Graubünden

Wappen des Kantons Graubünden
Wappen des Kantons Graubünden […]

1524-1803 Freistaat Gemeiner Drei Bünde (Gotteshausbund, Grauer Bund, Zehngerichtenbund) und zugewandter Ort der Eidgenossenschaft, 1799-1803 als Kanton Rätien Teil der Helvetischen Republik, seit 1803 Kanton der Eidgenossenschaft. 1512-1797 gehörten das Veltlin, Chiavenna und Bormio als Untertanengebiete den Drei Bünden. Amtliche Bezeichnungen: Kanton Graubünden, Chantun Grischun, Cantone dei Grigioni; französisch Canton des Grisons. Amtssprachen sind Deutsch, Romanisch und Italienisch. Hauptort ist Chur.

Situationskarte 2023
Situationskarte 2023 […]

Das im Südosten der Schweiz gelegene Kantonsgebiet gliedert sich in rund 150 Täler. Die Surselva und das Engadin, die beiden Haupttäler, verlaufen parallel zum Alpenkamm. Der Rhein entwässert weite Teile des von grossen Höhenunterschieden geprägten Kantons. Am Piz Lunghin oberhalb des Malojapasses, einer Wasserscheide Europas, entspringen der Inn, der ostwärts in die Donau fliesst, die Julia, welche nach Norden in den Rhein fliesst und die Maira, die in den Po mündet.

Quelle: Bundesamt für Statistik, Daten der Eidgenössischen Volkszählungen ab 1850, Strukturerhebung, Statistik der Bevölkerung und der Haushalte. Die Daten ab 2010 sind nicht direkt vergleichbar mit den Ergebnissen der Volkszählungen 1850-2000 (Vollerhebungen). Die Angaben zu «Religion» und «Sprache» von 2010 an basieren auf Stichproben zur erwachsenen Bevölkerung ab 15 Jahren. Bei der Erhebung der «Hauptsprache» sind ab 2010 zusätzlich Mehrfachnennungen möglich.

Von der Urgeschichte bis zur Römerzeit

Ur- und Frühgeschichte

Alt- und Jungsteinzeit

Für Graubünden liegen bisher keine Funde aus dem Paläolithikum (ca. 500'000-8000 v.Chr.) vor, da die Alpentäler damals grösstenteils von Gletschern bedeckt waren. Lediglich aus den spätesten Phasen der Altsteinzeit gibt es mit Chur-Marsöl einen Rastplatz von Jägern, die Silex- und Radiolaritgeräte benutzten (ca. 11'000-9000 v.Chr.). Ein mehrfach begangener Siedlungs- und Werkplatz des Mesolithikums (ca. 8000-5000 v.Chr.) ist in Mesocco-Tec Nev nachgewiesen (Geräte aus Silex und Bergkristall). Aufgrund der mittelsteinzeitlichen Stationen von Pian dei Cavalli in der Region des Splügenpasses und im Valchiavenna (beide Italien) sind aber auch in Graubünden mesolithische Rast- und Siedlungsplätze zu vermuten.

Die zahlreichen Siedlungs- und Werkplätze aus dem Neolithikum (ca. 5500-2200 v.Chr.) konzentrieren sich vor allem auf die tief gelegenen Fluss- und Durchgangstäler. Bei diesen Fundstellen handelt es sich um Mesocco-Tec Nev, Chur-Areal Zindel und Ackermann, Zizers-Friedau, Untervaz-Haselboden, Tamins-Crestis, Cazis-Petrushügel und Castaneda-Pian del Remit. In Chur-Areal Ackermann sind nebst Siedlungsstrukturen mit Holzhütten auch Spuren des Pflugackerbaus belegt. Das jungsteinzeitliche Fundmaterial von Chur lässt Beziehungen zur nördlich gelegenen Lutzengüetle- und Pfyner Kultur erkennen. In Cazis-Petrushügel wurden zahlreiche Sandsteinsägen und Hirschgeweihartefakte geborgen, die an einen Werkplatz denken lassen. Auch das Fundmaterial von Cazis scheint sich in Richtung Alpenrheintal und Ostschweiz zu orientieren (Bezüge zur Horgener Kultur). In Tamins-Crestis traten Reste einer Siedlung zu Tage, die ebenfalls in die Zeit der Horgener Kultur (ca. um 3000 v.Chr.) datieren. Während die Station von Mesocco-Tec Nev in der Zeit um oder nach 5000 v.Chr. benutzt wurde und vermutlich mit frühneolithischen Gruppen Oberitaliens in Zusammenhang steht, gehört die Fundstelle von Castaneda schon ins späte Neolithikum. Auch aus Castaneda liegen vereinzelte Gebäudereste und Spuren eines wohl jungsteinzeitlichen Pflugackerbaus vor. Der jungsteinzeitliche Rastplatz unter dem abriartigen Felsdach von Zernez-Ova Spin und diverse Silex- und Steinbeilfunde aus dem Engadin und Averstal beweisen, dass auch höher gelegene Täler während der Jungsteinzeit – wohl zum Jagen – begangen wurden.

Bronze- und Eisenzeit

In der Bronzezeit (ca. 2200-800 v.Chr.) ist eine starke Zunahme der Besiedlungsintensität festzustellen, die wahrscheinlich mit der Suche nach Kupfervorkommen in Zusammenhang steht. Der bronzezeitliche Mensch besiedelte nicht nur die tief gelegenen Durchgangstäler Graubündens, sondern auch die hochalpinen Täler wie zum Beispiel Engadin, Oberhalbstein und Lugnez. Als Siedlungsstandort wurden neben markanten Hügelplateaus und Hügelkuppen auch Hangterrassen bevorzugt (Höhensiedlungen). Erst in der Spätbronzezeit wurden Siedlungen in den Talsohlen angelegt. In Graubünden und in angrenzenden Gebieten – dem St. Galler Rheintal, dem Fürstentum Liechtenstein und in Teilen Südtirols (Tirol) – zeichnet sich die Kultur der inneralpinen Bronzezeit mit einem recht charakteristischen Fundgut ab. Bedeutende Siedlungen dieser Kultur sind Lumbrein/Surin-Crestaulta, Falera-Muota, Maladers-Tummihügel, Cazis-Cresta, Savognin-Padnal, Salouf-Motta Vallac, Scuol-Munt Baselgia und Ramosch-Mottata. Interessante Siedlungsstrukturen mit guten baulichen Elementen weisen Savognin-Padnal und Cazis-Cresta auf, wo ein- und teilweise auch mehrzeilige Reihenhaussiedlungen entdeckt wurden. Im Gegensatz zur Anzahl der Siedlungsreste ist diejenige der bronzezeitlichen Grabfunde gering. In Donat-Surses fand man vereinzelte frühbronzezeitliche Körperbestattungen (darunter auch eine Doppelbestattung) und in Lumbrein/Surin-Cresta Petschna trat ein mittelbronzezeitliches Gräberfeld mit Brandbestattungen und Grabbeigaben zu Tage (Nekropolen). Aus der Spätbronzezeit sind sowohl vereinzelte Körperbestattungen als auch ein einzelnes Urnengrab nachgewiesen.

Die Felszeichnungen von Carschenna (Sils im Domleschg) in einer Werbung des kantonalen Verkehrsvereins, gestaltet von Weber, Hodel, Schmid, Werbeagentur AG, Zürich, 1992-1994 © Graubünden Ferien, Chur.
Die Felszeichnungen von Carschenna (Sils im Domleschg) in einer Werbung des kantonalen Verkehrsvereins, gestaltet von Weber, Hodel, Schmid, Werbeagentur AG, Zürich, 1992-1994 © Graubünden Ferien, Chur. […]

Grosse Bedeutung hat die mittel- bis spätbronzezeitliche Quellwasserfassung aus Lärchenholz in St. Moritz-Bad, in der – wohl als Weihegaben – mehrere Bronzeobjekte wie Schwerter und ein Dolch sorgfältig deponiert waren. In den Bereich des Kultischen und Religiösen könnten allenfalls die Felszeichnungen von Sils im Domleschg-Carschenna und von Tinizong-Senslas sowie zahlreiche Zeichen- und Schalensteine gehören.

Wiewohl sich der bronzezeitliche Bewohner des Alpenraums vorwiegend von Ackerbau und Viehwirtschaft ernährte, lassen sich auch Kupferbergbau (Oberhalbstein, Oberengadin und Lugnez usw.) und Alpenpasshandel nachweisen. Dagegen spielte die Jagd in der Bronzezeit keine grosse Rolle mehr.

Im Verlaufe der Spätbronzezeit vollzog sich im bündnerischen Alpenraum ein kultureller Wandel. Aus dem Raum Trentino und Südtirol drang die Laugen-Melaun-Kultur ins Unterengadin vor. Von Norden her breiteten sich die Urnenfelderkultur und in der entwickelten Spätbronzezeit die Laugen-Melaun-Kultur in Nord- und Mittelbünden aus. In Südwestbünden (Raum Misox) fasste die tessinisch-lombardische Spätbronzezeit Fuss. In der Eisenzeit (ca. 800-15 v.Chr.) setzte sich diese kulturelle Gliederung innerhalb des bündnerischen Alpenraums fort.

In Nord- und Mittelbünden sind von der frühen Eisenzeit an mit der bemalten Schale von Felsberg, der Keramik aus dem Urnengräberfeld von Tamins und anderen Funden hallstättische Einflüsse auszumachen (Hallstattzeit). Im Verlaufe der älteren Eisenzeit begann sich in Nord- und in Teilen Mittelbündens eine eigene Kulturgruppe mit Keramik vom Typ Tamins und später vom Typ Schneller (sogenannte eisenzeitliche Alpenrheintalgruppen) abzuzeichnen. Zu dieser Regionalgruppe gehören unter anderem die Siedlungen Chur-Welschdörfli, Chur-Sennhof/Karlihof, Fläsch-Luzisteig, Lenz-Bot da Loz, Cazis-Niederrealta, Suraua-Surcasti und Trun-Grepault. Verhältnismässig gut überliefert sind die Siedlungsstrukturen und die Hausgrundrisse in Chur-Markthallenplatz, Chur-Areal Ackermann und zum Teil auch in Lenz-Bot da Loz (befestigte Siedlung).

Im Gräberfeld von Tamins wurden 64 Urnengräber freigelegt. Die Toten verbrannte man auf dem Scheiterhaufen und setzte sie anschliessend in Graburnen bei. Das Fundgut von Trun-Darvella umfasst mehrere latènezeitliche Körpergräber, deren Grabbeigaben zum Teil einen ausgeprägt keltischen Charakter, zum Teil aber auch einen stark lepontischen Einfluss erkennen lassen. Allgemein verstärkte sich in der mittleren bis späten Latènezeit der keltische Einfluss in Nordbünden, was vermutlich auf den Transithandel im Alpenrheintal zurückzuführen ist (Graphittonkeramik, Fibelschmuck usw.). So trat in Cunter-Burvagn bei Grabungen bereits 1786 ein spätlatènezeitlicher Hortfund mit zahlreichen Gold- und Silbermünzen bzw. mit Silberdrachmen von Massilia (Marseille) zu Tage, aber auch Schmuck aus Gold und Silber. Der heute nur noch teilweise erhaltene Fund deutet auf den Nord-Süd-Handel im Alpenbereich hin.

In Südostbünden (Unterengadin/Münstertal) weist die spätbronzezeitliche Laugen-Melaun-Kultur, die sich durch charakteristische Henkelkrüge auszeichnet, bis in die Eisenzeit eine klare Kontinuität auf. Gegen Ende der älteren Eisenzeit (6./5. Jh. v.Chr.) wurde diese Kultur von der sogenannten Fritzens-Sanzeno-Kultur abgelöst, deren keramische Leitformen verzierte Schalen vom Fritzens- und vom Sanzeno-Typ bilden. Bedeutende Siedlungen der Laugen-Melaun- und der Fritzens-Sanzeno-Kultur sind unter anderem Scuol-Munt Baselgia, Ramosch-Mottata und Ardez-Suotchastè, wo sich zum Teil auch interessante bauliche Strukturen beobachten liessen.

Als weitere Regionalgruppe zeichnet sich derzeit eine kleine Gruppe im Raum Zernez ab, die eine gewisse Verwandtschaft zum Fritzens-Sanzeno-Kulturkreis aufweist, sich aber zugleich auch stark in Richtung des Val Camonica im Veltlin ausrichtet. Zu dieser Gruppe gehört die befestigte Siedlung von Zernez-Muota da Clüs. Zur tessinisch-lombardischen Golaseccakultur ist eine weitere Regionalgruppe zu zählen, die sich im Raum Südwestbünden (Misox/Calancatal) manifestiert. In Graubünden sind von dieser Gruppe neben einzelnen Siedlungskomplexen vor allem zahlreiche Grabfunde überliefert, die mitunter aus grösseren Nekropolen stammen. In Mesocco-Coop wurden 16 Bestattungen aus der älteren Eisenzeit, darunter Brand- und Körperbestattungen mit teilweise reichen Grabbeigaben wie Situlen, Rippenzisten (Bronzekessel), Gürtelplatten und Fibelschmuck, entdeckt. Aus Castaneda kennt man neben bescheidenen Siedlungsresten heute über 90 Körpergräber aus der älteren und jüngeren Eisenzeit mit reichhaltigen Keramik- und Schmuckbeigaben (Fibeln, Ohrgehänge, Bernstein usw.). Weitere eisenzeitliche Grabfunde wurden in Cama, Santa Maria in Calanca und Mesocco gemacht. Die reichen Grabbeigaben dieser Regionalgruppe weisen darauf hin, dass die Bevölkerung vergleichsweise wohlhabend war, was wohl auf eine Art Vermittlerrolle der Region im Alpenpasshandel zurückzuführen ist. In Mesocco wurde eine fragmentarisch erhaltene, mit Inschrift versehene Steinstele gefunden. Sie lässt sich nach Schrift und Sprache mit den sogenannten lepontischen Grabstelen des Südtessins vergleichen.

Schon seit Jahrzehnten beschäftigen sich die Althistorie, die Archäologie und die Sprachwissenschaft mit der Frage nach den Rätern. Während man sich heute weitgehend darüber einig ist, dass ihr Kerngebiet im Raum Trentino und Südtirol, im Unterengadin und Nordtirol liegt (Fritzens-Sanzeno- und Laugen-Melaun-Kultur), wird der nord- und mittelbündnerische Raum von der Forschung nur zum Teil als rätisch, teilweise aber auch als keltisch oder als keltorätisch aufgefasst. Der südwestbündnerische Kreis hingegen gilt als lepontisch (Lepontier). Mit der Unterwerfung der Alpenvölker durch die Römer 15 v.Chr. wurde das Ende der eisenzeitlichen Kulturen Graubündens eingeleitet.

Rätien in der Römerzeit

Allgemeines

Die schriftlichen Quellen bieten nur wenig Informationen und geben nur die römische Sicht wieder. Die Verteilung der zahlreichen archäologischen Quellen hängt zum Teil mit der heutigen Siedlungsdichte und damit mit der Grabungsintensität zusammen. Von den ca. 230 römischen Fundstellen im heutigen Graubünden sind 25% Siedlungsfunde, 6% Gräber und die übrigen Einzelfunde, meist Münzen.

Die starke naturräumliche Gliederung in Graubünden bewirkte eine Aufteilung der Siedlungsgebiete in Talschaften, in denen regionale Traditionen und Einflüsse von aussen aufeinandertrafen. Während der 500 Jahre dauernden römischen Herrschaft entwickelte sich in diesen Gebieten eine romanitas, deren unterschiedliche einheimische Substrate erst in Ansätzen erforscht sind (Romanisierung). Die in Ost-West-Richtung verlaufenden Täler öffneten sich zum östlichen Alpenraum. In der frühen Kaiserzeit und besonders in der Spätantike bestanden enge Verbindungen zu Oberitalien, während vom späteren 1. bis 3. Jahrhundert die nordalpinen Täler wie das übrige westliche Rätien stärker auf die römischen Nordwestprovinzen ausgerichtet waren, was sich unter anderem am importierten Geschirr (terra sigillata) ablesen lässt. Lebensgrundlagen boten weiterhin die Bodenschätze – in römischer Zeit vor allem Eisen, aber auch Bergkristall und Lavez – sowie Transport, Weide-, Wald- und Landwirtschaft. Wichtige Süd-Nord-Verbindungen führten über den San Bernardino bzw. über den Septimer oder den Julierpass ins Rheintal, zum Bodensee und an die Donau; diese Alpenpässe erlangten aber nicht die gleiche Bedeutung wie der Brenner oder der Grosse St. Bernhard. Römische Funde säumen auch Lukmanier, Greina, Splügenpass sowie Berninapass. Das Itinerarium Antonini, ein römisches Strassenverzeichnis, und die Tabula Peutingeriana, eine mittelalterliche Kopie einer römischen Karte, führen die wohl mit Wagen befahrbaren Strassen über Septimer oder Julier und Splügen auf.

Von den ersten Kontakten bis zur Eroberung der Alpen (15 v.Chr.)

Nach den Funden waren im 1. Jahrhundert v.Chr., vor der Eroberung, die meisten Bündner Alpentäler bewohnt. Wenngleich selten, so sind Kontakte zu Italien auch nördlich der Alpen belegt, zum Beispiel durch die padanischen Münzen des Cunter Hortfundes und feines Importgeschirr in Chur. Die ersten schriftlichen Quellen schildern die Bewohner der Alpentäler meist als wilde Räuberhorden.

Auch wenn Lucius Munatius Plancus 44 v.Chr. (in Gallien?) einen Triumph ex Raetis feierte, kamen das ganze Alpengebiet und alle Strassenverbindungen zwischen Italien und oberer Donau erst mit dem Feldzug des Drusus und Tiberius 15 v.Chr. unter römische Herrschaft. Der Alpenfeldzug und die römische Präsenz in den Jahren nach 15 v.Chr. sind durch Funde vor allem an der Passroute über den Septimer oder Julier in Bondo, auf dem Septimer, in Savognin (Padnal) sowie bei Tiefencastel bezeugt. Nach Norden führten die Strassen zum Walensee und zum Bodensee. Die indigene Bevölkerung ist in dieser Zeit kaum fassbar, was nicht nur mit Datierungsproblemen einheimischer Funde zu erklären ist, sondern wohl auch mit einer schon im Verlaufe des 1. Jahrhunderts v.Chr. stattgefundenen und durch die römische Eroberung verstärkten demografischen Zäsur, unter anderem durch die Zwangsrekrutierung (cohortes Raetorum et Vindelicorum, Römisches Heer).

Frühe und mittlere Kaiserzeit

Auf dem Tropaeum Alpium werden mehrere besiegte Stämme aus dem heutigen Graubünden genannt. Bis ca. 20-40 n.Chr. bildeten das Wallis und Graubünden mit dem bayerischen Alpenvorland eine administrative Einheit unter einem praefectus Raetis Vindolicis Vallis Poeninae et levis armaturae, während die Südalpentäler zu den italischen Regionen X und XI kamen. Die Provinz Raetia et Vindelicia, deren Kurzform Raetia sich allmählich durchsetzte, wurde vielleicht schon unter Kaiser Tiberius (14-37), spätestens aber unter Kaiser Claudius (41-54) abgetrennt. Ob zuerst Kempten (Cambodunum) Hauptstadt war und erst nach einigen Generationen das im 2. Jahrhundert zum municipium erhobene Augsburg (Augusta Vindelicum), ist zur Zeit noch nicht geklärt. Zentrale Orte im Westteil der 80'000 km2 grossen Provinz waren Kempten, Bregenz (Brigantium) und Chur (Curia). Schon um die Zeitenwende huldigten diese drei Städte nahezu gleichzeitig den kaiserlichen Prinzen – dies unterstreicht nebenbei die Bedeutung Churs – und bezeugten damit ihre Loyalität. Die römischen Stadtanlagen von Kempten und Bregenz sind besser erforscht als diejenige Churs, in dem öffentliche und private Bauten im Welschdörfli am linken Ufer der Plessur ergraben wurden. Wie in Bregenz zeigen sie eine Bebauung entlang der Fernstrasse. Chur hat eine für römische Städte typische Lage; hier verzweigten sich die verschiedenen Strassen über die Bündner Pässe und hier nahm wohl auch die Rheinschiffahrt nach Norden ihren Anfang. Bäder (Thermen), Markt, Handelshäuser, Herbergen, die typischen lang gestreckten Bauten, in denen Gewerbe und Wohnen kombiniert wurden, und Importe dokumentieren die Zentrumsfunktion der Stadt. Nachgewiesen ist auch ein militärischer Posten zur Sicherung des Verkehrs. Schriftliche Quellen über die rechtliche Stellung Churs fehlen; bisher deutet alles auf einen Vicus. Ab ca. 10-30 n.Chr. nehmen Siedlungen und Funde in den Bündner Haupttälern zu. Baute man auch in Chur bis dahin Häuser nach traditioneller Art ganz in Holz oder über Trockenmauersockeln, wurden hier nach der Mitte des 1. Jahrhunderts vermehrt Gebäude mit gemörtelten Mauern und Ziegel- oder Steindächern errichtet. In den Tälern reihten sich dorfartige Siedlungen entlang der Strassen von 300 m (Roveredo) bzw. 515 m (Maienfeld) bis gegen 1500 m Meereshöhe (Zernez). Bevorzugt wurden nach Süden oder Südosten exponierte, oft hoch über dem Fluss liegende Terrassen. Am besten erforscht ist die über eisenzeitlichen Vorläufern gelegene, vom frühen 1. Jahrhundert an kontinuierlich bewohnte ländliche Siedlung von Riom mit mindestens zwei komfortablen gemauerten Gehöften, die auch Reisenden Unterkunft boten. Derartige gemauerte Höfe scheinen als Rastorte an Transitrouten eine besondere Funktion gehabt zu haben. Noch ganz unerforscht, aber vorauszusetzen ist die Alpwirtschaft.

