher wurden bei der Verwaltungsreform unter Kaiser Claudius die vier Walliser Civitates zu einer einzigen zusammengefasst, der Civitas Vallensium, deren Bewohner das latinische Bürgerrecht besassen. Als Hauptort gilt Forum Claudii Vallensium, die städtische Siedlung, die von Claudius bei der Einmündung des Passwegs vom Grossen St. Bernhard ins Rhonetal neben dem früheren Marktort Octodurus (Martigny), dem Hauptort der Veragrer, gegründet wurde. Da keine eindeutigen epigrafischen Zeugnisse vorliegen, ist zwar nicht auszuschliessen, dass die vier Walliser Civitates ihre Identität und ihre Hauptorte beibehalten haben. Doch erscheint dies nicht sehr plausibel, zumal der Name Forum Claudii Vallensium darauf hindeutet, dass die Stadt zum Zentrum aller Bewohner des Wallis wurde.

Gemäss Inschriften waren im Wallis duoviri iure dicundo im Amt. Da die höchsten Beamten einer Kolonie diesen Titel trugen, lässt sich daraus ableiten, dass zwischen den administrativen Strukturen einer Kolonie und denen einer Civitas gewisse Parallelen bestanden. Daneben sind weitere Amtsträger belegt. Eine Inschrift, die unter der Pfarrkirche von Martigny entdeckt wurde, nennt einen sevir Augustalis. Ein Ädil und späterer duumvir ist durch eine merkwürdige Grabstele aus Sitten bekannt, auf der er einen kurulischen Stuhl hatte einmeisseln lassen.

Die Ostschweiz

Auch wenn die spärlichen Funde nur wenig Aufschluss geben, so ist zu vermuten, dass das Gebiet der Ostschweiz ebenfalls als Civitas organisiert war. Die im vicus Curia (Chur) entdeckte Platzanlage mit vier Altären und einer Widmung für Lucius Caesar, den 2 n.Chr. verstorbenen Enkel des Augustus, könnte dem Kaiserkult gedient haben. Möglicherweise war Chur der Hauptort einer Civitas, vermutlich derjenigen des Keltenstammes der Calucones, den Rom im Feldzug von 15 v.Chr. unterwarf. Chur erhielt in der Spätantike wohl den Status eines Munizipiums und wurde zum Hauptort der Rätia prima (Teilung Rätiens zwischen 314 und 354).

Der Keltenstamm der Lepontier war im Alpenmassiv zwischen Tessin und Oberwallis ansässig, die Räter in den Bündner Tälern, vor allem im Engadin und im Veltlin. In den Quellen werden die Vennones, die Rigusci und die Suanetes als weitere Ostschweizer Stämme genannt. Infolge der schlechten Quellenlage wissen wir nichts über ihre Organisation nach der Eroberung durch die Römer.

Das Tessin

Die im Sottoceneri angesiedelte Civitas der Insubrer wurde zusammen mit der übrigen Gallia cisalpina Ende des 2. Jahrhunderts v.Chr., also vor den anderen Civitates der Schweiz, von Rom unterworfen. Die Insubrer waren in die beiden wichtigsten Verwaltungseinheiten dieser Region eingegliedert, in das Munizipium Mailand und die Kolonie Como; der genaue Grenzverlauf zwischen den Territorien dieser beiden Städte ist nicht auszumachen. Zwei vici sind belegt: Primum Subinatum (Riva San Vitale) und ein weiterer, dessen Namen wir nicht kennen, bei Muralto oberhalb von Locarno. Die Insubrer, die gleich behandelt wurden wie die anderen italischen Verbündeten (socii) Roms, erhielten 89 v.Chr. das latinische Bürgerrecht. Die Civitas der Insubrer wurde nach römischem Muster organisiert und von jährlich neu ernannten Magistraten verwaltet. 49 v.Chr. erhielten die Insubrer das römische Bürgerrecht wie alle Bewohner der Gallia cisalpina, und 42 v.Chr. wurde die Civitas, nun mit dem Statut eines Munizipiums, zu Italien geschlagen.

Genf

Der vicus Genf gehörte bis zur Herrschaft des Kaisers Diokletian zur Civitas Vienne. Er wurde bei Verwaltungsreformen im ausgehenden 3. Jahrhundert n.Chr. zur Stadt erhoben, die sich fortan Civitas Genavensium nannte.

Quellen und Literatur

  • R. Frei-Stolba, «Die röm. Schweiz», in Aufstieg und Niedergang der röm. Welt 2, Bd. 5/1, 1976, 288-403
  • H. Wolff, «Kriterien für latin. und röm. Städte in Gallien und Germanien und die Verfassung der gall. Stammesgemeinden», in Bonner Jb., 176, 1976, 45-121
  • R. Frei-Stolba, «Die Räter in den antiken Qu.», in Das Räterproblem in gesch., sprachl. und archäolog. Sicht, 1984, 6-21
  • F. Wiblé, «Nouvelles stèles funéraires d'époque romaine découvertes à Sion», in Vallesia 42, 1987, 354-359
  • W. Drack, R. Fellmann, Die Römer in der Schweiz, 1988, 1-64
  • R. Frei-Stolba, «Un nuovo quattuorvir di Como», in Rivista archeologica dell'antica provincia e diocesi di Como 172, 1990, 232
  • A. Chastagnol, «Les cités de la Gaule romaine», in La Gaule romaine et le droit latin, 1995, 13-27
  • R. Fellmann, «Germania superior, in der Städte sind», in Arculiana 1995, 289-300
  • R. Fellmann, «Die Helvetier entlang des Rhein-Stromes, deren Städte Ganudorum und Forum Tiberii», in Röm. Inschriften, Neufunde, Neulesungen und Neuinterpretationen, hg. von R. Frei-Stolba, M.A. Speidel, 1995, 205-216
  • R. Frei-Stolba et al., «Röm. Zeit», in GKZ 1, 78-85
  • R. Frei-Stolba, A. Bielman, Musée romain d'Avenches: les inscriptions, 1996, 1-5, 21-24, 35-39
Weblinks

Zitiervorschlag

Regula Frei-Stolba, Anne Bielman; Regula Frei-Stolba; Anne Bielman: "Civitas", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 09.10.2006, übersetzt aus dem Französischen. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/007867/2006-10-09/, konsultiert am 19.03.2024.