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Orts- und Flurnamen

Namensschichten am Beispiel ausgewählter Ortsnamen im Thurgau
Namensschichten am Beispiel ausgewählter Ortsnamen im Thurgau […]

Namenforschung oder Onomastik ist die Wissenschaft von den Eigennamen. Eigennamen bezeichnen als Personennamen (Anthroponyme) menschliche Individuen, als Orts-, Gewässer-, Berg- und Flurnamen (Toponyme) einmalige Objekte in der Landschaft. Die Namenforschung ist in erster Linie eine sprachwissenschaftliche Disziplin im Bereich der allgemeinen Linguistik, der Dialektologie und der Sprachkontaktforschung. Zu ihren Aufgaben zählt die systematische Sammlung und Deutung des über Jahrhunderte gewachsenen Namenguts. Als Hilfswissenschaft liefert sie Ergebnisse für die Volks- und Landeskunde, für die Siedlungs-, Wirtschafts-, Rechts- und Kirchengeschichte und stellt Fakten und Argumente für Nomenklatur, Archäologie, Denkmalpflege und Raumplanung sowie für Familiengeschichte und Heimatkunde bereit.

Forschungsgeschichte

Nach wenigen mittelalterlichen, in klösterlichen Quellen greifbaren Deutungsversuchen setzte zur Zeit des Humanismus mit Glarean, Beatus Rhenanus, Aegidius Tschudi, Sebastian Münster, Vadian und Konrad Gessner eine breitere Beschäftigung mit dem Schweizer Namengut ein. Frühe Vertreter einer sich einseitig auf das "Keltische" berufenden Namendeutung fanden sich in der französischen Schweiz mit Abraham Ruchat und Charles Guillaume Loys de Bochat. Die aus heutiger Sicht wissenschaftlich fundierte Namenforschung begann mit der Entdeckung der indoeuropäischen Sprachenfamilie seit dem Ende des 18. Jahrhunderts und der darauf beruhenden Formulierung der Sprachwandelgesetze. Eine Pioniertat auf Schweizer Gebiet war 1848 die Bearbeitung der Zürcher Ortsnamen durch Heinrich Meyer-Ochsner. Aus der Erkenntnis, dass die Deutung einer Namenlandschaft zur Hauptsache von der Sprache der gegenwärtig ansässigen Bevölkerung auszugehen habe, begründete Albert Samuel Gatschet die vergleichende deutsch-romanische Ortsnamenforschung (Ortsetymologische Forschungen 1865-1867). Entscheidenden Einfluss auf die weitere Entwicklung hatten die Redaktoren der vier nationalen Dialektwörterbücher, des "Schweizerischen Idiotikons" (1881-), des "Glossaire des patois de la Suisse romande" (1924-), des "Dicziunari Rumantsch Grischun" (1939-) und des "Vocabolario dei dialetti della Svizzera italiana" (1952-). Mit den um die Wende zum 21. Jahrhundert wieder vermehrt diskutierten eidgenössischen Weisungen von 1948 für die neue Landeskarte wurde in Zusammenarbeit von Kartografen, Geografen und Linguisten eine gegenüber dem bisherigen Gebrauch mehr mundartlich ausgerichtete Orts- und Flurnamenschreibung festgelegt. Die damals gute Vertretung der Onomastik an den Schweizer Hochschulen führte zur Bildung von kantonalen Orts- und Flurnamenforschungsstellen, wobei dem Rätischen Namenbuch die Pionierrolle zukam. Für mehrere Kantone existieren abgeschlossene Namenbücher oder umfangreiche Teilpublikationen. Aus dem Projekt Onoma der Landesausstellung von 2002 entstand das Lexikon der Schweizerischen Gemeindenamen (2005). Im Nationalfonds-Projekt Datenbank der Schweizer Namenbücher ist die Zusammenführung der Daten und Ergebnisse aller Schweizer Namenbuchprojekte im Internet geplant. Mit der Vernetzung der grossflächig bearbeiteten Flurnamendaten ist eine Vertiefung der bislang vor allem auf der Erforschung der Siedlungs-, Gewässer- und einzelner besonderer Flurnamen beruhenden Erkenntnisse zu erwarten.

Forschungsergebnisse: die Namenschichten

Auf dem Gebiet der heute viersprachigen Schweiz lassen sich grob gefasst drei Namenschichten unterscheiden. Eine erste Schicht bilden die Reste einer alteuropäischen Toponymie vor allem in der Makrostruktur, d.h. in Namen von Gewässern wie Aare, Birs, Emme, Rhein sowie Gebirgszügen wie Albis und Alpen, die ab dem 8. Jahrhundert v.Chr. von einer keltisch-helvetischen, im Süden lepontischen, im Südosten rätischen Schicht teilweise überdeckt worden ist. Sie zeigt sich in den auf Völkernamen zurückgehenden Raumnamen Helvetia, Raetia, Leventina (Lepontier) und den Siedlungsnamen wie Avenches, Biberist, Biel, Brig, Chur, Windisch, darunter den keltischen Bildungen mit -dunon "Befestigung" (Minnodunum/Moudon, Olten, Thun, Eburodunum/Yverdon) und denjenigen – in ihrer Bedeutung noch umstrittenen – mit -duron "Tor, Enge" oder "Markt" (Salodurum/Solothurn, Octodurus/Martigny, Vitodurum/Winterthur).