Spätantike

Münzhorte im Alpenrheintal und in Chur sowie Brandhorizonte deuten auch in Graubünden auf unruhige Zeiten im späteren 3. Jahrhundert. Nach der Reichsreform von Diokletian kam Rätien zur Praefektur Italia und wurde, wohl in konstantinischer Zeit, aufgeteilt in die Provinzen Raetia Prima (Hauptstadt zuerst Bregenz, dann im 5. Jh. Chur?) und Raetia Secunda (Hauptstadt Augsburg). Verwaltet wurden die beiden Rätien von je einem praeses; das militärische Kommando führte jedoch ein dux, der seinen Sitz vermutlich in Augsburg hatte, für beide Provinzen gemeinsam. Der Zugehörigkeit zur Praefektur Italia und damit der Orientierung nach Süden entsprechen unter anderem die Importe nordafrikanischen Geschirrs und oberitalischer grünglasierter Keramik; dazu kommen Waren aus dem Nordwesten, wie Argonnensigillata.

Lavezsteinaltar aus römischer Zeit, der 1964 in Sils im Engadin gefunden wurde, 3. Jahrhundert n.Chr. (Rätisches Museum, Chur; Fotografie Remo Allemann).
Lavezsteinaltar aus römischer Zeit, der 1964 in Sils im Engadin gefunden wurde, 3. Jahrhundert n.Chr. (Rätisches Museum, Chur; Fotografie Remo Allemann). […]

Nach der Legende soll der heilige Luzius in Rätien im späten 2. Jahrhundert n.Chr. missioniert haben; archäologisch fassbar ist der Übergang von der antiken Religion zum Christentum erst in spätrömischer Zeit, in der in Chur, Bonaduz und Schiers frühchristliche Kirchenbauten, Memorien und Friedhöfe angelegt wurden (Christianisierung). Sowohl in Chur wie in den Tälern ist ab dem 4. Jahrhundert mit zunehmend grösseren Gemeinden zu rechnen; der Bischofssitz in Chur scheint im späten 4. Jahrhundert gegründet worden zu sein, und ab 451 sind Churer Bischöfe schriftlich bezeugt. Der Übergang zum Christentum bedeutete nicht das Ende aller früheren Kultorte, wie eine Höhle bei Zillis illustriert, die sicher im 4., möglicherweise noch im 5. und 6. Jahrhundert der Verehrung einer unbekannten Gottheit diente. Während weiterhin offene Siedlungen bestanden wie in Chur-Welschdörfli, Riom oder Schiers, wurden vom späteren 3. Jahrhundert an auch Siedlungen und Befestigungen auf Hügeln und unzugänglichen Anhöhen angelegt, mehrfach an Stellen, die bereits eisenzeitliche Befunde lieferten. Neben dem wenig erforschten Kastell Hof Chur ist die befestigte Ansiedlung Castiel-Carschlingg am besten bekannt. Türme und Burgi schützten wichtige Punkte, wie in Salouf (Motta Vallac) oder Sagogn-Schiedberg. Nach den archäologischen Befunden verfielen die römischen Baustrukturen vom 5. Jahrhundert an allmählich und einfache Holzbauten lösten die gemörtelten Steinbauten – eine Ausnahme diesbezüglich sind Kirchen sowie einzelne repräsentative Profanbauten – immer mehr ab (z.B. Castiel, Riom). Viele Orte wurden aber von einer romanischen Bevölkerung kontinuierlich weiterbesiedelt.

Graubünden im Früh- und Hochmittelalter

Herrschaft, Politik und Verfassung

Das frühe Mittelalter (6. bis Mitte 10. Jahrhundert)

Die spätrömische Provinz Raetia Prima bildete unter ostgotischer Herrschaft einen Teil des alpinen Grenzgürtels Italiens (Ostgoten). Als 536/537 die Goten den Franken die Provence und die gotische Alemannia abtraten, wurde wahrscheinlich auch Rätien in das merowingische Frankenreich eingegliedert. Die fränkischen Italienzüge des 6. Jahrhunderts erfolgten wohl zum Teil über die Bündner Pässe. Die fränkische Expansion (6. Jh.) und die alemannische Siedlungsbewegung (6.-7. Jh.) modifizierten die Grenzen der antiken Provinz. Sie weisen auf eine starke Bindung an das Frankenreich zu Beginn des 7. Jahrhunderts. Auch der erste merowingerzeitliche Amtsträger Zacco, der Ahn der sogenannten Zacconen/Viktoriden, dürfte als militärischer Befehlshaber von den Merowingern eingesetzt worden sein. Seine Nachfahren vereinigten die beiden Ämter des praeses und des dux und steigerten durch Übernahme der Bischofswürde ihre Stellung zu einer familialen Samtherrschaft (Churrätien). Spätestens Tello (ca. 765), der zugleich Bischof und praeses war, verwandelte sie in eine klassische regionale Bischofsherrschaft, welche ihre zeitgenössischen Parallelen in Gallien hatte. Wie die Schutzurkunde Karls des Grossen von ca. 773 zeigt, trat Rätien im 8. Jahrhundert wieder stärker in das Gesichtsfeld der Franken. Vermutlich um 806/807 wurde die Bischofsherrschaft durch die Aussonderung des gräflichen Amtsgutes aus dem Kirchengut und die Einführung der Grafschaftsverfassung (Grafschaft) zerschlagen. Erster Graf war Hunfrid, Markgraf von Istrien (Hunfride). Durch den Vertrag von Verdun (843) fiel Rätien definitiv an das ostfränkische Reich. Die Verbindung mit Schwaben wurde zur Zeit Karls III. des Dicken (865/876-887) dadurch gestärkt, dass der Karolinger seine Herrschaft wohl direkt ausübte. Erst nach seinem Tode begegnet Rudolf, wohl ein Welfe, als dux Raetianorum (890), schliesslich Burchard I. als marchio Curiensis (903). Markgraf Burchard war der Stammvater der schwäbischen Herzogsfamilie; sein Sohn Burchard II. erlangte, gestützt auf seine gräflichen Rechte in Rätien, 917 die Herzogswürde. Unter seinen Nachfolgern blieb die Verbindung Rätiens mit Schwaben gewahrt, nur traten an die Stelle der einen Grafschaft nun drei: Oberrätien, das an die Udalrichinger, im 11. Jahrhundert an die Grafen von Buchhorn fiel, der Vinschgau, für den nur zwei Grafen des 10. und 11. Jahrhunderts bekannt sind, bevor er 1141 im erblichen Besitz der Grafen von Tirol stand, und Unterrätien, das bis 982 in der Hand der schwäbischen Herzöge lag und im 11. Jahrhundert den Grafen von Bregenz unterstand.

Privileg von 960, mit dem Otto I. dem Bischof von Chur Hartpert unter anderem die Übertragung des Churer Königshofs sowie der Zolleinkünfte und Grafschaftsrechte im Bergell bestätigte (Bischöfliches Archiv Chur, BAC 011.0018).
Privileg von 960, mit dem Otto I. dem Bischof von Chur Hartpert unter anderem die Übertragung des Churer Königshofs sowie der Zolleinkünfte und Grafschaftsrechte im Bergell bestätigte (Bischöfliches Archiv Chur, BAC 011.0018).

Der Bischofssitz Chur gehörte zum Metropolitansprengel von Mailand, doch mehren sich ab dem ausgehenden 6. Jahrhundert die Anzeichen für eine kirchlich-politische Hinwendung zum merowingischen Frankenreich. 614 besuchte Bischof Victor von Chur das Reichskonzil in Paris, 762 traten Bischof Tello und Abt Adalbert von Pfäfers dem Gebetsbund von Attigny bei. Auch kirchlich bildete der Vertrag von Verdun eine Zäsur; denn von nun an unterstand das Churer Bistum bis 1803/1818 dem Erzbistum Mainz. Die Teilung von 806/807 hatte die altkirchliche Vermögens- und Verwaltungseinheit des Bistums aufgebrochen. Der bischöfliche Besitz wurde im Laufe des 9. Jahrhunderts nur geringfügig zurückerstattet. Im Zusammenhang mit der ottonischen Italien- und Kaiserpolitik erfuhr das Churer Bistum unter Bischof Hartpert (951 bis wohl 971) eine ungeahnte Aufwertung als Stütze des Königs im Südwesten des Reiches. 951 erhielt Hartpert die Fiskaleinkünfte der Grafschaft Chur, 952 die Zollrechte (Zölle) in Chur, 955 den Königshof Zizers, 958 das Münz- und Zollrecht, ferner die Hälfte der Civitas, d.h. des Hofs Chur, 960 den Königshof in Chur mit den dazugehörenden fiskalisch nutzbaren Rechten sowie die Zolleinkünfte und die Grafenrechte im Bergell. Dies bedeutete keineswegs eine Wiederherstellung der umfassenden merowingischen Bischofsherrschaft, denn längst waren die Herrschaftsrechte in Rätien aufgesplittert.

Die Talsperre von Castelmur in einer Gesamtansicht von Nordwesten, aufgenommen zwischen 1923 und 1926 während der von Otto Schulthess geleiteten Ausgrabungsarbeiten (Schweizerische Nationalbibliothek, Bern, Eidgenössisches Archiv für Denkmalpflege).
Die Talsperre von Castelmur in einer Gesamtansicht von Nordwesten, aufgenommen zwischen 1923 und 1926 während der von Otto Schulthess geleiteten Ausgrabungsarbeiten (Schweizerische Nationalbibliothek, Bern, Eidgenössisches Archiv für Denkmalpflege). […]

Die beiden Frauenklöster Cazis, die ältere Gründung des 7./8. Jahrhunderts, und Mistail, die jüngere aus der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts, waren dem Bischof unterstellt; Schänis, das dritte Frauenkloster, gegründet zwischen 814 und 823 durch Graf Hunfrid, blieb dagegen hunfridingisches Eigenkloster bis 1045. Die beiden Männerklöster Disentis und Pfäfers, gegründet im 8. Jahrhundert wohl auf Initiative der Zacconen/Viktoriden und im Falle von Pfäfers anscheinend unter Mithilfe des Klosters Reichenau, stützten sich auf umfassenden Grundbesitz, so Disentis im Vorderrheintal (Tellotestament von 765) und Pfäfers (Urbar von ca. 842/843) im Rheintal unterhalb Ems, im Hinterrheintal (Splügen), im Vinschgau und im Etschland, sowie an der Walensee-Route bis zum oberen Zürichsee. Wie das Kloster Müstair im Vinschgau, an dessen Gründung nach der Eroberung des Langobardenreiches wohl die Bischöfe von Chur sowie der fränkische König beteiligt waren, wurden Disentis und Pfäfers 806/807 dem Reich zugeschlagen. 881 wurde Müstair wieder bischöflich, die beiden anderen Abteien blieben Reichsklöster.

Das hohe Mittelalter (Mitte 10. bis 13. Jahrhundert)

Die Rolle Churrätiens in der Reichspolitik beruhte auf der Bedeutung der Bündner Pässe für die Italienpolitik der deutschen Könige. Otto I. und Otto II. waren nicht zufällig Förderer des Churer Bistums, benutzten sie doch die Bündner Pässe häufiger als die nachfolgenden Könige. Um 1020 übertrug Heinrich II., der 1004 den San Bernardino überquert hatte, das Kloster Disentis dem Bischof von Brixen, zu dessen Herrschaftsbereich der Brennerpass gehörte. Während des Investiturstreits wurden Pfäfers und Disentis kaiser- bzw. papsttreuen Bischöfen unterstellt. Beide Klöster konnten erst im 12. Jahrhundert ihre Selbstständigkeit wiedererlangen. Da ab 1079 die Staufer das schwäbische Herzogtum innehatten, erhielt Churrätien in der staufischen Politik einen hohen Stellenwert. Schon unter Konrad III. waren um 1150 die Lenzburger im Bleniotal, mithin am Südausgang der Lukmanierstrasse, mit den Reichsrechten betraut worden; nach deren Aussterben (1173) rückten die Herren da Torre (Bleniotal) als staufische Amtsträger an ihre Stelle. Friedrich I. förderte das Kloster Disentis zur Sicherung der Lukmanierstrasse. 1164 zog er über den Lukmanier und Disentis nach Ulm, zur Schlichtung der Tübinger Fehde, als deren Ergebnis der Pfalzgraf Hugo von Tübingen 1166 die Grafenwürde in Rätien verlor. Da der Hochvogt des Churer Bistums, Graf Rudolf von Pfullendorf, ein treuer Anhänger der Staufer war und nach dem Tode seines Erben (1167) die Hochvogtei an den Sohn Barbarossas, Friedrich von Schwaben, übertrug (1170), konnten die staufischen Herzöge von Schwaben am Ende des 12. Jahrhunderts noch einmal eine Art herzogliche Verwaltung in Churrätien einrichten. Unter Heinrich VI. verkehrten rätische Adlige am kaiserlichen Hof (1192, 1194); darin spiegelt sich ein verfassungsgeschichtlicher Wandel, der schon im 11. Jahrhundert begonnen hatte: An die Stelle der ausgestorbenen Grafengeschlechter von Ober- und Unterrätien und der auswärtigen Herren aus dem südschwäbischen Raum traten einheimische lokale Gewalten. Äusseres Zeichen dieses Wandels war der Burgenbau, der, im 11. Jahrhundert schon stark verbreitet, seinen Höhepunkt zwischen der Mitte des 12. und dem Anfang des 14. Jahrhunderts erreichte. Um die Burgen gruppierten sich meist nur verhältnismässig kleine Herrschaftsgebiete. Unter den geistlichen Herrschaften war jene des Bischofs von Chur die ausgedehnteste; sie umfasste seit ottonischer Zeit, neben Stadt und Umland Chur, das Bergell und vermutlich auch grosse Teile des Oberengadins, wo der Bischof umfangreichen Grundbesitz durch Kauf von den Grafen von Gamertingen (1137/1139) erwarb. Im Unterengadin gelangten die Bischöfe durch Schenkung in den Besitz der Herrschaftsrechte der Tarasper und verfügten über das bischöfliche Kloster Müstair und dessen Besitzungen im Münstertal und im Vinschgau. Im Vorderrheintal errichtete Disentis eine Territorialherrschaft, Cadi (Casa Dei) genannt, die zum Kerngebiet des späteren Oberen oder Grauen Bundes wurde. In Konkurrenz zu den Bischöfen errichteten die Vazer ihre Herrschaft, die sie in Rätien wohl im Zusammenhang mit der Übernahme von Reichslehen und Reichsgütern in Obervaz erlangt hatten, und zwar im Raum ihrer Klosterstiftung Churwalden, der Lenzerheide und Alvaschein. Bei ihrem Aussterben im 14. Jahrhundert gingen ihre Rechte auf die Grafen von Werdenberg-Sargans über. Im Vorderrheintal konkurrierten mit dem Kloster Disentis unter anderen die Herren von Rhäzüns (Jörgenberg), von Sax-Misox (Gruob, Lugnez) und von Sagogn bzw. von Wildenberg und von Greifenstein, ferner die Freien von Laax. Letztere bildeten wohl ursprünglich einen Personalverband in ganz Oberrätien zwischen Landquart und dem Alpenkamm. Unter den Habsburgern wurden sie territorialisiert zur Grafschaft Laax (1283), zu welcher noch bis ins 16. Jahrhundert auswärtige Freie, besonders um Ilanz ansässige, gehörten.

Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur

Bevölkerung und Sprachen

Zwischen dem 6. und 14. Jahrhundert dürfte die Einwohnerzahl Rätiens – sehr grob geschätzt – von 30'000 auf 60'000 angewachsen sein. In der Bevölkerungsdichte bestanden grosse Unterschiede zwischen den fruchtbaren Haupttälern, in denen sich Marktorte (Fürstenau) und vereinzelt Städte (Maienfeld, Ilanz) entwickelten, und den kargen, abgelegenen Seitentälern. Das demografische Wachstum des Mittelalters beruhte sowohl auf Geburtenüberschüssen als auch auf Zuwanderungen. Diese setzten vermutlich am Ausgang der Antike vom nördlichen Alpenvorland her ein und brachten die vollständige Romanisierung des Landes (Rätoromanisch). Vom Hochmittelalter an wanderten aus dem Walensee- und Bodenseeraum unter anderen Handwerker zu, die sich in Chur niederliessen. Im Puschlav und im Misox setzten sich lombardische Idiome durch. Zwischen dem 12. und 14. Jahrhundert okkupierten die Walser von Westen und Süden her die dünn besiedelten Hochtäler Nord- und Mittelbündens. Mit diesen Migrationen war die Bildung bzw. Veränderung der Sprachräume verbunden: In dem um 1000 noch rein rätoromanischen Gebiet entstanden in und um Chur sowie in den Walser Tälern deutsche Sprachinseln. Die adlige Oberschicht bediente sich ab ca. 1200 des Deutschen als Standessprache. Im Mittelalter stellte Rätien keinen ethnisch geschlossenen Raum dar.

Kirche und Kultur

Die Diözese Chur umfasste ausser dem Gebiet des heutigen Kantons Graubünden – das Puschlav unterstand allerdings Como – das Urserntal, das Sarganserland, das südliche Vorarlberg und den Vinschgau. Sie bestand aus Dekanaten, die den grossen Talräumen entsprachen und anfänglich Grosspfarreien gewesen sein dürften. Ein Filiationsprozess setzte noch vor 1000 ein. Über die Gesamtzahl der Kirchen im hochmittelalterlichen Rätien herrscht Ungewissheit. Im Zuge des hochmittelalterlichen Landesausbaus erfolgten weitere Klostergründungen der Prämonstratenser (St. Luzi in Chur, Churwalden). Die Bettelorden waren in Rätien nur durch die Dominikaner in Chur vertreten. Ausserhalb der klösterlichen Gemeinschaften ist religiöses Leben vor allem in den Wallfahrten zu den volkstümlichen Landesheiligen (Luzius, Florin, Gaudentius, Placidus) und in den archäologisch bezeugten Begräbnissitten fassbar.

Ein Zentrum höfisch-ritterlicher Lebensweise existierte in Graubünden nicht, und auch der bischöfliche Hof in Chur stellte kein solches dar. Dennoch lässt sich eine gewisse Rezeption der ritterlichen Kultur durch den rätischen Adel nachweisen, wobei Einflüsse aus dem Umfeld der Staufer unverkennbar sind. Durchwegs übernommen wurde ab 1200 die Heraldik, wie die Siegel, das Wappenkästchen von Scheid, die profanen und sakralen Wandmalereien sowie die Ritzzeichnungen von Fracstein zeigen. Inhaltliche Kenntnisse der höfischen Epik verrät die Darstellung des Tristanstoffes in den Wandmalereien des Schlosses Rhäzüns. Die drei rätischen Minnesänger Heinrich von Frauenberg, Heinrich von Sax und der Dominikanermönch Eberhard von Sax dürften in den höfischen Zentren des Bodenseeraumes gewirkt haben, der zusammen mit Zürich auf die ritterliche Standeskultur einen starken Einfluss ausübte.

Bärenhatz. Friesartige Fassadenmalerei aus dem 14. Jahrhundert am Westturm des Schlosses Rhäzüns (Fotografie Rätisches Museum, Chur).
Bärenhatz. Friesartige Fassadenmalerei aus dem 14. Jahrhundert am Westturm des Schlosses Rhäzüns (Fotografie Rätisches Museum, Chur). […]

In Rätien behauptete sich ab dem Ende der Antike die Mörtelmauertechnik im sakralen und profanen Repräsentationsbau. Doch herrschte während des Mittelalters in der ländlichen Bauweise die Holzbau- und Trockenmauertechnik vor. Die frühmittelalterlichen Kirchenbauten hielten sich, soweit archäologisch bezeugt (Schiers, Grepault), in bescheidenen Dimensionen. Monumentale Bauformen setzten in karolingischer Zeit ein und entwickelten regionaltypische Grundrisse (rechteckig ummauerte Apsiden, Mehrapsidensäle). Glockentürme sind nicht vor dem 11. oder 12. Jahrhundert belegt. In dieser Zeit löste die halbrunde Einzelapsis die älteren Grundrissformen ab. Mehrschiffige Anlagen kamen in Rätien nur vereinzelt vor (u.a. Kathedrale Chur). Ab ca. 1300 wurden die charakteristischen Stilelemente der Romanik zögernd durch gotische Formen ersetzt. Die Stilbegriffe Romanik und Gotik sind aber nur bedingt auf den mittelalterlichen Profanbau anwendbar, der sich wehrhaft-repräsentativ in den vielen Burgen zeigt. Herausgewachsen aus frühgeschichtlichen Traditionen, folgte der Burgenbau in Graubünden ab dem 11. und 12. Jahrhundert dem europäischen Trend zur Monumentalität. Dominierende Elemente waren Ringmauer, Hauptturm und Schildmauer. Regionale Besonderheiten entwickelten sich aus der Anpassung an das Gelände, doch sind auch auswärtige Einflüsse (Marschlins, Santa Maria in Calanca) nachweisbar. Von Ausnahmen abgesehen (Castello di Mesocco), kam der Burgenbau im 14. Jahrhundert zum Stillstand.

Bis um 1300 bleiben die Zeugnisse künstlerischen Schaffens in Graubünden auf den kirchlich-religiösen Bereich beschränkt, auch wenn vereinzelt Spuren profaner Wandmalereien bis in die Zeit um 800 zurückreichen (Schiedberg). Aus der Zeit zwischen dem 6. und dem 8. Jahrhundert liegen Fragmente von Kirchenausstattungen vor (Wandmalereien, Bodenmosaike, Stuck, Bauplastik). Zusammenhängend erhaltene Freskenzyklen setzen um 800 mit der älteren Malschicht von Müstair ein. Dichter und vielseitiger bieten sich die Werke aus dem Hochmittelalter dar. Sie verraten Einflüsse aus dem Bodenseeraum (Reichenau) und aus der Lombardei (jüngere Malschicht von Müstair, Bilddecke von Zillis, sogenannte Statue Karls des Grossen in Müstair, Bauplastik der Kathedrale von Chur, Glasmalerei von Pleif). Bewegbare Kultgegenstände von hohem Kunstwert haben sich als Einzelstücke erhalten, während von der hochmittelalterlichen Funeralkunst nur Reste überliefert sind.

Wirtschaft und Alltag

Vorder- und Rückseite eines Pfennigs aus der Münzstätte des Churer Bischofs Heinrich II., 12. Jahrhundert, Durchmesser 18 mm (Bildarchiv Preussischer Kulturbesitz / Münzkabinett, Staatliche Museen zu Berlin, Inv. 1928/996).
Vorder- und Rückseite eines Pfennigs aus der Münzstätte des Churer Bischofs Heinrich II., 12. Jahrhundert, Durchmesser 18 mm (Bildarchiv Preussischer Kulturbesitz / Münzkabinett, Staatliche Museen zu Berlin, Inv. 1928/996). […]

Die rätische Wirtschaft des Mittelalters umfasste die vier Hauptbereiche Landwirtschaft, Rohstoffgewinnung, handwerkliche Produktion und Transitverkehr. Die Landwirtschaft war durch Anpassung an Klima und Bodengestalt des Gebirges geprägt. Innovationen gingen vor allem von Klöstern aus. Getreide-, Wein- und Obstbau waren an klimagünstige Lagen gebunden, während die Viehhaltung, die auf die Produktion von Milch (Milchwirtschaft), Käse, Fleisch und Häuten ausgerichtet war, nach dem Prinzip der temporären Alpnutzung bis auf Höhen um 2500 m betrieben wurde. Gartenbau und Sammelwirtschaft (inklusive Jagd und Fischerei) ergänzten die landwirtschaftliche Produktion. Diese vermochte schon im Hochmittelalter den Gesamtbedarf des Landes nicht mehr zu decken. Zum unverzichtbaren Importgut gehörte neben Getreide und Wein das Salz. Exportmöglichkeiten bildeten sich im Bereich der Viehwirtschaft heraus. In der Rohstoffgewinnung stand der Eisenbergbau (Bergbau, Eisen) an erster Stelle (Bernina, Rheinwald, Oberhalbstein), doch wurde auch Silber abgebaut (Engadin). Wichtig waren überdies der Holzschlag (Flösserei in das Unterland) sowie die Gewinnung und Verarbeitung von Speckstein. Handwerkliche Gewerbe waren vor allem in den Städten (Chur) und längs der Transitrouten angesiedelt. Der Vertrieb erfolgte zum Teil über die an Feiertagen in den einzelnen Talschaften abgehaltenen Märkte. Der Transitverkehr verlief im Mittelalter über mehrere Achsen, von denen die ab dem 10. Jahrhundert durch den Bischof von Chur kontrollierte Septimerroute die wichtigste war. Die Organisation (Zoll und Geleit) oblag bischöflichen Dienstleuten und Säumergenossenschaften (Säumerei). Die Einbindung Rätiens in den wachsenden überregionalen Güteraustausch zeigt sich an den Fundmünzen, unter denen die lombardischen und süddeutschen Prägungen überwiegen, obwohl der Bischof von Chur eine eigene Münzstätte unterhielt.

Kastanienernte im Oktober. Ausschnitt aus den Monatsbildern, die als Fresko im Schiff von Santa Maria del Castello in Mesocco dargestellt sind und der Werkstatt von Cristoforo und Nicolao da Seregno zugeschrieben werden, um 1470 © Alfonso Zirpoli, Bellinzona.
Kastanienernte im Oktober. Ausschnitt aus den Monatsbildern, die als Fresko im Schiff von Santa Maria del Castello in Mesocco dargestellt sind und der Werkstatt von Cristoforo und Nicolao da Seregno zugeschrieben werden, um 1470 © Alfonso Zirpoli, Bellinzona. […]

Für weite Teile der Bevölkerung im mittelalterlichen Rätien bestand der Alltag aus den von religiösen Ritualen begleiteten Tätigkeiten der gewerblichen und landwirtschaftlichen Grundversorgung, wobei wie in anderen Teilen des Alpenraumes der Kampf gegen die Naturgewalten des Gebirges eine dominante Rolle spielte. Da sich in Graubünden weder auf herrschaftlicher noch auf genossenschaftlicher Ebene eine grossräumige Ordnungsmacht mit Durchsetzungsautorität herausbildete, blieb das Land unruhig und der Alltag von Gewalttätigkeiten geprägt, die sich an den von Ehre, Ruhm, Rachsucht und Beutegier erfüllten Normen einer kriegerischen Gesellschaft orientierten. In den zumeist als räuberische Kleinkriege ausgetragenen Fehden nahm der grundherrliche Adel eine führende Stellung ein. Höhere Bildung genoss geringe Achtung. Die Wohnweise der breiten Bevölkerung war durch Einfachheit der Behausung und des Hausrats gekennzeichnet. In den Städten setzte sich ein gehobener Wohnstil nur zögernd durch. Regionale Besonderheiten waren unter anderem der Gebrauch des Specksteins, der in Rätien anstelle der sonst üblichen Geschirrkeramik benützt wurde.

Kolonisation und Landesausbau

Das weitgehend selbstständig gebliebene Churrätien erfuhr vielleicht bereits in der Spätantike (5. und 6. Jh.) eine Phase des Landesausbaus. Plausibel erscheint die Hypothese, dass römische Siedler nach Süden ins rätische Bergland zurückströmten, als die römische Herrschaftsgrenze an der Donau und die südlich anschliessenden Gebiete im Alpenvorland aufgegeben werden mussten. Diese Siedler (Coloni) könnten die Haupttallagen intensiver kolonisiert und die Landwirtschaft durch Verbreitung des Acker-, Gemüse-, Obst- und Weinbaus gestärkt haben. Das Roden von Wäldern widerspiegelt sich vor allem in Flurnamen wie Runc oder Ronc sowie in den neuen Bauernhofeinheiten.

Eine weitere Phase wurde zu Beginn des 9. Jahrhunderts eingeleitet, als Karl der Grosse Churrätien stärker als bisher in das karolingische Staats- und Wirtschaftssystem integrierte. Jetzt wurde die Kulturfläche in manche Randlagen der Haupttäler hinein erweitert; vorwiegend entstanden dort Einzelhofsiedlungen (Mansen) oder Weiler (accolae oder aclae), und die Landwirtschaft erfuhr eine kleine Akzentverschiebung vom Ackerbau hin zur Viehwirtschaft (v.a. Schafe). Trotzdem blieb der Ackerbau noch vorherrschend. Dies kommt insbesondere in den ottonischen Urkunden des 10. Jahrhunderts zum Ausdruck, in denen die Institution der quadrae in fast allen altbesiedelten Dörfern erstmals aufscheint: Grosse Kornäcker in bester Lage in unmittelbarer Siedlungsnähe, deren Ertrag vermutlich den Zins der Freien an den König bzw. an den Reichsvogt (Bischof) darstellte. Im Übrigen trat im rätischen Alpenraum im 10. und 11. Jahrhundert ein Stillstand im Landesausbau ein; zumindest schweigen die Quellen weitgehend.

Im 12. und 13. Jahrhundert erfolgte die grosse mittelalterliche Landnahme, in deren Verlauf grossflächig Wälder in Seitentälern und Höhenlagen gerodet wurden. Die guten klimatischen Verhältnisse (mittelalterliches Optimum), Impulse seitens neu gegründeter Klöster, ein emsiger Burgenbau mit angegliederten Landwirtschaftshöfen in abgelegenen Gegenden, die Anlage von neuen Hofsiedlungen und gezielte Anreize der Grundherren stimulierten die Rodungstätigkeit der Freien. Zwischen 1160 und 1220 lösten aus Süddeutschland zugewanderte Prämonstratensermönche um Chur, Churwalden und Klosters eine erste Kolonisationswelle aus; die praktische Landnahmetätigkeit führten Laienbrüder und Konversen aus. Die Prämonstratenser schufen zentral verwaltete Meierhöfe und förderten mit dem Burgenadel vor allem die Grossviehhaltung. Der Adel (Herren von Tarasp, Matsch, Vaz, Belmont, Rhäzüns, Sagogn bzw. Wildenberg usw.) erkannte den Ertragswert der Rodungssiedlungen und bot den Kolonisten günstige Bedingungen wie Freiheit in der Bewirtschaftung, mässigen Zins und freie Erbleihe an. Am Wettlauf um die verfügbaren Siedlungs- und Wirtschaftsareale beteiligten sich sowohl altfreie Romanen und Kolonisten der Südtäler, die häufig die Alpenkammgrenze nach Norden überschritten, als auch die im Lehensvertragsverhältnis stehenden Walser in den Hochtälern. So wuchsen noch im 13. Jahrhundert neue Siedlungsräume im Bereich des Grossen Flimserwaldes, im Tavetsch und Medelsertal, in Vals, Safien, Rheinwald und Avers, Klosters und Davos, im Ober- und Unterengadin heran.

Der Freistaat der Drei Bünde (14.-18. Jahrhundert)

Territorialbildung und kommunale Bewegung im Spätmittelalter

Das politische Geschehen im spätmittelalterlichen Graubünden war zunächst durch die anhaltende Präsenz des hohen Adels bestimmt. Danach stellten die rasche Übernahme der adligen Territorialherrschaften durch neue soziale und politische Führungsschichten sowie das selbstständige Handeln von Gemeinden und deren Zusammenschluss zu frühstaatlichen Gebilden die Grundzüge der Entwicklung dar.

Die Herrschaft des Bischofs von Chur

Die bischöfliche Landesherrschaft (Diözese Chur), die für die Territorialbildung vom Hochmittelalter an relevant war, gliederte sich in ein Dutzend Talschaften. Diese wurden meist von verschiedenen Amtsleuten wie Burgvögten, Vitztumen, Ammännern bzw. Podestaten sowie Meiern von einer Burg aus verwaltet. Auch die Talgemeinden und die Stadt Chur nahmen Einfluss auf die Territorialverwaltung. Sie traten dem Bischof gegenüber als Landstände auf. 1367 schlossen sie sich korporativ zusammen, um eine landständische Mitwirkung von Domkapitel, Dienstleuten (Ministerialität), der Stadt Chur und der Gemeinden an der bischöflichen Herrschaft zu erwirken. Die Bezeichnung für ihren Verband war Gemeines Gotteshaus, ab dem späten 15. Jahrhundert auch Gotteshausbund.

In Südbünden war die Position des Bischofs stellenweise gefährdet, so im Puschlav durch die mailändische Konkurrenz (Mailand). Erst 1408 unterstellte sich die Puschlaver Talgemeinde endgültig der bischöflichen Herrschaft in Chur. Im Unterengadin und im Vinschgau – die beide zur Grafschaft Tirol gehörten – beanspruchte der Bischof die hohe Gerichtsbarkeit über jene Leute, die auf Immunitätsbesitz seiner Kirche sassen. Die entsprechende Vogtei wie auch die Kastvogtei über das Kloster Müstair waren den Herren von Matsch verliehen. Die Matscher verloren diese Vogteirechte 1421 nach einer langwierigen Fehde mit dem Bischof. Darin erkannten die Herzöge von Österreich – ab 1363 Grafen von Tirol – eine Chance für ihre Territorialpolitik. Sie zogen sogleich die Klostervogtei Müstair an sich und kauften 1464 den Matschern die Herrschaft Tarasp ab. Als sie dann versuchten, das Unterengadin und das Münstertal in die Pflegschaft (Gerichtsvogtei) Nauders zu integrieren, stiessen ihre Amtsleute mit den Churer Gotteshausleuten im Unterengadin zusammen. Diese wurden von den Oberengadinern unterstützt. Trotz der Vermittlungsversuche des Bischofs konnte der Konflikt nicht beigelegt werden und löste 1499 den Schwabenkrieg aus. Kampfhandlungen spielten sich auch zwischen St. Luzisteig und Feldkirch, im Engadin und im Münstertal ab. An dessen Ausgang nahmen eidgenössische und bündnerische Truppen in der Schlacht an der Calven am 22. Mai 1499 eine Talsperre und besiegten ein tirolisches Heer.

Territorialpolitik im Westen

Neben dem Bistum konnte als weitere geistliche Herrschaft auch die Abtei Disentis ein eigenes Territorium ausbilden. Im Spätmittelalter verkleinerte sich deren Herrschaftsgebiet jenseits des Oberalppasses, während es sich am Vorderrhein ausdehnte: Ursern wurde zuerst reichsfrei und trat 1410 in ein Landrecht mit Uri, während die Abtei 1472 die Herrschaft Jörgenberg erwerben konnte.

Ursprüng des Hinderen undt Vorderen Rheins. Ansicht aus der Vogelperspektive in Richtung Südwesten auf einem Stich von Matthaeus Merian, der 1642 in Frankfurt in dessen Topographia Helvetiae, Rhaetiae et Valesiae erschien (Zentralbibliothek Zürich, Graphische Sammlung und Fotoarchiv).
Ursprüng des Hinderen undt Vorderen Rheins. Ansicht aus der Vogelperspektive in Richtung Südwesten auf einem Stich von Matthaeus Merian, der 1642 in Frankfurt in dessen Topographia Helvetiae, Rhaetiae et Valesiae erschien (Zentralbibliothek Zürich, Graphische Sammlung und Fotoarchiv). […]

Eine expansive Territorialpolitik entwickelten die Herren von Rhäzüns. Zu ihrer kleinen Stammherrschaft mit den Dörfern Rhäzüns und Bonaduz hatten sie noch im Hochmittelalter Obersaxen hinzugewonnen, offenbar als bischöfliches Lehen. Im frühen 14. Jahrhundert entrissen sie den Herren von Vaz und deren Erben die Herrschaft Jörgenberg. 1383 erwarben sie von den Grafen von Werdenberg-Sargans die Herrschaftsrechte am Heinzenberg, in Safien und Vals. Von da aus griffen sie auf bischöfliche Rechte am Heinzenberg und im Domleschg über, besonders auf die Klostervogtei Cazis. Damit verwickelten sie sich in eine erbitterte Fehde mit dem Bischof, wodurch ihre Expansion aufgehalten wurde. Dieser und andere Fehdekriege trugen 1395 zum Zusammenschluss des Grauen Bundes bei, eines vom Oberländer Adel und der Abtei Disentis initierten Landfriedens, der zuerst Oberer Bund genannt wurde und sich 1406 im Gefolge der Rhäzünser Fehde mit dem Gotteshausbund verbündete. 1424 erneuerte der Graue Bund seinen Vertrag von 1395.

Nach dem Aussterben der Rhäzünser 1458 gingen die von den Sargansern erworbenen Gebiete an diese zurück. Eine Ausnahme bildete Vals, das an die Herren von Sax gelangte. Die übrigen Besitzungen kamen an die Grafen von Zollern. Diese verkauften die Herrschaft Jörgenberg 1472 dem Kloster Disentis, den Rest im folgenden Jahr den Herren von Marmels. Gegenüber den von Marmels behielten sie sich das Rückkaufsrecht vor, bis sie die Herrschaft 1497 König Maximilian von Österreich abtraten. In der Folge galt die Herrschaft Rhäzüns als österreichische Pfandschaft in den Händen der von Marmels.

Die Güter der Herren von Belmont, die vom Bischof mit der Burg Ems belehnt worden waren, lagen in den Gebieten Flims, Gruob und Lugnez. Ob noch weitere Teile ihres Besitzes bischöfliches Lehen darstellten, ist unsicher. Jedenfalls beanspruchte der Bischof die Lehenshoheit über alle ihre Güter, nachdem die Familie 1371 ausgestorben war. 1390 kam es mit den Erben, den Herren von Sax, zu einer gütlichen Lösung. Die Vogtei im Lugnez sollte als Eigen der von Sax gelten, die Herrschaft Castrisch dagegen als bischöfliches Lehen. Mit den Herren von Rhäzüns, die ihrerseits auf das belmontische Erbe zugreifen wollten, konnten sich die von Sax ebenfalls einigen. Die Rhäzünser erhielten Ems, die von Sax die Rechte in der Gruob, später auch noch Vals. Allerdings gerieten die von Sax dann in Streit mit ihren Leuten in der Gruob und mit dem Grauen Bund. 1458 mussten sie sich in das Disentiser Landrecht aufnehmen lassen. Im Lugnez lag die tatsächliche Herrschaft bei den Talvögten, welche die Familien von Lumbrein und de Mont stellten. So veräusserten die von Sax 1483 ihren ganzen Oberländer Besitz an den Bischof und das Gotteshaus von Chur. Der Bischof wurde neben Disentis und dem Herrn von Rhäzüns zum dritten Hauptherrn des Grauen Bundes. Den von Sax blieb noch das Misox, ihre angestammte Herrschaft, für die sie ab 1413 den Grafentitel führten. Hier trafen in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts bündnerische und mailändische Interessen aufeinander. Das obere Vikariat (Mesocco-Soazza) schloss sich 1480 dem Grauen Bund an. Noch im gleichen Jahr verkauften die von Sax die ganze Grafschaft dem Söldnerführer Gian Giacomo Trivulzio aus Mailand. Auch dieser trat 1496 zusammen mit den Misoxer Talleuten dem Grauen Bund bei.

Fehden und bündische Integration in den Rheintälern

Die Grafen von Werdenberg-Heiligenberg waren ab dem späten 13. Jahrhundert Klostervögte von Disentis. Ihr Verhältnis zum Kloster blieb aber stets gespannt, und 1401 lösten Abt und Gemeinde die Vogtei ab. Im frühen 14. Jahrhundert übernahmen die Grafen das Erbe der Herren von Wildenberg und Frauenberg. Die Herrschaft Greifenstein (Bergün) verpfändeten sie schon bald dem Bischof, etablierten sich aber im anderen Teil, der Herrschaft Hohentrins. Mit der Erbschaft waren ausserdem Ansprüche in der Gruob verbunden, wo die Heiligenberger jedoch mit den Herren von Belmont zusammenstiessen. Als sie diese 1352 militärisch angriffen, wurden sie im vorderen Lugnez geschlagen. Auf der Seite der Belmonter kämpften neben den Herren von Rhäzüns auch Talleute. Den Rhäzünsern mussten die Heiligenberger in der Folge das Dorf Felsberg abtreten, während sie sich in der Herrschaft Hohentrins halten konnten. 1399 traten sie mit ihr dem Grauen Bund bei. Nach dem Aussterben der Grafen ging die Herrschaft um die Mitte des 15. Jahrhunderts an die Herren von Hewen über.

Die Grafen von Werdenberg-Sargans erhielten 1338 aus dem Erbe der Herren von Vaz bischöfliche Lehen, nämlich die Grafschaft Schams samt Rheinwald sowie die Vogtei über Safien. Als Eigen übernahmen sie die Herrschaften Obervaz und Heinzenberg, als Pfandschaft von Österreich die Vogtei über die Freien von Laax. Von den Herren von Montalt erwarben sie im Oberland noch die Herrschaft Löwenberg (Schluein) und Vals. Mit Löwenberg und den Freien von Laax traten sie 1395 dem Grauen Bund bei. Die Freien kauften sich 1428 von der sargansischen Herrschaft los, um sich sechs Jahre danach dem Bischof von Chur zu unterstellen. Die Herrschaft Löwenberg kam derweil an kleinadlige Geschlechter, die von Lumbrein und später die de Mont.