Diese älteste Schicht wird überlagert und latinisiert durch die Sprache der römischen Herrschaft ab der Mitte des 1. Jahrhunderts v.Chr. bis zum Anfang des 5. Jahrhunderts n.Chr. Auf dieser Grundlage erfolgt die Herausbildung der romanischen Schweiz (Frankoprovenzalisch im Westen und Südwesten, Ostfranzösisch im Kanton Jura und in einem Teil des Berner Jura, Alpinlombardisch bzw. Italienisch im Süden, Rätoromanisch im Osten) und eine flächendeckende romanische Namengebung: Zum Beispiel steckt lateinisch campus (Feld) in den Siedlungsnamen Campo TI, Champagne VD, Gempen SO, Campello TI, Gampelen/französisch Champion BE, Gampel VS, Gams SG; lateinisch nucariolum (Nussbaumhain) in Nuglar SO, Neyruz FR, VD sowie Nugerol NE; vulgärlateinisch curtis (Hof) in Court JU, Gurzelen BE, FR und SO, Corcelles BE, NE, VD, Bassecourt JU, Courtelary BE. Die in der Galloromania sehr häufigen Gutsnamen nach dem Muster Personenname plus besitzanzeigendes Suffix -acum sind auch in der westlichen und südlichen Schweiz vertreten: Brissago TI, Dornach SO, Erlach BE, Martigny/deutsch Martinach VS usw.

In einer dritten Phase kommt es zur Überlagerung, teilweise Germanisierung der romanischen Schicht durch die Siedlungstätigkeit der Alemannen ab dem 5. Jahrhundert nördlich, ab dem 6./7. Jahrhundert südlich des Hochrheins Richtung Jura, Mittelland und Voralpen, ab dem 8./9. Jahrhundert im Alpenraum und im Oberwallis. Der in der älteren Forschung vorherrschenden Idee der Landnahme einer Volksgruppe ist allerdings mit Vorsicht zu begegnen, da heute eher von einer molekularen Siedlungsbewegung ausgegangen wird. Zu dieser Phase des Landesausbaus gehören die Sippennamen, gebildet aus althochdeutschen Personennamen und der Endung -i(n)gen wie in Itingen BL, Seftigen BE, Reckingen VS, die Siedlungsnamen aus Personennamen und der Endung -i(n)ghofen wie in Zollikofen BE, Zollikon ZH, Etzikon ZH, Etziken SO, Etzgen AG sowie Personennamen und der Endung -villare (Hof) wie in Bärschwil/französisch Bermevelier SO, Montsevelier/deutsch mundartlich Mutzbel JU, Raperswilen TG, Rapperswil BE, SG. Der weitere Ausbau wird bezeugt durch Flurnamen auf -ried (Rodung, Grafenried BE, Himmelried SO, Ried VS), -berg, -au sowie durch die schrittweise Integration der romanischen Sprachinseln und das Vorrücken der deutschen Sprache und Namengebung: im Wallis rhoneabwärts bis ins 16. Jahrhundert, in der Gegenrichtung ab dem 12. Jahrhundert als sogenannte Walserwanderung nach Osten und, ausgelöst durch die Reorganisation Churrätiens im 9. Jahrhundert, vom Bodensee an rheinaufwärts bis in die Gegenwart.

Die genauen zeitlichen wie räumlichen Umstände der Ausdifferenzierung der heutigen romanisch-deutschen Sprachgrenze in der westlichen Schweiz und ihrer Reflexe in der Namenwelt bedürfen noch eingehender Klärung. Unter Beizug der Ergebnisse der Archäologie und der Geschichte des Mittelalters wurde zu Beginn des 21. Jahrhunderts ein Ansatz länger andauernder Zweisprachigkeit unter dem prägenden Einfluss des fränkischen Reichs bzw. des die westliche Schweiz ("Transjoranien") umfassenden hochburgundischen Königreichs diskutiert.

Quellen und Literatur

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  • P. Glatthard, Ortsnamen zwischen Aare und Saane, 1977
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  • A. Hug, V. Weibel, Die Orts- und Flurnamen des Kt. Uri, 1988-91
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  • H. Stricker et al., Die Personennamen des Fürstentums Liechtenstein, 4 Bde., 2008
Weblinks

Zitiervorschlag

Thomas Franz Schneider: "Orts- und Flurnamen", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 04.04.2016. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/007855/2016-04-04/, konsultiert am 18.03.2024.