Seite aus der Chronik Raetia des Johannes Guler von Wyneck, 1616 (Schweizerische Nationalbibliothek, Bern).
Seite aus der Chronik Raetia des Johannes Guler von Wyneck, 1616 (Schweizerische Nationalbibliothek, Bern). […]

Auf die Dauer konnten die Werdenberg-Sargans ihre territorialherrlichen Ansprüche auch andernorts nicht durchsetzen. 1360 lehnten sich die Talgemeinden Rheinwald und Safien sowie die Freien am Schamserberg gegen die sargansische Herrschaft auf. Dabei wurden sie von den Herren von Rhäzüns, Belmont, Montalt und Sax unterstützt. Diese Verbindung mussten die Sarganser beim Friedensschluss 1362 anerkennen. 1424 trat die Talgemeinde Schams ohne Einverständnis der Sarganser dem Grauen Bund bei. Drei Jahre danach rebellierten die Schamser und die Obervazer; sie waren mit Churer Gotteshausleuten verbündet. Schliesslich verweigerten die Schamser 1431 und 1450 den Huldigungseid (Huldigung, Treueeid). Nun versuchten die Grafen, ihre Herrschaft durch einen Überfall auf das Tal wiederherzustellen. Dabei wurden sie vom Bischof und vom Herrn von Rhäzüns unterstützt. Dagegen erhielten die Schamser Zuzug aus dem Grauen Bund und dem Churer Gotteshaus. Die sargansischen Burgen im Schams und im Domleschg wurden gebrochen, die Herren mussten einlenken. In der Folge veräusserten die Sarganser ihre rätischen Herrschaften: 1456 Schams (ohne Rheinwald) und Obervaz sowie 1475 Heinzenberg an den Bischof und das Gotteshaus, 1493 Rheinwald und Safien an Trivulzio. Nur im Domleschg konnten sie ihre territorialherrliche Position halbwegs halten. Hier besassen sie sowohl Eigengüter wie bischöfliche Lehen. Demgemäss wurde das Tal 1472 in zwei Gerichtsbezirke geteilt, Ortenstein blieb sargansisch, Fürstenau war nun bischöflich.

Landesherrschaft und Widerstand im Norden

Den grössten Teil des Vazer Allodialbesitzes hatten 1338 nicht die Sarganser geerbt, sondern die Grafen von Toggenburg. Sie übernahmen das Landwasser- und das mittlere Albulatal, das innere Prättigau und Churwalden. Im mittleren und vorderen Prättigau lag die Herrschaft im frühen 14. Jahrhundert bei den Herren von Aspermont, die sie an die Grafen von Toggenburg und die Vögte von Matsch veräusserten. Diese teilten 1344 den gemeinsam erworbenen Besitz auf: Das Gericht Castels ging an die Vögte von Matsch, das Gericht Schiers an jene von Toggenburg. Als sich die beiden Geschlechter 1391 verschwägerten, erhielten die Toggenburger auch noch Castels.

Ebenfalls aus der Aspermonter Erbmasse kauften die Toggenburger 1355 bzw. 1359 die Herrschaft Maienfeld. Dabei waren die niederen Gerichte Jenins und Malans nicht inbegriffen. Sie wurden unter kleinadligen Familien vererbt. Schliesslich erwarben die Toggenburger 1363 die Vogtei im Schanfigg. Das bischöfliche Lehen war bei der Teilung des Vazer Erbes den Grafen von Werdenberg-Sargans zugefallen.

Nach dem Aussterben der Toggenburger 1436 schlossen sich die zehn Gerichtsgemeinden im rätischen Teil des toggenburgischen Territoriums zusammen, um den Wegfall des landesherrlichen Schutzes auszugleichen. Der Zehngerichtenbund zielte auf die Erhaltung der eigenen Gerichtsorganisation bei Herrschaftswechseln ab. In der Folge gelangten die Gerichtsgemeinden, von denen acht schon 1437 in ein Bündnis mit dem Churer Gotteshaus eintraten, an verschiedene Herren: Maienfeld und Malans-Jenins an die Herren von Brandis, Castels und später auch Schiers an die Vögte von Matsch, die sechs übrigen (Davos, Klosters, Belfort, Churwalden, St. Peter und Langwies) an die Grafen von Montfort. Bei der Herrschaftsübernahme stellten die Montforter und die Brandiser den Gerichten Freiheitsbriefe aus. Darin bestätigten sie den Bund und gewährten den Gerichtsgemeinden abgestufte Privilegien.

Auch bei späteren Herrschaftswechseln machten die Gemeinden die Leistung des Huldigungseides von der Bedingung abhängig, dass ihre Rechte anerkannt würden. So verweigerten die sechs Gerichte den Herzögen von Österreich die Eidesleistung, nachdem diese 1470 den Matschern die Herrschaft abgekauft hatten. Vor diesem Hintergrund wurde 1471 ein Bündnis zwischen dem Zehngerichtenbund und dem Grauen Bund geschlossen – ein entscheidender Schritt im Integrationsprozess der Gemeinen Drei Bünde. Daraufhin traten die Österreicher die sechs Gerichte wieder den Vögten von Matsch ab, jedoch unter Vorbehalt des Rückkaufrechts. Die Matscher erreichten die Eidesleistung gegen eine Erweiterung der Privilegien. Nachdem die Österreicher den Rückkauf 1477 getätigt hatten, erhielten auch sie die Huldigung, wogegen sie die Garantie der Freiheiten erneuern mussten. Schliesslich erwarb König Maximilian 1496 von den Matschern noch Castels und Schiers für das Haus Österreich.

Staatsbildung, Regieren und Verwalten

Verfestigung des Bündnissystems

In der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts begann sich das rätische Bündnissystem zu verfestigen, wobei jeder der Bünde an seinen eigenen Traditionen festhielt. Die Anfänge einer Staatsbildung manifestierten sich in der Definition der Hilfspflichten, dem Entstehen von Schiedsgerichten und dem Ausarbeiten von Satzungen zur Kriegsführung. Durch mehrere Bündnisverträge integrierten sich ab 1450 der Graue Bund, der Gotteshausbund und die Zehn Gerichte zunehmend in einen als Drei Bünde bezeichneten Verband. Auf den zuerst in unregelmässigen Abständen stattfindenden Bundstagen kamen die Abgeordneten der Gerichtsgemeinden zusammen. Sie bildeten eine neue Führungsschicht, die durch die politisch erstarkten Gemeinden legitimiert wurde. Von 1460 an, erstmals in grösserem Ausmass während der Veltliner Feldzüge 1486-1487, betrieben die Drei Bünde gemeinsam eine eigene Aussenpolitik.

Aussenpolitische Unternehmungen um 1500

Schlacht an der Calven vom 22. Mai 1499. Illustration aus der Luzerner Chronik von Diebold Schilling, 1513 (Zentral- und Hochschulbibliothek Luzern, Sondersammlung, Eigentum Korporation Luzern).
Schlacht an der Calven vom 22. Mai 1499. Illustration aus der Luzerner Chronik von Diebold Schilling, 1513 (Zentral- und Hochschulbibliothek Luzern, Sondersammlung, Eigentum Korporation Luzern). […]

Die Zeit um 1500 war für die Drei Bünde eine Epoche des grossen Umbruchs und Aufschwungs. Der Sieg an der Calven 1499 vermittelte den folgenden Generationen ein neues Selbstwertgefühl. Freiheits- und Unabhängigkeitsgeist führten zu einem verstärkten Staatsbewusstsein, das sich in gemeinsamen aussenpolitischen Aktionen und einer gezielten Bündnispolitik manifestierte. So wurden die Bündnisbeziehungen zur Eidgenossenschaft, in die ab 1497 der Graue Bund und ab 1498 der Gotteshausbund einbezogen waren, schon früh als Freundschaftsverhältnis aller drei Bünde mit den Eidgenossen empfunden. Nach freiem Ermessen – nicht auf die formelle «Mahnung» hin – eilten die Verbündeten einander zu Hilfe. Damit galten die Drei Bünde zwar als zugewandter Ort, waren in Wirklichkeit aber ein gleichberechtigter Bündnispartner.

In der weiteren Bündnispolitik strebten die Drei Bünde Ausgewogenheit an. Ihre ersten Soldverträge schlossen sie mit Frankreich ab (Grauer Bund 1496, alle drei 1509), das seine Position im Herzogtum Mailand ausbaute. Dadurch wurden die früher «wilden» Söldnerdienste einer staatlichen Kontrolle unterstellt. Die Drei Bünde erhielten in der Form von Annaten, jährlich von Frankreich bezahlten Pensionen, regelmässige Einnahmen. Darüber hinaus wurden freier Markt und Güterverkehr garantiert.

Zur Herstellung des aussenpolitischen Gleichgewichts gehörte auch ein erträgliches Verhältnis zum Heiligen Römischen Reich. 1500 schlossen der Gotteshaus- und der Zehngerichtenbund, 1502 auch der Graue Bund mit dem König und späteren Kaiser Maximilian eine Verainung und Verstendnus ab, die gute Nachbarschaft, Zollreduktionen im tirolischen Raum und ein Schiedsgericht vorsah. Diese Verbindung wurde 1518 bestätigt und von nun an «Erbeinung» genannt (Ewige Richtung). Sie erfuhr wiederholt Neuauflagen und behielt bis 1798 ihre Gültigkeit.

Erwerb und Verwaltung des Veltlins

Der Erwerb des Veltlins war die grösste aussenpolitische Unternehmung der Drei Bünde zu Beginn des 16. Jahrhunderts. Die Bünde schlossen sich ungeachtet ihrer Verträge mit Frankreich 1512 im Pavierzug der von Kardinal Matthäus Schiner gebildeten Koalition an und halfen an der Seite der Eidgenossen, die Franzosen aus der Lombardei zu vertreiben. Auf ihrem Auszug besetzten sie Bormio, das Veltlin, Chiavenna und die Drei Pleven am Comersee und eigneten sich diese Gebiete in der Folge als Untertanenlande an. Rechtlich beriefen sie sich dabei auf die sogenannte Mastinische Schenkung (1404 hatte der geflohene Mastino Visconti dem Churer Bischof für seine freundliche Aufnahme das Veltlin geschenkt). Darauf anerkannten der Herzog von Mailand und später auch Frankreich diese Landschaften als bündnerisches Hoheitsgebiet.

Italienische Version der Veltliner Statuten, 1549 (Staatsarchiv Graubünden, Chur, Familienarchiv von Tscharner / Ortenstein, D V/37 B 05.04).
Italienische Version der Veltliner Statuten, 1549 (Staatsarchiv Graubünden, Chur, Familienarchiv von Tscharner / Ortenstein, D V/37 B 05.04). […]

Die Drei Bünde waren auf die Verwaltung der neuen Untertanengebiete nicht vorbereitet. Sie übernahmen von Mailand die seit Jahrhunderten bestehenden Ämterstrukturen. Zur Lösung von administrativen und juristischen Problemen waren sie auf die Erfahrung und das Wissen einheimischer Rechtsgelehrter angewiesen. Die Veltliner Bevölkerung bewahrte ihre Autonomie in der lokalen und regionalen Verwaltung, d.h. im ökonomischen Bereich in den Gemeinden und im Veltliner Talrat. Ihre Rechte und Pflichten wurden von Veltliner Vertretern neu festgehalten und vom Dreibündestaat ausdrücklich in den gedruckten Veltliner Statuten von 1548 anerkannt. Die Bündner Herren setzten mit dem Landeshauptmann (governatore) ihren höchsten Stellvertreter in Sondrio ein. Dieser hatte die Kommandogewalt inne und war mit einer kleinen Hilfspolizei für die Ordnung im Land zuständig. Ebenfalls in Sondrio amtierte der vicari, ein angesehener Rechtsgelehrter, der in Kriminalfällen als oberster Untersuchungsrichter fungierte. In den Verwaltungsbezirken des Veltlins setzten die Bündner Podestaten ein, die den straf- und zivilrechtlichen Gerichten sowie den lokalen Verwaltungen vorstanden. Sämtliche Bündner Amtsleute unterstanden während ihrer zweijährigen Amtsperiode der Kontrolle durch die Syndikatur, einer aus neun Mitgliedern bestehenden Aufsichtsbehörde, die vor dem Bundstag Bericht erstattete. Im 16. Jahrhundert funktionierte das Verwaltungssystem im Allgemeinen gut, obwohl infolge des Zwangs zum Turnus unter den Gerichtsgemeinden nicht immer die fähigsten Magistraten gewählt wurden. Vom 17. Jahrhundert an nahm der Ämterkauf überhand.

Verfassung und Landesgesetze

Politisches System des Freistaats der Drei Bünde um 1700
Politisches System des Freistaats der Drei Bünde um 1700 […]

Am 23. September 1524 gaben sich die Drei Bünde mit dem Bundsbrief eine gemeinsame Verfassung. Die innere Organisation, die ihnen erlaubte, in Fragen von Krieg und Frieden, der Aussenpolitik sowie in der Verwaltung der Untertanenlande geschlossener aufzutreten, blieb stark föderalistisch aufgebaut. Die Gerichtsgemeinden bildeten kleine Republiken für sich. Die oberste Behörde des Dreibündestaates, der Bundstag, setzte sich anfänglich aus 63, später aus 65 Boten der 52 Gerichtsgemeinden zusammen. Diese Deputierten stimmten nur nach Instruktion, trugen zur Anfrage (Referendum) neue Situationen an ihre Gemeinden und kamen mit neuem Auftrag (teilweises Initiativrecht) an den nächsten Bundstag. Eine eigentliche Zentralgewalt fehlte. Als eine Art Exekutive fungierten nach Bedarf die Häupter der Drei Bünde, nämlich der Landrichter des Grauen Bundes, der Bundspräsident des Gotteshausbundes (Bürgermeister von Chur) und der Bundslandammann des Zehngerichtenbundes (Landammann von Davos). Unter Beizug einiger Ratsboten aus jedem Bund konnte sich dieser Kleine Kongress zur Behandlung wichtiger Probleme an sogenannten Beitagen zum Grossen Kongress erweitern. Im Übrigen erschwerte auch das Fehlen einer eigentlichen Landeskasse, eines Voranschlags (Finanzplan) und eines schlagkräftigen Verteidigungsheeres die Führung und Behauptung des Bundes. Dies bekam der Freistaat zwischen 1526 und 1532 deutlich zu spüren, als ihm das Gebiet der Drei Pleven am Comersee entrissen wurde (Müsserkriege). Nach der militärischen Niederlage konnte er nur dank der Intervention befreundeter auswärtiger Mächte seine übrigen Errungenschaften von 1512 behaupten.

Territorium der Drei Bünde (18. Jahrhundert)
Territorium der Drei Bünde (18. Jahrhundert) […]

Demgegenüber bedeuteten die 1524 und 1526 erlassenen Landesgesetze, die sogenannten Ilanzer Artikel, eine Stärkung des inneren Zusammenhalts. Sie hoben den grössten Teil der feudalen Lasten auf, brachen die weltliche Machtstellung des Bischofs von Chur weitgehend und gewährten den Kirchgemeinden völlige demokratische Freiheit zur Regelung ihrer Angelegenheiten. Dadurch wurde im Dreibündestaat die kirchliche Reformation von unten, von den Gemeinden her, ermöglicht. Nach dem Religionsgespräch vom Januar 1526 in Ilanz proklamierte der Bundstag die freie Ausübung des reformierten und des katholischen Bekenntnisses. Es war Sache der einzelnen Individuen und Gemeinden, sich für eine der beiden Konfessionen zu entscheiden.

Der Freistaat zwischen den europäischen Mächten

Satirische Darstellung der politischen Zustände im Freistaat der Drei Bünde. Gouache eines unbekannten Karikaturisten, um 1618 (Rätisches Museum, Chur).
Satirische Darstellung der politischen Zustände im Freistaat der Drei Bünde. Gouache eines unbekannten Karikaturisten, um 1618 (Rätisches Museum, Chur). […]

Von der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts an geriet der Dreibündestaat wegen seiner geopolitischen Situation immer mehr ins Spannungsfeld der gegensätzlichen Interessen von Frankreich und Venedig einerseits und Österreich und Spanien andererseits. Gesandte beider Machtblöcke warben im Lande um Söldnerkontingente, Bündnisse und Durchmarschrechte über die Bündner Pässe. Ihre jeweiligen Parteigänger in den Drei Bünden entzweiten sich zusehends, wobei die Auseinandersetzungen von konfessionellen Gegensätzen überlagert wurden. Auf Drängen einzelner Landsleute und Gemeinden erliess hierauf der Freistaat mehrere Dekrete gegen wilde Zusammenrottungen, die Aufwiegelung zu Strafgerichten sowie die Annahme von Geschenken, Pensionen und Bestechungsgeldern (Pensionenbrief, Kesselbrief, Dreisieglerbrief); diese Massnahmen konnten aber den Einfluss der fremden Geldströme nicht brechen. 1603 scheiterte ein breit angelegter Versuch einer sogenannten Landesreform, die auch Verbesserungen in der Verwaltung der Untertanenlande vorgesehen hatte.

Im selben Jahr gelang es Venedig endlich, mit den Drei Bünden ein Bündnis abzuschliessen. Dadurch wurde das bisherige Gleichgewicht in der Aussenpolitik langfristig gestört. Als die Drei Bünde 1604 den Abschluss eines gleichen Bündnisses mit dem spanischen Herzogtum Mailand ablehnten, verhängte Statthalter Pedro von Fuentes ein Handelsembargo gegen die Bündner und errichtete eine riesige Festung am Eingang zum Veltlin. Der spanische Druck im Süden verstärkte vor allem im Veltlin die Konflikte unter den Bündnern; die anhaltenden Spannungen entluden sich in einer Reihe von Volksaufständen, Fähnlilupfen und Strafgerichten (1607, 1618, 1619), die das Land in anarchische Zustände stürzten und erste Höhepunkte der sogenannten Bündner Wirren markierten. Nach dem Veltliner Mord von 1620 wurde der Freistaat der Drei Bünde zu einem Nebenschauplatz des Dreissigjährigen Krieges, da das Veltlin den einzigen nicht über venezianisches Gebiet führenden Verbindungskorridor zwischen dem habsburgischen Österreich bzw. Tirol und dem spanisch-habsburgischen Herzogtum Mailand darstellte. Die Drei Bünde verloren nicht nur für etwa 20 Jahre das Veltlin, sondern waren zeitweise ein Spielball der Grossmächte. Erst 1639 konnte mit Spanien und Mailand ein Friede geschlossen und das Veltlin zurückgewonnen werden, allerdings nur unter der Voraussetzung, dass die reformierte Konfession dort keinen Platz mehr haben sollte (Erstes Mailänder Kapitulat). Im Westfälischen Frieden erlangte der Dreibündestaat 1648 die völlige Unabhängigkeit vom Deutschen Reich. Die verbleibenden habsburgischen Rechte wurden 1649 und 1652 teilweise ausgekauft.

Unterzeichnung des Bündnisvertrags zwischen der Republik Venedig und dem Freistaat Gemeiner Drei Bünde am 17. Dezember 1706 im Rathaus von Chur. Radierung (Rätisches Museum, Chur).
Unterzeichnung des Bündnisvertrags zwischen der Republik Venedig und dem Freistaat Gemeiner Drei Bünde am 17. Dezember 1706 im Rathaus von Chur. Radierung (Rätisches Museum, Chur). […]

In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts blühten die fremden Kriegsdienste auf, die Kapital ins Land brachten und zu einer Renaissance des bürgerlichen Haus- und Palastbaus führten. Um 1700 wandte sich der Dreibündestaat aus konfessionellen und wirtschaftlichen Gründen stark den Seemächten zu, besonders den protestantischen Staaten England (Grossbritannien) und Holland (Niederlande). Diese Annäherung führte 1713 zu einer Defensivallianz mit Holland. Ferner schloss der Dreibündestaat 1706 ein neues Bündnis mit der Republik Venedig.

Der Verlust des Veltlins und der Untergang des alten Freistaats

Nachdem Österreich um 1714 in den Besitz des Herzogtums Mailand gelangt war, bemühten sich die Drei Bünde 1726 und 1763 um Verbesserungen des Mailänder Kapitulats von 1639. Diese Revisionen brachten nur geringfügige Fortschritte im wirtschaftlichen Bereich und stärkten vor allem die Position der einflussreichen Familie Salis. Minister Ulysses von Salis und andere Führer dieser Aristokratenpartei, welche die Drei Bünde beherrschte, arbeiteten nunmehr einseitig Österreich in die Hände. Dabei brüskierten sie Venedig derart, dass dieses 1764 die Allianz von 1706 aufkündigte und Tausende von Bündner Gewerbetreibenden ihrer Privilegien beraubte, was diese zur Abwanderung zwang. Die von Salis widersetzten sich allen Versuchen, den Reformwünschen der Veltliner Bevölkerung entgegenzukommen. Diese fand weder mit den 15 Beschwerdepunkten von 1786 noch mit dem Progetto finale von 1792 Gehör, obwohl sie damals nur eine erweiterte Teilautonomie anstrebte. Der Unfähigkeit der bündnerischen Behörden, den Staatsapparat zu reformieren, und der Salispartei war es zuzuschreiben, dass sich die Veltliner Bevölkerung im März 1797 für den Anschluss an die Cisalpinische Republik aussprach. Napoleon setzte den Bündnern noch zwei Ultimaten, um sich auf Basis der Gleichberechtigung mit den Veltlinern zu vereinigen. Doch die Bündner liessen beide Fristen ungenutzt verstreichen, womit das wirtschaftlich wie politisch bedeutende Veltlin endgültig verloren war (Confisca).

An der Furcht der herrschenden Familien vor einer Machteinbusse scheiterten auch Versuche zur innenpolitischen Erneuerung, die auf eine Entflechtung des extrem föderativen Staatsaufbaus abzielten. Infolge des beharrlichen Festhaltens an erstarrten staatlichen Strukturen erwies sich der Rumpfstaat nicht in der Lage, sich eindeutig zu den Prinzipien der Französischen Revolution oder zu denjenigen des aristokratisch-monarchischen Österreichs zu bekennen. Im innenpolitischen Widerstreit gefangen, wurde er 1798-1800 Kriegsschauplatz und je zweimal von österreichischen und französischen Truppen besetzt. Der 1799 unterzeichnete Vertrag über die Eingliederung Graubündens in die Helvetische Republik bzw. der schrittweise Vollzug dieses Vertrags ab Mitte 1800 bedeuteten das Ende des alten Freistaats.

Bevölkerung und Siedlung

Für das Mittelalter können zum Bevölkerungswachstum im Gebiet des heutigen Kantons Graubünden nur punktuelle Schätzungen gemacht werden. Die Bevölkerung wuchs von rund 75'000 Personen um 1500 auf den Höchststand von rund 100'000 Personen um 1600 an. Anders als etwa im schweizerischen Mittelland sank die Zahl bis 1750 dann auf ca. 71'000. Nach 1750 setzte ein kontinuierliches, aber äusserst bescheidenes Wachstum ein; 1800 ergab eine inoffizielle Zählung 72'903 Personen. In Südbünden war der Bevölkerungsrückgang im 17. und 18. Jahrhundert noch stärker als in anderen Landesteilen. In den Untertanengebieten Veltlin, Bormio und Chiavenna sollen Ende des 18. Jahrhunderts annähernd 90'000 Personen gelebt haben.

Für Chur ist um 1350 ein Bevölkerungsrückgang nachgewiesen, der bis 1470 durch Zuwanderung aus der Landschaft kompensiert wurde. Die Hauptstadt erhielt dadurch ein neues Profil. Die Klimaerwärmung 1531-1565 ermöglichte eine Intensivierung der Landwirtschaft und den Anbau von Getreide auch in höheren Lagen. Hinweise auf Pfarreitrennungen (Bevölkerungsvermehrung) weisen ebenfalls auf eine Wachstumsphase in dieser Zeit hin. Die Rodungstätigkeit und die Besetzung der Höhenlagen durch einwandernde Walser fanden am Ende dieser Warmphase einen Abschluss. Die folgende Klimaverschlechterung, der Dreissigjährige Krieg, Pestzüge und Versorgungskrisen entvölkerten Graubünden. Von der Pest, die im Gebiet von Graubünden zwischen 1349 und 1635 periodisch auftrat, waren vor allem die Gemeinden entlang der Transitachsen betroffen. Mit Ausnahme der Pestzüge von 1628-1635 (Chur) konnte die Krankheit dank der topografischen Vielgestaltigkeit, Kontrollen und der Zusammenarbeit mit italienischen Städten rasch eingedämmt werden. Weitere Infektionskrankheiten wie Pocken und Tuberkulose, aber auch Hungersnöte (v.a. 1771-1773) erhöhten zwischenzeitlich die Sterberate, insbesondere jene der Kinder. Die rasche Erholung erfolgte jeweils durch eine Erhöhung der Geburtenrate, was vor allem nach dem Dreissigjährigen Krieg deutlich sichtbar wurde. Solche Erhöhungen waren jedoch nur vorübergehend und führten nicht zu einem langfristigen Bevölkerungsanstieg, weil die traditionelle Gesellschaft die Einwohnerzahl mittels Heiratsbeschränkungen (Ehehindernisse) und Auswanderungen ihren ökonomischen Möglichkeiten anpasste.

Bündner Zuckerbäcker in Venedig. Illustration aus dem Band Le arti che vanno per via nella Città di Venezia (Strassenhändler in der Stadt Venedig). Kupferstich von Gaetano Zompini, 1753 (Rätisches Museum, Chur).
Bündner Zuckerbäcker in Venedig. Illustration aus dem Band Le arti che vanno per via nella Città di Venezia (Strassenhändler in der Stadt Venedig). Kupferstich von Gaetano Zompini, 1753 (Rätisches Museum, Chur). […]

Die inneren Alpentäler gehörten zu den bedeutendsten Auswanderungszonen der alten Schweiz. Vor allem Missernten, oft Folgen ungünstiger Witterungseinflüsse, erhöhten die Bereitschaft zur Emigration. Neben der temporären etablierte sich auch die definitive Auswanderung in verschiedenen Formen, insbesondere im ausgehenden 18. Jahrhundert. Die sogenannte Schwabengängerei, die saisonale Auswanderung von Kindern und erwachsenen Hilfskräften für die Landwirtschaft, hielt sich bis zum Ersten Weltkrieg (Saisonarbeit). Vom 16. Jahrhundert an sind insbesondere in Venedig zahlreiche Bündner Zuckerbäcker belegt, aber auch Handelsleute, Kaminfeger, Maurer, Glaser, Baumeister und andere Handwerker. Während vom 15. bis 18. Jahrhundert Venetien und die Lombardei die Hauptziele der kommerziellen Auswanderung waren, verteilten sich die Emigranten ab Ende des 18. Jahrhunderts über zahlreiche europäische Staaten.

Nachdem die Bevölkerung aufgrund von Krieg und Krisen zurückgegangen war, kam es im 17. und 18. Jahrhundert zu Umsiedlungen. Walser gaben hoch gelegene und wenig ertragreiche Siedlungen auf und erwarben Güter in Tallagen. Eine kleine innerbündnerische Wanderungsbewegung (Binnenwanderung) war die Folge, die sich zu Ungunsten des Rätoromanischen auswirkte. Die im Mittelalter vorherrschende Siedlungsform von Einzelhöfen und Weilern machte in der frühen Neuzeit eng umgrenzten Dorfbereichen Platz. Die Einzelhofstruktur hielt sich in spät ausgebauten Gebieten wie zum Beispiel in Teilen des Unterengadins und in den abgeschiedenen Walsertälern am längsten.

Die konsequente Abgrenzung der Bürger (Bürgerrecht) von den Bei- bzw. Hintersässen hielt das Gleichgewicht zwischen der Entwicklung der ständigen Bevölkerung in den Gemeinden und der landwirtschaftlichen Produktion aufrecht. Die Hintersässen waren Heiratsbeschränkungen und dem System der Endogamie unterworfen, womit die Bewirtschaftung lebensfähiger Höfe gesichert war. Das System der Realteilung verkleinerte jedoch die Grösse der Betriebe. Der weitgehende Verzicht auf Neueinbürgerungen im 18. Jahrhundert führte zu einem geringen Innovationspotenzial der Gesellschaft und war mitverantwortlich für die grosse Zunahme der nicht sesshaften Bewohner.

Wirtschaft

Die Bevölkerung des bündnerischen Freistaats lebte bis ins 19. Jahrhundert hauptsächlich von der Landwirtschaft. Eine wichtige Nebenbeschäftigung entlang der Alpenübergänge bildete der Gütertransport, mit dem ein Handel mit dem Ausland einherging. Bergbau und der Export von Holz waren verbreitet. Das Wirtschaftsleben spielte sich vorwiegend auf der Ebene der Gemeinden ab, die ab 1526 (zweiter Ilanzer Artikel) im Besitz der Regale und für allfällige Vorschriften und Abgaben zuständig waren. Der Dreibündestaat befasste sich kaum mit der Wirtschaft, bemühte sich aber aussenpolitisch um Handelserleichterungen und eine sichere Versorgung.

Landwirtschaft

Mit der Auflösung der Grundherrschaft im Spätmittelalter änderten sich die Bedingungen der Landwirtschaft. Die aufkommende Erbleihe (Leihe) weckte ein individuelles Interesse an höheren Erträgen, die durch Verbesserungen an Pflügen, Sensen, dem Zuggeschirr und den Wassermühlen möglich wurden. Die gleichzeitige Ausdehnung der Viehwirtschaft erforderte grössere Weide- und Alpflächen. Sie war bedingt durch den Verlust von Arbeitskräften durch Pest und Fehden. Zwischen 1300 und 1500 kehrte sich das Verhältnis von Kleinvieh- zu Grossviehzucht ins Gegenteil, nämlich von vier zu eins in eins zu vier. Trotz der Aufteilung der feudalen Grosshöfe blieben beträchtliche Unterschiede im Grundbesitz bestehen. Die durchschnittliche Betriebsgrösse lag bei gut 5 ha; der Besitzer eines solchen Hofes dürfte zu den mittleren Schichten gezählt haben.

Grundbesitz des verstorbenen Sebastiano Zoppi, Richters in Monticello, nach der Erbteilung zwischen seinen Söhnen Antonio (Parzellen A), Pietro (B) und Giovanni (C). Handgezeichnetes Kataster vom Cousin der Erben Francesco Zoppi, 1794 (Staatsarchiv Graubünden, Chur, Dauerdepositum Diego Giovanoli, D V/39).
Grundbesitz des verstorbenen Sebastiano Zoppi, Richters in Monticello, nach der Erbteilung zwischen seinen Söhnen Antonio (Parzellen A), Pietro (B) und Giovanni (C). Handgezeichnetes Kataster vom Cousin der Erben Francesco Zoppi, 1794 (Staatsarchiv Graubünden, Chur, Dauerdepositum Diego Giovanoli, D V/39). […]

Im Hochmittelalter – dies zeigen die Urbarien – waren die Produkte der Landwirtschaft noch hälftig auf Ackerbau und Viehzucht verteilt; im Spätmittelalter ging der Anteil des Ackerbaus zurück. In der frühen Neuzeit blieb jedoch das lokal sehr unterschiedliche Verhältnis zwischen Ackerbau und Viehzucht erstaunlich konstant. Die Ilanzer Artikel von 1524 und 1526 bekräftigten die Erbleihe sowie die Abschaffung gewisser Feudallasten und förderten die Ablösung der Zehnten. Die meistverbreitete Wirtschaftsform blieb der gemischte Betrieb, der keine Brache kannte. Während in den nördlichen Gebieten die Wechselwirtschaft zwischen Gras- und Ackerland vorherrschte, war in Südbünden der Dauerfeldbau prägend. Die Obstkulturen und der Weinbau im Domleschg und im Rheintal wie auch die Kastanienhaine und Rebberge in den Südtälern führten zu einer gewissen Vielfalt in den tieferen Lagen. Neben Gerste und Roggen wurden auch Hülsenfrüchte und Hanf angebaut, während die Kartoffel erst Ende des 18. Jahrhunderts weite Verbreitung fand.

Die ausgedehnte Alpwirtschaft erlaubte die Nutzung grosser, sonst weitgehend unproduktiver Flächen (Alpen). Sie war meist genossenschaftlich organisiert, nur etwa ein Fünftel der Gemeinden kannte familiäre Kleinsennereien. Mit Ausnahme des Oberengadins, wo schon ab 1520 Fettkäse für den Export hergestellt wurde, herrschte die Produktion von Magerkäse (Käse) und Butter vor.

Handwerk und Gewerbe

Das ländliche Handwerk diente in erster Linie der Selbstversorgung. Den Schmied (Metallverarbeitende Handwerke), den Müller und den Säger gab es überall; Maurer, Zimmerleute (Baugewerbe), Schuhmacher, Kesselflicker, Tischler und Schneider (Bekleidungsindustrie) waren oft Wanderhandwerker. Preisvorschriften und die gebräuchliche Naturalentlöhnung führten dazu, dass Landhandwerker eher zu den ärmeren Schichten gehörten. Dennoch sind auch auf dem Land einzelne erfolgreiche Kunstschmiede und Tischler bezeugt, die sich einen überregionalen Namen machten, wie etwa die Kunstschmiede Laim in Alvaneu.

Ein Zunfthandwerk etablierte sich nur in Chur. Hier führten die meist zugewanderten Handwerker 1465 ein Zunftregiment ein, das ihnen politische Mitbestimmung und wirtschaftliche Vorrechte sicherte. Die fünf Zünfte der Rebleute, Schuhmacher, Schneider, Schmiede und Pfister umfassten an die dreissig Handwerke und Gewerbe. Die engen Zunftvorschriften verhinderten die Ansiedlung neuer oder grösserer Betriebe. Im 18. Jahrhundert eröffneten Aristokraten einige Manufakturen auf dem Land, mehrheitlich Baumwoll- und Seidenspinnereien bzw. -webereien, die teilweise im Verlagssystem betrieben wurden (z.B. in Tschappina). Viele dieser Gründungen hielten sich aber nicht lange.

Ruinen der ehemaligen Silberschmelzerei von S-charl. Fotografie von Rudolf Zinggeler, um 1920 (Schweizerische Nationalbibliothek, Bern, Eidgenössisches Archiv für Denkmalpflege, Sammlung Zinggeler).
Ruinen der ehemaligen Silberschmelzerei von S-charl. Fotografie von Rudolf Zinggeler, um 1920 (Schweizerische Nationalbibliothek, Bern, Eidgenössisches Archiv für Denkmalpflege, Sammlung Zinggeler). […]

Die Ausbeutung der zahlreichen Eisenerzvorkommen ist von 1200 an – aus diesem Jahr datiert die erste bezeugte Verpachtung einer Erzader im Puschlav – bis ins 19. Jahrhundert in allen Regionen nachgewiesen. Bei Davos, Scuol und im Schams wurde zeitweise auch Silber (Edelmetalle) gefördert. Grössere Verarbeitungszentren für Eisen und Buntmetalle befanden sich in Filisur und Bellaluna (Gemeinde Filisur), später bei Sils im Domleschg und im Schams. Während die Konzessionäre einheimische Aristokraten waren, die sich oft mit Handelsherren aus Chur, Zürich oder Schwaben zusammentaten, stammten die Bergbautechniker und Knappen meist aus Italien oder Österreich. Trotz der kapitalintensiven, aufwändigen Technik und des immensen Holzverbrauchs war die Ausbeute häufig gering.

Verkehr und Handel

Die Bündner Pässe verbanden Nordeuropa mit Italien und waren, auch wenn sie im Schatten des Brenners und des Gotthards standen, von grosser strategischer und wirtschaftlicher Bedeutung. Nachdem der Septimer Ende des 14. Jahrhunderts für die nächsten Jahrzehnte fahrbar gemacht worden war, eröffneten die beteiligten Gemeinden 1473 den Weg durch die Viamala. Schon früh vereinten sich die Passgemeinden der Unteren (Splügen, San Bernardino) sowie der Oberen Strasse (Julier, Septimer) in sechs bzw. vier genossenschaftlichen Transportverbänden, den sogenannten Porten, die aufgrund ihres Transportmonopols für den Unterhalt der Wege in ihrem Bereich zu sorgen hatten (Säumerei, Transportgewerbe). Spediteure versandten die Massengüter mit Fuhrwerken, Saumpferden oder Schlitten meist auf der sogenannten Rod, einem Rotationssystem, das die Verteilung der Säumerdienste auf die Portgenossen regelte. Da die Waren an den Grenzen der Porten jeweils auf die Saumtiere der benachbarten Genossenschaft umgeladen werden mussten, war der Transport insgesamt langsam. Wertvollere Expressgüter wurden deshalb in der Strack- oder Eilfuhr befördert: Ein Berufssäumer führte solche Waren in etwa drei Tagen von Chur bis Chiavenna. Infolge politischer oder wirtschaftlicher Ereignisse unterlag die Menge der Transitgüter bedeutenden Schwankungen. Sie erreichte um 1600 mit 14'000 Saum einen Höhepunkt, fiel im Dreissigjährigen Krieg auf ein Zehntel zurück und erreichte erst mit dem Bau der Kommerzialstrassen Ende des 18. Jahrhunderts wieder mehr als 10'000 Saum. Die Zolleinnahmen und Weggelder, Fuhrlöhne und andere Verkehrseinkünfte machten den Gütertransit zur zweitgrössten Einnahmequelle der Bündner Volkswirtschaft.

Zolltarife in den Drei Bünden. Zusammenstellung von 51 Seiten, die 1756 in Chur von Johannes Pfeffer gedruckt wurde (Schweizerische Nationalbibliothek, Bern).
Zolltarife in den Drei Bünden. Zusammenstellung von 51 Seiten, die 1756 in Chur von Johannes Pfeffer gedruckt wurde (Schweizerische Nationalbibliothek, Bern). […]

Der Handel entwickelte sich parallel zum Gütertransit. Da jeder Bundsmann frei handeln durfte, wurden vor allem im Süden (Lugano, Tirano, Vinschgau) schon früh Butter und Jungvieh gegen Getreide, Salz oder Wein getauscht. Daneben existierte auch ein berufsmässiger Salz-, Wein- und Reishandel. Erst in der frühen Neuzeit löste Mailand Zürich als Hauptgetreidelieferanten ab. Reis war vor allem Transitgut. Salz erhielten die Drei Bünde aus Hall im Tirol und aus Reichenhall in Bayern, während das venezianische Meersalz aus Qualitätsgründen wenig beliebt war. Mittels gesetzlicher Massnahmen, strikter Preiskontrollen und durch den ausgedehnten Grundbesitz von führenden Familien im Untertanenland wurde die Kontrolle über den Veltlinerwein sichergestellt. Jahrmärkte – Ende des 18. Jahrhunderts gab es an die 50 – ergänzten die Wochenmärkte (Märkte) und dienten im Herbst dem Viehabsatz (Viehhandel). Handelshäuser entstanden vor allem im 18. Jahrhundert entlang der Transitstrassen (z.B. jenes der Rosenroll in Thusis), in Ilanz, Davos und natürlich in Chur.

Die militärische Auswanderung

Eine wichtige Einnahmequelle war die militärische Auswanderung. Die italienischen Feldzüge, der Dreissigjährige Krieg und die Kämpfe des 18. Jahrhunderts um das europäische Gleichgewicht beschäftigten Tausende von Bündner Söldnern (Johann Andreas von Sprecher geht davon aus, dass um die Mitte des 18. Jahrhunderts bis zu 10'000 Bündner in fremden Diensten standen). Viele Bündner dienten auch in Garderegimentern in Paris, Wien und Italien. Für die Aristokratie waren die Soldkompanien ein einträgliches, wenn auch spekulatives Geschäft (Militärunternehmer). Sie wurden gehandelt oder vererbt und sicherten eine standesgemässe Lebensführung sowie politisches Ansehen. Für die angeworbenen Soldaten dagegen bildete der fremde Dienst meist eine wirtschaftliche Notwendigkeit; in der Neuzeit brachte er kaum mehr viel ein.

Gesellschaftliche Entwicklung

Die Auflösung der Grundherrschaft im Spätmittelalter zog einen Wandel der Gesellschaft nach sich. Die Verlagerung der Verfügungsgewalt über den Grundbesitz von den nominellen, adligen Eigentümern hin zu den realen, bäuerlichen Inhabern führte in der Agrarbevölkerung ab dem späten 14. Jahrhundert zu einer Nivellierung der Standesverhältnisse zugunsten der un- und halbfreien Menschen. Die Ausstattung der einwandernden Walser und anderer Bauerngruppen mit weitgehenden Freiheitsrechten sowie die sich verstärkende Kommunalisierung sind weitere Merkmale des soziopolitischen Strukturwandels. Da es den Gemeinden gelang, immer mehr grundherrliche Rechte an sich zu ziehen, wurde die feudale Herrschaft über Land und Leute gebrochen. Die hochadligen Territorialherren mussten vermehrt weichen. Höhepunkt und im Wesentlichen auch Abschluss dieses Prozesses bildeten die zweiten Ilanzer Artikel von 1526.

Dem Niederadel, der sich hauptsächlich aus Ministerialen der Territorialherren zusammensetzte, gelang die Verteidigung seiner sozialen Stellung nur teilweise. Ein Drittel konnte sich noch über das 14. Jahrhundert hinaus behaupten, nur ein Fünftel schaffte es, von den feudalen in die kommunalen Funktionärsstrukturen zu wechseln und sich bis in die frühe Neuzeit zu behaupten. Zu den Ministerialen, die im kommunalen Gefüge ihre Machtstellung noch erheblich auszubauen vermochten, gehörten vorab die Salis, von Planta, de Mont und von Castelberg. Daneben bot die Erneuerung der staatlichen Ordnung viel Raum für den Aufstieg neuer Familien aus bäuerlich-bürgerlichen Schichten; vor allem die Beeli, Buol, Capol, Florin, Guler, Jecklin, Schorsch, Sprecher und Tscharner übten vom 15. oder 16. Jahrhundert an Einfluss aus. Eine klare Unterscheidung zwischen niederadligen und bäuerlich-bürgerlichen Geschlechtern innerhalb der Führungsschicht entsprach bereits am Ausgang des Spätmittelalters kaum mehr der sozialen Realität.

Die Bündner Amtsleute in den Untertanenlanden Veltlin, Bormio und Chiavenna im 17. Jahrhunderta

FamilieLandes- hauptmann SondrioVicari SondrioCommissari ChiavennaPodestà MorbegnoPodestà TraonaPodestà TeglioPodestà TiranoPodestà PlursPodestà BormioTotal
von Salis56744141 32
von Planta5358512 130
Buol34222312221
Sprecher344311 3120
von Capol21251212117
Schmid von Grüneck 1221 4  10
de Florin2111 21 19
de Mont2 111 21 8
Enderlin von Montzwick11 1 111 6
Pellizari  1 21 116
Rosenroll21111    6
Schmid/Schmied   1 3 116
Schorsch11  21 1 6
Travers222      6
Janett    1 1215
Jenatsch1   2 11 5
Montalta11 1  1  4
von Porta 2    1 14
Scarpatetti    2 2  4
Gaudenz    1 11 3
Gugelberg von Moos11  1    3
Hartmann    1 11 3
Jagmet 111     3
de Latour1   2    3

a Aufgelistet sind Familien, die mehr als zwei Amtsleute stellten.

Die Bündner Amtsleute in den Untertanenlanden Veltlin, Bormio und Chiavenna im 17. Jahrhundert -  Färber, Silvio: Der bündnerische Herrenstand im 17. Jahrhundert, 1983, S. 134-136

Trotz der Demokratisierung des Staatswesens kann auch in der frühen Neuzeit von einer zumindest ständeartigen Gliederung der Gesellschaft gesprochen werden. Selbst die Bauern waren keine homogene Gesellschaftsgruppe. Reichere und ärmere Bauern unterschieden sich in Ansehen und Lebenshaltung deutlich voneinander. Ab dem 17. Jahrhundert wurde zudem vermehrt zwischen Bürgern und Hintersässen differenziert. Die neue Führungsschicht zeigte im Laufe des 16. Jahrhunderts eine immer stärker werdende Tendenz zur Abschliessung gegen unten (Aristokratisierung). Im 17. und 18. Jahrhundert gelang der Aufstieg deshalb nur noch einzelnen Familien. Die neue, stark oligarchisch geprägte Elite unterschied sich in zunehmendem Masse durch die Betonung von Statusunterschieden vom «gemeinen Volk». Zum angemessenen Lebensstil gehörten vor allem Besitz, aristokratischer Titel und Lebenshaltung, Offiziersränge in fremden Heeren, Bildung, das Heiratsverhalten sowie eine gehobene wirtschaftliche und politische Tätigkeit. Deutlich an der Spitze von Bündens Politik und Gesellschaft standen im 17. und 18. Jahrhundert die Salis und von Planta. Um sie herum gruppierte sich ein engerer Kreis von einem Dutzend einflussreicher Familien. Hinter diesen sind in einem weiteren Kreis zwei Dutzend andere Geschlechter einzuordnen, die entweder nur während ein bis zwei Generationen zur Führungsschicht gehörten oder lediglich regionale Bedeutung erlangten. Alle Familien, Geschlechter und Clans der aristodemokratischen Elite waren zudem mit grossen Teilen der sonstigen Bevölkerung in ein alle Lebensbereiche durchdringendes Klientel- und Patronagesystem eingebunden (Klientelismus), das seine wichtigste Wurzel in dem ab dem 16. Jahrhundert zu erbitterten Parteiungen führenden politischen Interesse der Nachbarstaaten an Graubünden hatte.

Kirchen, Klöster und Konfessionalisierung

Kirchen und Klöster vom 14. Jahrhundert bis zur Reformation

Für die kirchliche Organisation innerhalb Rätiens spielten die Klöster auch im Spätmittelalter eine bedeutende Rolle. Das Kloster Disentis errichtete längs des nördlichen Aufstiegs zum Lukmanier mehrere Hospize. Im Vorderrheintal wurden der Abtei 1491 neun Pfarreien inkorporiert. Eng mit Disentis verbunden war im 13. und 14. Jahrhundert eine Gemeinschaft von Beginen und Begarden bei der Kapelle Sogn Benedetg (Gemeinde Sumvitg). Nach dem Niedergang des Männerklosters Müstair im Hochmittelalter bestand hier von der Mitte des 12. Jahrhunderts an ein Benediktinerinnenkonvent. Dieses Frauenkloster bildete im Spätmittelalter ein Zentrum eucharistischer Mystik (Verehrung des Heiligen Blutes). Die Prämonstratenserpropsteien St. Luzi in Chur und Churwalden wurden um die Mitte des 15. Jahrhunderts zu Abteien erhoben. Zu beiden gehörte bis ins 14. Jahrhundert ein Frauenkonvent, zu Churwalden zudem als Filialkloster die Propstei St. Jakob im hinteren Prättigau (Gemeinde Klosters). Die einzige spätmittelalterliche Klostergründung in Rätien war St. Nicolai in Chur. Die Niederlassung der Dominikaner entstand um 1277 auf bischöfliche Initiative und spielte in der Siedlungsentwicklung Churs eine bedeutende Rolle. Hier konstituierten sich Laienbruderschaften, hier stifteten Kleinadlige und Handwerker ihre Seelenmessen.

Die Stiftung neuer Kirchen war zunächst vor allem Sache der Feudalherren, die auch meistens das Patronatsrecht besassen. An ihre Stelle trat im Spätmittelalter das in Siedlungsverbänden organisierte Kirchenvolk: Nachbarschaften tätigten im 15. Jahrhundert über hundert Kapellen- und Pfründenstiftungen (Pfründen). Solche Stiftungen führten zur Bildung neuer Pfarreien. Die Nachbarschaften erstrebten zunächst eine eigene lokale Seelsorge, dann auch patronale Rechte. Um 1500 wurde mehr als ein Viertel der hauptamtlich tätigen Priester von kommunalen Stiftungen unterhalten. In über einem Fünftel der Fälle wirkten die nachbarschaftlich organisierten Kirchgenossen bei der Priesterwahl mit, in mehr als einem Drittel kontrollierten sie die Verwaltung des Pfrundgutes. Daneben bestanden als geistliche Körperschaften das Augustinerchorfrauenstift Cazis, das Kollegiatstift von San Vittore im Misox, die Hospize Chapella bei S-chanf (gegründet von der Pfarrei Zuoz) sowie San Romerio/San Remigio bei Brusio (betreut von einem Augustinerstift). Die beiden Hospize gingen im frühen 15. Jahrhundert ein.

Reformation und Katholische Reform

Höhepunkt der auf die Ablösung der weltlichen und kirchlichen Herrschaftsrechte des Bischofs von Chur zielenden Gemeindebewegung bildeten die zweiten Ilanzer Artikel von 1526, die neben der Schmälerung der weltlichen Rechte des Hochstifts dem Bischof die geistliche Gerichtsbarkeit aberkannten, ein Indigenat bei der Besetzung geistlicher Ämter verankerten – die Ämter sollten nur von Einheimischen besetzt werden – und die Gemeindehoheit über die Pfarrerwahl sowie über die Verwaltung des Kirchenvermögens festschrieben. Zwar waren die Ilanzer Artikel noch kaum dogmatisch gebunden und zielten auf eine vorkonfessionelle Gemeindekirche, deren Grundsätze auch in später katholischen Gemeinden mindestens bis ins frühe 17. Jahrhundert galten, dennoch erschwerten sie die Verfolgung der evangelischen Bewegung durch die Kirchenbehörden und erleichterten dadurch deren Ausbreitung. Etliche Forderungen der Ilanzer Artikel wurden 1541 im Wahlkapitulat mit Bischof Lucius Iter vertraglich durchgesetzt (sogenannte VI Artikel). Zwischen den 1520er und 1550er Jahren häuften sich Abgabenverweigerungen und Rechtsablösungen um geringe Preise. 1558-1561 und während der Herrschaftszeit von Beatus a Porta stand das Bistum mehrmals kurz vor der Auflösung. Gleichzeitig waren Amtsfunktionen der Diözese einem drastischen Zerfall ausgesetzt: In die zweite Hälfte des 15. Jahrhunderts zurückverfolgbare Reformbestrebungen versiegten nach 1527, das Domkapitel löste sich nach 1529 weitgehend auf und ab den späten 1530er Jahren fehlten der Generalvikar sowie der Weihbischof.

Die Konfessionen in den Drei Bünden Mitte 17. Jahrhundert
Die Konfessionen in den Drei Bünden Mitte 17. Jahrhundert […]

Zentrum der reformatorischen Bewegung war Chur, in dem sich der neue Glaube 1523-1527 unter Stadtpfarrer Johannes Comander durchsetzte. Da auf das Ilanzer Religionsgespräch von 1526, in dem sich Comander gegen die vom bischöflichen Generalvikar beim Bundstag erhobene Klage auf Häresie verteidigte, kein Urteil folgte, konnte sich der neue Glaube ungehindert ausbreiten. Zwischen der ersten, von einem durchziehenden Reformator gehaltenen evangelischen Predigt und dem formellen Gemeindebeschluss bis zur Wahl eines Prädikanten sowie der oftmals konfliktreichen Beseitigung der Kirchenzierden konnten allerdings Jahrzehnte vergehen. Während sich die meisten Gemeinden des Zehngerichtenbunds und Teile des Grauen Bunds (Gruob, Thusis, Heinzenberg, Schams, Avers) schon in den späten 1520er und 1530er Jahren der Reformation anschlossen, übernahmen das Engadin und die angrenzenden Täler den neuen Glauben mehrheitlich im dritten Viertel des 16. Jahrhunderts. Einzelne Gemeinden aus den nördlich der Alpenpässe gelegenen Teilen des Gotteshausbunds vollzogen den Übergang sogar erst im späten 16. und frühen 17. Jahrhundert. Dementsprechend lang dauerte der Aufbau einer reformierten Landeskirche. Treibkraft dieses Vorgangs war die Schaffung und Wahrung einer dogmatischen Einheit, wobei dem um 1545-1571 in Chiavenna unter den italienischen Glaubensflüchtlingen schwelenden Kirchenstreit zwischen Vertretern der Bullinger'schen Orthodoxie und der täuferischen bzw. antitrinitarischen Lehren eine herausragende Bedeutung zukommt (Täufer, Antitrinitarier). Die Anfänge der Bündner Synode gehen auf 1537 zurück, doch enthält erst die Confessio Raetica (1553) eine Synodalordnung. Eine institutionelle Verfestigung mit geregelter Protokollführung, Institutionalisierung der Kirchenleitung, Regelung der Beziehungen zu den weltlichen Behörden und den Anfängen einer Kirchenzucht im calvinistischen Sinn erfolgte in den 1570er Jahren parallel zur Durchsetzung der protestantischen Orthodoxie und war eng mit dem Wirken Ulrich Campells verknüpft. Zum Abschluss kam der Aufbau einer flächendeckenden Landeskirche aber erst mit dem vom Bundstag 1628 erlassenen Sittenmandat, das eine eigentliche Kirchenordnung darstellte, und den mit kleinen Ergänzungen bis 1808 geltenden Synodalgesetzen von 1645. In den Gemeinden setzten die Presbyterien die Kirchenzucht durch, ausserdem überwachten regionale Pfarrerkolloquien die Amtsführung und Lehre der Pfarrer.

Der Hauptanstoss zur katholischen Reform ging von den päpstlichen Nuntien in Luzern aus, die das Bistum ab 1578 periodisch visitierten. Sie leiteten in der Regel auch bis ins frühe 18. Jahrhundert die Bischofswahl. Die ab 1580 erfolgten Anweisungen der Nuntien zielten darauf ab, das Domkapitel und den ländlichen Seelsorgeklerus zu reformieren. 1599 folgte der Erlass einer grundlegenden Ordnung für die kirchliche und weltliche Verwaltung des Hochstifts. In den Bündner Wirren nötigte der Nuntius Alessandro Scappi den Drei Bünden unter dem Schutz der österreichischen Besatzung 1623 die Einwilligung zur Restitution der Rechte ab, die das Churer Hochstift vor 1526 besessen hatte. Zwar erwies sich die Wiederherstellung der weltlichen Rechte als weitgehend unmöglich, im Bereich der Kirchenreform waren aber die Folgen in einer Belebung der kirchlichen Tätigkeit des Bischofs spürbar, etwa beim geistlichen Gericht, den Visitationen in Verbindung mit Firmreisen oder bei Pfarrerwahlen. Schliesslich setzten die Nuntien durch, dass die VI Artikel von 1541 ab der Bischofswahl von 1627 nicht mehr beschwört werden mussten und dass das von 1526 an beanspruchte Indigenat ab 1661 aufgegeben wurde. Von den letzten Jahren des 16. Jahrhunderts an standen auch im Innern des Bistums im tridentinischen Sinn ausgebildete Kirchenmänner zur Verfügung. Als Reformbischof erliess Johann Flugi Bestimmungen für den Diözesanklerus (1605), welche die Beschlüsse des Konzils von Trient in diözesanes Kirchenrecht überführten. Wichtiger Reformträger war der Kapuzinerorden, der unter dem Schutz der österreichischen Besetzung 1621 vorab zur Rekatholisierung des Prättigaus und des Unterengadins eingesetzt wurde; nach dem französischen Einmarsch 1624 setzte sich der reformierte Kultus dort aber allmählich wieder durch. Grössere Bedeutung erlangte der Orden in der Seelsorge in katholischen Gebieten. Um 1650 wurde rund ein Drittel der katholischen Pfarreien von Kapuzinern versehen. Angesichts der ab 1526 nur spärlichen Ausstattung der Pfründen garantierten die vor allem von auswärts unterhaltenen Patres kostengünstig eine ausreichende geistliche Betreuung. In der Verbreitung barocker Frömmigkeits-, Bau- und Kunstformen spielten sie eine ausschlaggebende Rolle.

In Mainz gefertigter Stich von Heinrich Jonas Ostertag und Bartol Anton Cöntgen. Illustration aus den Rätzeln des pietistischen Theologen Daniel Willi, die 1736 in Lindau bei Stettner erschienen (Kantonsbibliothek Graubünden, Chur).
In Mainz gefertigter Stich von Heinrich Jonas Ostertag und Bartol Anton Cöntgen. Illustration aus den Rätzeln des pietistischen Theologen Daniel Willi, die 1736 in Lindau bei Stettner erschienen (Kantonsbibliothek Graubünden, Chur). […]

Die Konfessionalisierung der beiden Kirchen zwischen den 1570er und den 1640er Jahren erfasste die Landesbevölkerung schliesslich flächendeckend; mit ihr fand das konfessionelle Moment auch in die bündnerischen Faktionskonflikte Eingang (Konfessionalismus). In den 1610er Jahren, besonders ausgeprägt in den 1640er und 1650er Jahren sowie vereinzelt bis in die 1740er Jahre fanden in gemischtkonfessionellen Gemeinden Konflikte vorab um Kirchennutzung und Kirchengut statt. Sie führten beim Bundstag zur Bildung eines Corpus catholicum und der Evangelischen Session (Corpus evangelicum), die seit den frühen 1640er Jahren zu religionspolitischen Fragen in getrennten Sessionen tagten. Institutionalisierte Mechanismen der Konfliktlösung wurden jedoch in der Folgezeit nicht ausgebildet. Nach dem Verebben der Konflikte im frühen 18. Jahrhundert gingen beide Glaubensgemeinschaften ihre eigenen Wege. Über die holländischen Solddienste und das häufig in Halle absolvierte Studium verbreitete sich der Pietismus ab den 1710er Jahren unter den Reformierten. Führungsgestalt in dieser Zeit war Daniel Willi. Ab 1745 wurden die Drei Bünde wiederholt von herrnhuterischen Sendboten besucht, die hier eine beträchtliche Anhängerschaft aufbauen konnten (Herrnhuter Brüdergemeine). Bis gegen 1780 blieben die beiden Strömungen zeitweise dominant, wurden dann aber rasch von der vorwiegend reformierten Aufklärung verdrängt.

Entwicklung des Schulwesens

Schulinitiativen der frühen Neuzeit wurzelten vornehmlich im Interesse der beiden konfessionalisierten Landeskirchen an der systematischen Katechisation der Gläubigen sowie an einem steten Nachwuchs qualifizierter Geistlicher. Im Bereich der höheren Bildung blieben die wiederholten Anstrengungen des Bundstags, unter Heranziehung von Kirchengut eine Landesschule zu schaffen, ohne Wirkung; so scheiterten zum Beispiel die beiden umstrittenen Gründungsprojekte in Sondrio 1584 und 1618-1619. Ebenso wenig Erfolg war dem Bischof bei dem Versuch beschieden, gemäss den Vorgaben des Tridentinums ein diözesanes Priesterseminar zu errichten. Einzig die Churer Lateinschule nahm nach ihrem Ausbau zu einem Collegium philosophicum im frühen 18. Jahrhundert die Aufgaben einer Hochschule im bescheidenen Rahmen war. Infolge dieser Aufwertung verlor das zuvor universelle Auslandstudium der reformierten Bildungselite etwas an Bedeutung. Der Aufklärungspädagogik verpflichtet waren die von der weltlichen Oberschicht ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts betriebenen Bildungsanstalten in Haldenstein, Marschlins, Jenins und Reichenau.

Die Institutionalisierung des Volksschulwesens setzte im zweiten Viertel des 17. Jahrhunderts ein. Nach dem Erlass der Kirchenordnung von 1628, welche die Gemeinden zur Unterhaltung von Schulen verpflichtete, erfolgte in reformierten Gebieten die Äufnung von Schulfonds und die regelmässige Anstellung von Lehrern. In katholischen Gebieten setzte die Volksschulbewegung mit den Katechesebruderschaften ein, die im Zuge der sich ausbreitenden Barockfrömmigkeit gegründet worden waren. Vor allem im 18. Jahrhundert wurden in katholischen Gebieten auch Kaplaneien gestiftet, deren Benefiziaten ausdrücklich zum Schulunterricht verpflichtet waren.

Die kulturelle Entwicklung

Schriftkulturen und Literatur

Die lateinischen Schriften der vorkonfessionellen Humanisten der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, unter denen Simon Lemnius und der italienische Emigrant Franciscus Niger herausragen, waren auf ein internationales Gelehrtenpublikum ausgerichtet. Verschiedene Autoren wie Ulrich Campell, Fortunat Sprecher von Bernegg und Fortunat von Juvalta verfassten auch in der frühen Neuzeit noch lateinische Chroniken.

Die ältesten deutschsprachigen Sagen- und Legendenfragmente datieren aus dem Hochmittelalter, ebenso einzelne Bruchstücke aus Gedichten des Rudolf von Ems, des Minnesängers Heinrich von Frauenberg (in der Manessischen Handschrift) und des Eberhard von Sax. Das nicht religiöse deutsche Schrifttum des 16. und 17. Jahrhunderts beschränkte sich auf Chroniken (z.B. von Hans Ardüser), grosse Geschichtswerke und einige literarisch anspruchslose Gedichte polemischer Natur, die zum Teil in Mundart abgefasst sind. Von der gelehrten Aristokratin Hortensia Gugelberg von Moos stammen religiöse Schriften sowie die Conversations-Gespräche von 1696. Im 18. Jahrhundert verherrlichten in Niedersachsen Johann Jakob Dusch, ein Nachkomme bündnerischer Emigranten, und «Rätiens Adoptivsohn» Heinrich Zschokke nach Albrecht von Hallers Vorbild die Bündner Heimat in Idealbildern des einfachen ländlichen Lebens. 1785 erschien eine Ausgabe der Bündnerlieder Martin von Plantas in der Vertonung des Lehrers und Verlagsherrn Konrad Greuter, 1786 die Dichtung Die Bernina von Johann Baptista von Tscharner.

Mit den ab 1527 entstandenen ladinischen Texten des Engadiner Notablen Johann Travers nahm die rätoromanisch-volkssprachliche Schriftkultur ihren Anfang (Rätoromanische Literatur). In der Folge stand die Produktion volkssprachlicher Texte sowie der ersten rätoromanischen Grammatiken bis gegen Mitte des 18. Jahrhunderts im Dienst der Konfessionskirchen; reformierte Bibelübersetzungen, Katechismen und Liederbücher beider Konfessionen sowie katholische Andachtsbücher stellten den Grundstock des populären Lesestoffs dar. Ab der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts entstanden auch Passions- und Fastnachtsspiele in rätoromanischer Sprache, im 18. Jahrhundert ausserdem politische Dichtung (Georg Anton Vieli) und Theaterstücke (Peter Anton de Latour).

Die italienischsprachigen Talschaften weisen vor 1800 keine eigene literarische Tradition auf; sie orientierten sich kulturell gänzlich an Italien. Dantes und Petrarcas Nachahmung zeigt sich in den acht Sonetti von Martino Bovollino (1519) aus Mesocco und Paganino Gaudenzi aus Poschiavo, der vor allem in Italien lebte und wirkte. In Gaudenzis zahlreichen und verschiedenartigen Werken (historische und philosophische Abhandlungen, 700 Sonette, publiziert 1648) ist der Einfluss der Zeitgenossen Giambattista Marino und Galileo Galilei spürbar. Die Oratione des Architekten Gabriele de Gabrieli aus Roveredo und die italienischen Verse von Francesco Rodolfo Mengotti (nach 1786) aus Poschiavo verraten den Einfluss der römischen Akademie Arcadia und der italienischen Aufklärung.

Architektur, Plastik und Malerei

Detail der Wandmalereien des Meisters von Waltensburg in der Kapelle St. Maria Magdalena in Dusch, einem Weiler der Gemeinde Paspels, um 1340 (Denkmalpflege Graubünden, Chur; Fotografie Wolfgang Roelli).
Detail der Wandmalereien des Meisters von Waltensburg in der Kapelle St. Maria Magdalena in Dusch, einem Weiler der Gemeinde Paspels, um 1340 (Denkmalpflege Graubünden, Chur; Fotografie Wolfgang Roelli). […]

Auch in der bildenden Kunst und der Architektur waren für den Dreibündestaat die Beziehungen zu den Kulturkreisen nördlich und südlich der Alpen wichtig. Je nach Ort der Innovationen und je nach der politischen und ökonomischen Konstellation gestalteten sich die Einflüsse unterschiedlich. Epochenwechsel traten wegen der peripheren Lage am Alpenkamm meist verzögert auf. Seiner Situierung verdankt das Bergland aber auch die hohe Dichte an historischen Kulturgütern.

Der 1502 geweihte Flügelaltar der Pfarrkirche Son Gieri in Salouf (Fotografie Romano Pedetti, Bad Ragaz).
Der 1502 geweihte Flügelaltar der Pfarrkirche Son Gieri in Salouf (Fotografie Romano Pedetti, Bad Ragaz). […]

Aus dem 14. Jahrhundert hat sich ein vielfältiger Bestand an Wandmalereien erhalten, darunter Fresken in Nachfolge Giottos und 16 Werke der dem süddeutschen Kulturkreis angehörenden Werkstatt des sogenannten Waltensburger Meisters. Gleichzeitig entstandene Statuen von höfischer Eleganz verweisen in den Bodenseeraum. Die sich konstituierenden Kirchgemeinden initiierten von der Mitte des 15. Jahrhunderts bis zur Reformation eine intensive Kirchenbautätigkeit, vorwiegend unter der Leitung von Baumeistern aus dem deutschen Sprachraum. Parallel dazu wurden in süddeutschen Werkstätten zahlreiche spätgotische Flügelaltäre in Auftrag gegeben. Die Renaissance, deren Formensprache in der Wandmalerei bereits ab dem späten 15. Jahrhundert angewendet wurde, prägte die Ausstattungen vor allem der Innenräume von Profanbauten nachhaltig. Bis weit ins 17. Jahrhundert wiesen aber viele Objekte noch spätgotische Stilmerkmale auf. Die katholische Reform löste in altgläubigen Gebieten erneut eine Welle von Kirchenbauten aus. Die Formensprache von Architektur und Stuckaturen wurde nun von Süden beeinflusst. Bündner Bauleute, darunter die Misoxer Meister, prägten massgeblich die Entwicklung des Barock in Süddeutschland, Österreich und den benachbarten Gebieten. Im Bereich der Holzplastik dominierte hingegen eine alpenländische Tradition mit Ursprung im Wallis, die Schule des Johann Ritz. In der Malerei wiederum war der südliche Einfluss mit Werken von lombardischen und Tessiner Meistern vorherrschend.

Die Bündner Bauern- und Patrizierhäuser waren je nach Region aus Holz (z.B. Walserhaus) oder aus Stein errichtet. Bis zum Hochmittelalter wurde das Einzweckhaus bevorzugt: Schlafräume, Speicher und Sennerei waren auf verschiedene Häuser verteilt. Im Engadin und in Mittelbünden waren die Wohnhäuser mit den Stallscheunen verbunden. Sgraffito prägt das nach 1500 aufkommende typische Engadinerhaus mit den zwei Toren und die Häuser in den benachbarten Südtälern. Im Engadin erreichte die Sgraffito-Technik in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts ihren Höhepunkt.

Der Staat im 19. und 20. Jahrhundert

Politische Geschichte ab 1797

Von der Gemeindeherrlichkeit zum Kantonalstaat

Der Verlust seiner früheren italienischen Besitzungen 1797 hatte Bünden in eine schwere Krise gestürzt. Innenpolitisch standen sich zwei Lager gegenüber: Einerseits das aus dem Kreis der Patrioten der 1790er Jahre rekrutierte, das einen Anschluss an die Helvetische Republik grösstenteils befürwortete, andererseits das «kaiserliche» Lager der Aristokraten um Ulysses von Salis-Marschlins, das für eine Annäherung an Österreich eintrat. Im Juli 1798 lehnten die Gerichtsgemeinden einen Beitritt zur Helvetischen Republik klar ab; dieser Entscheid kam aber nicht zum Tragen, weil Graubünden in der Folge zum Kriegsschauplatz zwischen Frankreich und der Koalition und von Ende 1798 bis 1800 je zweimal von Österreichern und Franzosen besetzt wurde (Koalitionskriege). Das politische Geschehen diktierten die Besatzungsmächte, die jeweils Geiseln nahmen und provisorische Regierungen installierten. Während der ersten Okkupation durch die Franzosen wurde am 21. April 1799 der Vertrag über die Eingliederung Graubündens als Kanton Rätien in die Helvetische Republik unterzeichnet; während der zweiten wurde die Integration schrittweise vollzogen und der Aufbau einer zentralisierten Verwaltung nach dem Muster der übrigen helvetischen Kantone in Angriff genommen. Aber schon 1801 sagten sich immer mehr Gemeinden von der helvetischen Ordnung los, worauf die helvetische Zentralbehörde den Kanton erneut besetzen liess. Nach dem Rückzug der französischen Truppen im Spätsommer 1802 breitete sich eine restaurative Bewegung aus. Die föderalistische Mediationsverfassung von 1803, die aus Graubünden einen Kanton der Eidgenossenschaft machte, befriedete das Land. Nach dem gescheiterten Putsch der Aristokraten und anderer Gruppierungen im Januar 1814 und dem Machtwort der Alliierten akzeptierten die Altrepublikaner schliesslich die neuen Gegebenheiten. 1815 bestätigte der Wiener Kongress den Verlust des Veltlins.

Stabilität und Frieden prägten Graubünden bis zur Jahrhundertmitte. Staat, Regierung und Legislative waren durch die Verfassung von 1814/1820 zur Machtlosigkeit verurteilt, während Räte und Gerichtsgemeinden weiterhin die Gesetzgebung kontrollierten. Das Volk pflegte seine lokalen und regionalen Interessen, kümmerte sich aber wenig um die kantonale oder eidgenössische Politik. In der ersten Hälfte der 1830er Jahre traten erstmals die Verfechter des liberalen Staates auf (Liberalismus), die den Kantonalstaat handlungsfähiger machen bzw. die Gemeindeautonomie teilweise beschneiden wollten und deshalb auch als Etatisten bezeichnet werden können. Die Kommunalisten befürworteten dagegen einen Staatsminimalismus mit teilweise konfessioneller Färbung. Die Polarisierung war jedoch nicht so ausgeprägt, dass sie zu eigentlichen Parteibildungen geführt hätte. Die Zusammensetzung der Gruppierungen änderte sich je nach Sachfrage. Bei Wahlen erhielten in der Regel gemässigte Reformpolitiker den Vorzug. Die Gerichtsreform von 1851 und die Kantonsverfassung von 1854 waren ihr Werk. Der Reformwille war weder ein liberales noch ein reformiertes Monopol. Graubünden verdankt viele Errungenschaften dieser Jahrzehnte auch dem Innovationswillen seiner Aristokraten sowie katholischen und reformierten Geistlichen.

Die Revision der Bundesverfassung löste um 1870 eine Welle der Agitation und eine Polarisierung zwischen zwei getrennten Lagern aus, jenem der sogenannten Anti und jenem der sogenannten Revi, d.h. der Befürworter. Das vormals gemässigt-liberale Bündner Tagblatt schwenkte unter Hermann Sprecher von Bernegg und Placidus Plattner ins Lager der Anti ein und wurde Leitblatt der Konservativen und Föderalisten. Florian Gengel, Redaktor des Freien Rätiers, und Anton Versell bildeten mit der Gründung des liberalen Stadtvereins in Chur ein Gegengewicht, ebenso Carl Hilty mit dem Bündnerischen Volksverein. Die scharfe Trennlinie von 1872 und 1874 verwischte sich nach der Annahme der Verfassung recht schnell. Die Konservativen und Föderalisten dominierten, vor allem nach der Erweiterung der Volksrechte durch die kantonale Verfassungsrevision 1880, Wahlen und Abstimmungen auf allen Staatsebenen. Die 1881 gebildete überkonfessionelle föderalistisch-konservative Allianz um Hermann Sprecher von Bernegg und Remigius Peterelli vernichtete den katholischen Liberalismus, der mit den de Latour von Brigels jahrzehntelang die Surselva politisch dominiert hatte. Der Kulturkampf tangierte Graubünden kaum – die überkonfessionelle Allianz entzog ihm den politischen Boden, und auch die Liberalen versprachen sich von Auseinandersetzungen zwischen den Konfessionen keinen Gewinn. In den 1870er und 1880er Jahren wurde die alte Führungsschicht weitgehend von den Bildungseliten aus dem bürgerlichen und bäuerlichen Milieu abgelöst.

Die Epoche der Parteigründungen 1890-1919

Unter Führung von Felix Calonder organisierte sich das Umfeld der liberalen Fraktion im Januar 1891 in der Freisinnigen Partei (FP), einer Volkspartei mit kantonalen Statuten und Programm. Der Radikal-demokratische Verein von Chur unter Friedrich Manatschal spielte darin die Rolle einer widerspenstigen Fraktion. 1891 bestellte auch die Allianz ein selbstständiges Landeskomitee zur Leitung der Föderal-demokratischen Partei. Der programmatische Seiltanz ihres Anführers Caspar Decurtins zwischen Ultramontanismus und sozialpolitischem Schulterschluss mit der Linken provozierte die allmähliche Abwanderung des reformierten Flügels zum Freisinn und eine innerparteiliche Sezession unter Placidus Plattner und Johann Josef Dedual (den sogenannt neuen Kurs 1892-1898). Letztere forderten unter anderem eine selbstständige katholische Partei- und Sozialpolitik. Die um 1895 initiierte Parteireform führte 1903 zur Gründung der Konservativ-demokratischen Partei (KDP) der Katholiken mit einem kleinen, aber einflussreichen reformierten Flügel (v.a. die von Sprecher). In diesem Jahrzehnt vollzog sich der Wandel von der alten Persönlichkeits- zur modernen Parteiwahl und zur einvernehmlichen Aufteilung der Mandate unter den beiden bürgerlichen Parteien (bis 1919).

Der Saal des Restaurants Grütlibund in Chur, Storchengasse 3, um 1913 (Stadtarchiv Chur).
Der Saal des Restaurants Grütlibund in Chur, Storchengasse 3, um 1913 (Stadtarchiv Chur). […]

1906 schlossen sich die Grütli- und Arbeitervereine unter Arthur Gamser zur Sozialdemokratischen Partei (SP) zusammen. Ihren Anhang rekrutierte sie unter Hotelangestellten sowie Bahnarbeitern und im kleinbürgerlichen Milieu Churs. Ein eigentliches Proletariat gab es im industriell wenig entwickelten Graubünden nicht. Nach 1918 schwächten Richtungskämpfe die SP. Programmatische und personelle Differenzen rissen auch das freisinnige Lager auseinander. Der jungfreisinnige Flügel spaltete sich ab und gründete im Dezember 1919 die stärker links gerichtete Demokratische Partei (DP). Die Neue Bündner Zeitung wurde ihr Leitblatt.

Bis zu diesem Zeitpunkt waren die Parteien eher rudimentär organisiert. Die politische Mobilisierung und Sensibilisierung erfolgte über die Presse, durch Vertrauensmänner in den Dörfern, auf Kirchweih- und Gesangsfesten, Viehmärkten und auf katholischer Seite auch über die Kanzel, von der herunter sich die Pfarrer bis in die 1960er Jahre offen als Träger des politischen Weltanschauungskampfes engagierten.

Krisen- und Kriegszeit

Die Einführung des Proporzes bei den Nationalratswahlen 1919 (Wahlsysteme) wirkte sich auf Graubünden vorerst wenig aus, doch eroberte die SP ihr erstes Nationalratsmandat. Die KDP hielt ab den 1920er Jahren ihre Wählerschaft durch entschiedenen Prinzipienkampf gegen Liberalismus und Zentralismus bzw. Sozialismus und Atheismus erfolgreich bei der Stange. Die Freisinnigen lancierten heftige Kampagnen gegen die Demokraten und Sozialisten und koalierten mit der KDP gegen die bürgerlich-mittelständische Linke – als solche präsentierte sich die DP in Abgrenzung zum freisinnigen Grosskapital – und gegen die SP. Der Kraftwerkskandal, der in der ersten Hälfte der 1920er Jahre ruchbar wurde, setzte der FP arg zu und erodierte allmählich ihre Basis, die in den 1930er Jahren völlig wegbrach und sich grösstenteils der DP unter Andreas Gadient anschloss, die nach 1935 das Erbe des Freisinns antrat. Die SP stagnierte trotz ihres populären Anführers Nationalrat Gaudenz Canova; ihr strikter Antifaschismus – in Graubünden waren bis 1939 sechs kleine Fascio-Gruppen entstanden, und von Davos aus agitierten eine starke NSDAP-Ortsgruppe (Nationalsozialismus) sowie mehrere gleich gesinnte Organisationen – zahlte sich politisch nicht aus, und wirtschaftspolitisch hatte die DP mehr Erfolg. Letztere nahm zu Beginn der 1930er Jahre den Kampf gegen die Frontenbewegung auf und forderte eine aktive Konjunkturpolitik gegen die Wirtschaftskrise, während die als Partei von Grosskapitalisten verschrieene FP die Krise tatenlos hinnahm.

Dreisprachiges Plakat für die Wahl der Bündner Nationalräte 1987, Hatrick-Werbung, Ems (Schweizerische Nationalbibliothek, Bern).
Dreisprachiges Plakat für die Wahl der Bündner Nationalräte 1987, Hatrick-Werbung, Ems (Schweizerische Nationalbibliothek, Bern).

Gegen links- und rechtsextreme Strömungen sammelten sich nach der Ablehnung der Kriseninitiative am 2. Juni 1935 Bauern, Angestellte und Arbeiter aus allen Lagern in der sogenannten Richtlinienbewegung. Inwieweit Teile der bürgerlichen Eliten mit den Ideen eines neuen Europa, einer ständischen Gesellschaftsordnung und einer autoritären Führung sympathisierten, ist nur teilweise geklärt. Problemlos überstand die KDP den Absturz der FP, die sich 1934 in Freisinnig Demokratische Partei (FDP) umbenannte. In Chur gründeten jedoch die unzufriedenen Christlichsozialen eine eigene Parteisektion (CSP). Der Ausbruch des Krieges verschärfte den Parteienkampf noch mehr. Die DP, die ab 1935 Demokratische Volkspartei (DVP) hiess, setzte ihren Vormarsch auf Kosten der FDP und der SP fort. Die KDP reorganisierte sich 1942 als Konservative Volkspartei (KVP) und arrangierte sich mit der Tochterpartei CSP. In den letzten Kriegsjahren war das politische Klima Graubündens von gehässigen Wahl- und Parteikämpfen sowie verspäteten kulturkämpferischen Polemiken geprägt.

Der rasante Modernisierungsprozess in allen Sektoren brachte nach 1960 eine nie dagewesene Prosperität, an der alle Anteil hatten. Die Atmosphäre des Kalten Krieges und der materielle Aufschwung einten die Konservativen (seit 1970 Christlichdemokratische Volkspartei, CVP), den Freisinn und die nach rechts rutschenden Demokraten, die sich auf nationaler Ebene 1971 mit der Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei (BGB) zur Schweizerischen Volkspartei (SVP) zusammenschlossen, und brach dem Parteienkampf im bürgerlichen Lager die Spitze. Ab den 1960er Jahren verebbte auch der Weltanschauungskampf zugunsten sachpolitischer Nüchternheit und materieller Verteilungskämpfe. Parallel entpolitisierten sich die Kulturvereine. Die Einführung des Frauenstimmrechts 1972 hatte keine nennenswerten Auswirkungen auf die Stärke der Parteien. Erst seit Ende der 1980er Jahre trat die Frauenbewegung als selbstbewusste politische und kulturelle Kraft hervor (z.B. Frauenplenum, Frauenlisten). Gleichzeitig erweiterte sich das Parteienspektrum durch die parteipolitische Sammlung von Grünen Parteien und Jungparteien. Den Durchbruch ausserhalb Churs schaffte bisher erst die 2007 gegründete Grünliberale Partei. Infolge der Wahl von Eveline Widmer-Schlumpf in den Bundesrat (2007-2015, 2012 Präsidentin) anstelle des amtierenden Christoph Blocher wurde die Bündner Sektion der SVP von der Parteileitung aus der nationalen Partei ausgeschlossen, worauf in Graubünden die Bürgerlich-Demokratische Partei (BDP) gegründet wurde, der die Mehrheit der SVP-Mitglieder beitrat. 2021 fusionierten die BDP und die CVP zu Die Mitte Graubünden.

Sitze des Kantons Graubünden in der Bundesversammlung 1919-2019

 191919391959196719711979198319911995199920032007201120152019
Ständerat 
CVP111111111111111
FDP11          111
Demokraten/SVP  1111111111   
Nationalrat 
FDP311111111111  1
CVP222222211111111
Demokraten/SVP 32221111222121
SP1 1  1122111112
GLP            1  
BDP            11 
Total666555555555555
Sitze des Kantons Graubünden in der Bundesversammlung 1919-2019 -  Historische Statistik der Schweiz; Bundesamt für Statistik

Zusammensetzung des Regierungsrats im Kanton Graubünden 1982-2022

 19821986199019941998200220062010201420182022
FDP11111111111
CVPa22221111123
SP    1111111
SVP2222222    
BDP       221 
Total55555555555

a ab 2021 Die Mitte (entstanden aus Fusion von CVP und BDP)

Zusammensetzung des Regierungsrats im Kanton Graubünden 1982-2022 -  Bundesamt für Statistik

Zusammensetzung des Grossrats im Kanton Graubünden 1919-2022

 191919371947195319631971197919871994200320062010201420182022
FDP462914293129283026293338343627
CVPa312729283038393838403533313034
Demokraten/SVP43343323638424041333249925
SP1676789107131412151825
CSP11168   3      
GLP           2237
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a ab 2021 Die Mitte (entstanden aus Fusion von CVP und BDP)

Zusammensetzung des Grossrats im Kanton Graubünden 1919-2022 -  Historische Statistik der Schweiz; Bundesamt für Statistik; Standeskanzlei

Verfassungsgeschichte

Der 1798 untergegangene Freistaat der Drei Bünde hatte sich durch eine fast vollkommene Eigenstaatlichkeit der Gerichtsgemeinden ausgezeichnet. Alle Verfassungsbemühungen zielten in der Folge darauf ab, den Kanton zu stärken, um die Ideale des Rechtsstaates und der bürgerlichen Freiheiten durchzusetzen und die allgemeine Wohlfahrt zu fördern. Während im 19. Jahrhundert noch vier Versuche unternommen wurden, mit Totalrevisionen das Staatswesen zu verbessern, ging das 20. Jahrhundert ohne neues Grundgesetz zu Ende. Erst 2004 trat eine neue Kantonsverfassung in Kraft.

Von der Helvetik zum Bundesstaat 1798-1848

Die Elferkommission, die im August 1801 einen Entwurf für eine Verfassung des Kantons Rätien ausarbeitete, orientierte sich am helvetischen Vorbild: Die Bünde und Gerichtsgemeinden wurden durch elf – bereits von der provisorischen Regierung eingerichtete – Distrikte ersetzt. Diese unterstanden dem Präfekturrat, der von einem Präfekten präsidiert wurde. Zu jedem Distrikt gehörten eine Verwaltungskammer und ein Gericht, die je ein Distriktspräfekt verwaltete. Die ehemaligen Nachbarschaften wurden zu Munizipalitäten und wählten durch Wahlmänner Abgesandte in den Kantonsrat, der seinerseits eine fünfköpfige vollamtliche Kantonsverwaltung, das Kantonsgericht sowie die Tagsatzungsdelegation bestimmte. Allerdings wurde diese Verfassung nie vollständig und geordnet umgesetzt, auch wenn ihr der Kantonsrat Ende August 1801 zugestimmt hatte. Das Ende der Helvetik besiegelte auch das Schicksal des unter französischem Druck geschaffenen Präfekturstaats.

Von Christian Gottlob Richter gemaltes Porträt Jakob Ulrich Sprechers von Bernegg. Gouache auf Karton, erstes Viertel des 19. Jahrhunderts (Rätisches Museum, Chur).
Von Christian Gottlob Richter gemaltes Porträt Jakob Ulrich Sprechers von Bernegg. Gouache auf Karton, erstes Viertel des 19. Jahrhunderts (Rätisches Museum, Chur). […]

Die Mediationsverfassung Napoleons von 1803 knüpfte einerseits wieder an die vorrevolutionären Verhältnisse an. Die alte Gebietseinteilung in Bünde, Hochgerichte und Gerichtsgemeinden lebte wieder auf, wobei die einstigen Fremdherrschaften Haldenstein, Rhäzüns und Tarasp sowie der bischöfliche Hof integriert wurden. Die Gerichtsgemeinden erhielten ihre alten Befugnisse – die Genehmigung aller Gesetze auf dem Referendumsweg – zurück. Die Verfassung schrieb aber anderseits auch helvetische Neuerungen fest, wie zum Beispiel die Gewerbefreiheit, die Abschaffung der Vorrechte des Adels und das Kantonsgericht, ein Appellationsgericht für Zivilsachen ab einem gewissen Streitwert (Gerichtswesen). Sie behielt auch die ständige Kantonsregierung bei, den Kleinen Rat, der sich aus den drei Bundshäuptern zusammensetzte, und legte mit dem 63-köpfigen Grossen Rat den Grundstein für ein modernes Parlament. Da der Grosse Rat nur einmal im Jahr tagte, wurde die Behördenstruktur schon wenige Jahre später durch die Standeskommission ergänzt, welche die Regierung beriet und Gesetzesentwürfe für die Debatte im Grossen Rat vorbereitete. Grosser und Kleiner Rat konnten, im Gegensatz zu ihren Entsprechungen im alten Freistaat, ohne Instruktionen der Gerichtsgemeinden tätig werden; deshalb wird die kantonale Mediationsverfassung in der Forschung trotz der schwachen Stellung der Regierung auch als Übergang vom Staatenbund zum Bundesstaat bzw. als das Gründungsereignis des modernen Graubünden interpretiert.

1814 nahm Graubünden unter dem Druck der Alliierten den neuen Bundesvertrag der Eidgenossenschaft an. Die neue Kantonsverfassung, die in ihren Hauptzügen 1814 ausgearbeitet wurde, formell aber erst 1820 in Kraft trat, folgte weitgehend der Mediationsverfassung. Sie verlangte für künftige Verfassungsänderungen die Zustimmung von zwei Dritteln der Gerichtsgemeinden, gewährte innerhalb des Kantons die Niederlassungsfreiheit und schrieb vor, dass alle kantonalen Behörden zu zwei Dritteln mit Protestanten und zu einem Drittel mit Katholiken besetzt werden.

In Graubünden hatten die Ideen der Regeneration ausserhalb des Grossen Rats einen schweren Stand. Die Bestrebungen zur Reform des Bundesvertrags von 1815 wurden abgelehnt; ebenso scheiterten 1834 und 1835 Versuche, das für kantonale Verfassungsänderungen notwendige Zweidrittelsmehr der Gerichtsgemeinden zu senken, um Neuerungen in der Justiz und der Regierungsorganisation vorzubereiten.

Von 1848 bis heute

Infolge der Annahme der Bundesverfassung 1848, der auch die Mehrheit der Bündner Gerichtsgemeinden zugestimmt hatte, entsprachen der föderalistische Aufbau des Kantons und zahlreiche kantonale Regelungen nicht mehr dem eidgenössischen Verfassungsrecht. Nachdem mehrere kantonale Totalrevisionen gescheitert waren und die Bundesversammlung eine Gewährleistung der kantonalen Verfassung von 1814/1820 abgelehnt hatte, wurde – in einer nach Kreisen durchgeführten Abstimmung – am 30. November 1853 eine Verfassung angenommen, die auf den 1. Februar 1854 in Kraft trat. Das neue Grundgesetz besiegelte die schon 1851 vollzogene Aufhebung der Gerichtsgemeinden und der Bünde bzw. die neue Einteilung in 14 Bezirke, 39 Kreise und 227 Gemeinden, die ein Recht auf Selbstverwaltung hatten. Jetzt war das Volk souverän, ihm waren die dem obligatorischen Referendum unterstehenden Gesetze, Verfassungsänderungen usw. vorzulegen. Niedergelassenen Schweizer Bürgern wurde am Wohnort das Stimmrecht auf kantonaler Ebene eingeräumt. Im Übrigen verzichtete die Verfassung auf Neuerungen: Sie enthielt weder eine Kompetenzabgrenzung zwischen Kanton und Gemeinden noch eine Aufzählung der Staatsaufgaben. Die Kantonsregierung, die hauptsächlich als Aufsichts- und Rekursorgan fungierte, wurde nicht gestärkt. Sie bestand wie bis anhin aus drei Mitgliedern; die Amtsdauer der Kleinräte betrug nach wie vor nur ein Jahr. Die 66 Grossräte wurden in den Kreisen nach dem Majorzverfahren gewählt. In Gemeindesachen entschieden weiterhin nur die Ortsbürger (Bürgergemeinde). In der Gerichtsorganisation waren die Kreisgerichte vor allem für das Strafrecht, die Bezirksgerichte hauptsächlich für das Zivilrecht zuständig, während das Kantonsgericht primär Appellationsinstanz war.

In den folgenden Jahrzehnten strebten liberale Kreise eine Stärkung der Regierung, jungdemokratisch-soziale den Ausbau der Volksrechte und konservativ-föderalistische die Abschaffung des sogenannten Landespolizeirechts von 1814/1820 an, auf dem die Verordnungen des Grossen Rats basierten; sämtliche Reformbestrebungen scheiterten jedoch zunächst. Erst nach der Revision der Bundesverfassung 1874 wurde – noch im selben Jahr – durch das Niederlassungsgesetz endlich die Einheitsgemeinde eingeführt und damit der alte Konflikt zwischen Bürgern und Niedergelassenen entschärft. Die Totalrevision der Kantonsverfassung von 1880 erweiterte das Gesetzesreferendum, führte ein Finanzreferendum (Referendum) sowie die Gesetzesinitiative (Initiative) ein, der mit den vorgeschriebenen 5000 Unterschriften zunächst eine hohe Hürde gesetzt wurde, und schuf das Landespolizeirecht ab. Das Volk bestimmte nun die Ständeräte und die drei Sprachen des Kantons wurden als Landessprachen gewährleistet. Mit der Totalrevision von 1892 wurde die Anzahl der jetzt vom Volk gewählten Mitglieder des Kleinen Rats (seit 1971 der Regierung) auf fünf aufgestockt, deren Amtsdauer auf drei Jahre verlängert und das Departementalsystem eingeführt, womit die Standeskommission überflüssig wurde. Ausserdem setzte sie die Zahl der Unterschriften, die für die Einreichung einer Gesetzesinitiative notwendig sind, auf 3000 herab.

Die Verfassung von 1892 erwies sich als dauerhaft. Im ganzen 20. Jahrhundert erfolgte keine weitere Totalrevision; dagegen waren ca. 30 Teilrevisionen erfolgreich. 1907 vereinfachte eine neue Zivilprozessordnung den Rechtsweg, 1967 wurde die Einführung einer Verwaltungsgerichtsbarkeit und 1978 eine neue Gerichtsverfassung angenommen, 2000 stimmte das Volk einer Reform der Gerichtsorganisation zu. Die Bezirksgerichte sind seither nicht mehr nur Zivil-, sondern auch Strafgerichte; ihre Anzahl wurde von 14 auf 11 reduziert. Das Frauenstimmrecht wurde 1972 auf Kantons- und Kreisebene angenommen und 1983 auch in Gemeindesachen für obligatorisch erklärt. Nach acht gescheiterten Versuchen zwischen 1937 und 2013 billigte das Stimmvolk 2021 die Einführung des Proporzes für die Wahl des Grossen Rats.

Erst 2003 wurde die Kantonsverfassung wieder total revidiert. Das im Januar 2004 in Kraft getretene Grundgesetz enthält aber nur wenige substanzielle Änderungen. Sie ermöglicht den Gemeinden, das Stimm- und Wahlrecht in Gemeindesachen auch Ausländern zu gewähren, institutionalisiert das kantonale Verfassungsgericht und ersetzt das obligatorische durch das fakultative Gesetzesreferendum. Ausserdem bekennt sie sich eindeutig zur Dreisprachigkeit.

Staatliche Aufgaben und Verwaltung

Die staatliche Verwaltung befasste sich im 19. Jahrhundert schwergewichtig mit dem Aufbau des Militär-, des Verkehrs-, des Justiz- und des Schulwesens. Im 20. Jahrhundert weitete sich die staatliche Tätigkeit auf viele Bereiche aus, zum Beispiel auf Wirtschaftspolitik, Wohlfahrt, Raumplanung und Umweltschutz. Die Vergrösserung des Staatsapparats von 107 Funktionären im Jahr 1861 auf rund 3000 Angestellte im Jahr 2004 weist nicht nur auf die Übernahme zahlreicher neuer Aufgaben hin, sondern widerspiegelt auch die steigende Finanzkraft des Kantons.

Die Anfänge 1800-1848

Trotz Finanzmisere und Widerstand der Gerichtsgemeinden wandte sich der Staat nach 1803 neuen Aufgaben zu, zunächst dem Schul-, Justiz-, Polizei- und Heerwesen. Zur Erfüllung dieser Aufgaben wurden Kommissionen gebildet, in denen – wie auch im Kleinen Rat – insbesondere Mitglieder der früher regierenden Familien Einsitz nahmen.

Der erste Versuch, die Unübersichtlichkeit im Bereich der Justiz zu beheben – es gab 100 Zivil- und 60 Strafgerichte mit eigenen Statuten und Verfahren –, führte zur Schaffung eines kantonalen Appellationsgerichts für Zivilurteile und eines kantonalen Strafgerichts für Ausländer. Die Organisation der Miliz – Graubünden stellte 2000 bis 3000 Soldaten als Bundeskontingent – erwies sich trotz der Ordnung von 1809 und der Verfassung von 1814/1820 als praktisch undurchführbar. Eine Ausbildung, die nur auf dem Papier bestand, die unzureichende Ausrüstung mit Waffen und Uniform, die ab 1827 vom Kanton gestellt wurden, und die den Dienstpflichtigen offen stehende Möglichkeit, sich bei der Erfüllung des Dienstes durch einen Ersatzmann vertreten zu lassen, machten das Kantonsheer zur Farce. 1838 griff deshalb der Bund ein und unterstellte Graubünden militärisch einer Kuratel.

Der Ausbau der Transitwege zu fahrbaren Kunststrassen stellte das wichtigste Werk in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts dar. Nach zähen Verhandlungen mit Österreich und Sardinien wurden mit deren Finanzhilfe 1818-1823 die Strassen über den San Bernardino und über den Splügenpass erstellt (Untere Strasse), 1820-1840 jene über den Julier- und den Malojapass (Obere Strasse). 1856 erreichte der Transitverkehr das höchste Volumen. Bau und Unterhalt der Strassen verschlangen zwei Drittel der Einnahmen des Kantons. Die Sanitätskommission erarbeitete 1808 ein Medizinalgesetz und förderte die Pockenschutzimpfung sowie die Ausbildung der Hebammen.

Das 1813 bis 1848 verwendete Schild der Bündner Kantonalpost mit dem Wappen der Drei Bünde (Rätisches Museum, Chur).
Das 1813 bis 1848 verwendete Schild der Bündner Kantonalpost mit dem Wappen der Drei Bünde (Rätisches Museum, Chur). […]
Das Postkutschenschild der Eidgenossenschaft, welches das Schild der Bündner Kantonalpost 1848 abgelöst hat (Museum für Kommunikation, Bern).
Das Postkutschenschild der Eidgenossenschaft, welches das Schild der Bündner Kantonalpost 1848 abgelöst hat (Museum für Kommunikation, Bern).

Zur Finanzierung dieser Aufgaben dienten Zölle, Luxussteuern und das Salzregal. 1807-1842 liess der Kanton eigenes Geld prägen und übernahm auch das Postwesen. 1813 wurde das erste kantonale Postamt eröffnet, 1817 der gesamte Postverkehr der Kontrolle der Postkommission unterstellt. Der evangelische Grosse Rat bestimmte ab 1803 als Kirchenorgan die Geschicke der evangelischen Landeskirche. Mit der Kirchenverfassung von 1807 wurde der evangelische Kirchenrat geschaffen. Das Corpus catholicum geriet mehrmals zwischen die Fronten der Kirchenleitung und der Regierung. Einen längeren Zwist löste 1823 das neu geschaffene Doppelbistum Chur-St. Gallen aus (Diözese Chur, Diözese St. Gallen), sodass die Regierung unter Bezugnahme auf die Ilanzer Artikel von 1526 das Bistum 1824 unter weltliche Verwaltung stellte.

Der Ausbau im neuen Bundesstaat 1848-1914

Plakat von Otto Morach, 1928 (Schweizerische Nationalbibliothek, Bern).
Plakat von Otto Morach, 1928 (Schweizerische Nationalbibliothek, Bern). […]

Die Schaffung des neuen Bundesstaats zog einschneidende Veränderungen nach sich. Die wichtigsten Einnahmequellen aus Zöllen und der Post entfielen, gleichzeitig mussten die Kantone neue Lasten für das Militärwesen übernehmen. Die steigenden Auswanderungszahlen – bis zu 500 Personen jährlich – machten die verbreitete Armut deutlich. Die vom Bund auferlegte Zwangseinbürgerung von rund 7000 Heimatlosen um die Jahrhundertmitte verstärkte den Druck auf die Gemeinden, für welche die Armengenössigen eine grosse finanzielle Belastung darstellten (Fürsorge). Unter diesen Umständen sah sich die Regierung gezwungen, erstmals allgemeine kantonale Steuern zu erheben. Den grössten Posten im Budget von 1856 stellte mit 40% der geplanten Ausgaben immer noch der Strassenbau dar. Mit Hilfe des Bundes wurden bis Ende des 19. Jahrhunderts im ganzen Kanton Verbindungsstrassen in die Täler gebaut. Für viele Bauerndörfer, die weder vom Transitverkehr noch vom Fremdenverkehr berührt wurden, erfolgte die Anbindung an das kantonale Strassennetz (Strassen) allerdings erst im 20. Jahrhundert. Der Bau der Alpenbahnen über den Brenner (1867), durch den Mont-Cenis (1871) und durch den Gotthard (1882) führte zum Niedergang des Transitverkehrs über die Bündner Pässe. Fuhrleute und Postkutscher wurden arbeitslos, Schmiede, Wirte, Sattler und Wagner büssten an Umsatz ein, was einige Gebiete, die diese Ausfälle nicht durch Einnahmen aus dem Fremdenverkehr kompensieren konnten, in wirtschaftliche Krisen stürzte (Schams, Rheinwald). Im Kampf um eine Ostalpenbahn, die durch rivalisierende Projekte und politische Intrigen zu Fall gebracht wurde, waren der Kantonsregierung weitgehend die Hände gebunden. Als jedoch die durch private Initiative entstandene Schmalspurbahn Landquart-Davos 1889 eröffnet wurde, übernahm der Kanton 1897 deren Aktien. Mit Bundeshilfe entstand in Rekordzeit ein Bahnnetz (Eisenbahnen). Die Rhätische Bahn (RhB) entwickelte sich bis zum Ersten Weltkrieg zu einem der grössten Arbeitgeber des Kantons.

Angestellte der Kantonalbank, fotografiert um 1911 in den Büros des neu eröffneten Sitzes an der Churer Grabenstrasse. Aufnahme von Lienhard & Salzborn, Chur und St. Moritz (Staatsarchiv Graubünden, Chur, Bestand Lienhard & Salzborn, FN IV 24/30 C 028a).
Angestellte der Kantonalbank, fotografiert um 1911 in den Büros des neu eröffneten Sitzes an der Churer Grabenstrasse. Aufnahme von Lienhard & Salzborn, Chur und St. Moritz (Staatsarchiv Graubünden, Chur, Bestand Lienhard & Salzborn, FN IV 24/30 C 028a). […]

Gestützt auf die Bundesverfassung wurde um die Jahrhundertmitte endlich auch die Rechtsvereinheitlichung in Angriff genommen und zwischen 1851 und 1861 ein neues Straf- sowie ein neues Zivilgesetzbuch mit den entsprechenden Prozessordnungen in Kraft gesetzt. Zur Förderung der Volkswirtschaft gründete die Regierung 1870 die Kantonalbank. Von 1845 an sorgte eine Forstkommission für eine nachhaltige Nutzung des Gebirgswaldes. Die zahlreichen Dorfbrände des 19. Jahrhunderts führten erst 1907 zur Einrichtung einer kantonalen Brandversicherung, die ab 1932 auch Elementarschäden abdeckte. Nach der Mitte des 19. Jahrhunderts entstanden mehrere Tal- und Regionalspitäler, die sich meist aus privaten Mitteln (Stiftungen, Spenden) finanzierten. Eine Schenkung ermöglichte 1892 die Eröffnung der kantonalen psychiatrischen Klinik Waldhaus in Chur. Eine zweite Welle von Spitalgründungen setzte in der Zwischenkriegszeit ein (Spital).

Das 20. Jahrhundert

Im Ersten Weltkrieg waren die Behörden vorwiegend mit der Notstandsbekämpfung beschäftigt, da jegliche zivile Vorbereitung auf den Kriegsfall fehlte. Einkommenslose Familien der Wehrmänner wurden auf die Armenunterstützung verwiesen, die Bekämpfung der Teuerung und die Versorgung erforderten diverse Massnahmen. Am Generalstreik im November 1918 beteiligte sich vor allem das Bahnpersonal. In Chur war zwar die Stimmung gespannt, aber infolge des zurückhaltenden Vorgehens des Militärs kam es nicht zu Zusammenstössen. Allerdings hatte die Regierung den Streikführer Christian Albert Hitz kurzerhand einsperren lassen. Von ca. Herbst 1918 bis Frühling 1919 war der Kanton von einer Grippeepidemie betroffen, die über 870 Opfer forderte.

Das mit der Grenzbewachung am Maloja und am Umbrail beauftragte Bataillon beim Verlassen des Bahnhofs von St. Moritz, 1914. Fotografie aus dem Album des Zürcher Oberleutnants Heinrich Escher (Staatsarchiv Graubünden, Chur, Bestand Heinrich Escher, FN VIII/C 74).
Das mit der Grenzbewachung am Maloja und am Umbrail beauftragte Bataillon beim Verlassen des Bahnhofs von St. Moritz, 1914. Fotografie aus dem Album des Zürcher Oberleutnants Heinrich Escher (Staatsarchiv Graubünden, Chur, Bestand Heinrich Escher, FN VIII/C 74). […]

Die Bahnen erlitten im Krieg einen massiven Einbruch der Personen- und Güterfrequenz, der Finanzspritzen unausweichlich machte und zu einem Stellenabbau führte. Während des Zweiten Weltkriegs schlossen sich die letzten privaten Gesellschaften der Rhätischen Bahn an. Schon 1914-1918 wurde die Umstellung der Rhätischen Bahn auf den elektrischen Betrieb beschleunigt (Elektrifizierung), womit sich das Problem der Wasserkraftnutzung aufdrängte. Die unerfahrene Geschäftspolitik der neu gegründeten Bündner Kraftwerke endete aber für den Kanton 1923 in einer finanziellen Katastrophe und führte zum Ausverkauf der Wasserkraft an ausserkantonale Gruppen. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg gelang es Graubünden, dank seines Beteiligungsrechts Einfluss auf die Wassernutzungspolitik zu nehmen.

Als ebenso schwierig erwiesen sich die Anfänge des Automobils. Vom totalen Fahrverbot (1900) bis zur «teilweisen Zulassung des Automobils» (1925) musste das Volk zehnmal an die Urne bemüht werden. Seit 1957 hat jede Gemeinde oder Fraktion mit 35 Einwohnern (seit 1986 mit 30 Einwohnern) Anspruch auf einen Anschluss an eine Durchgangs- oder Verbindungsstrasse. Das Alpenstrassenprogramm des Bundes ermöglichte die erforderliche Anpassung des gesamten Strassennetzes, deren wichtigste Etappen die Eröffnung des Tunnels durch den San Bernardino (1967) sowie der Ausbau der A13 bildeten.

Das Rätische Kantons- und Regionalspital in Chur wurde 1941 eröffnet und bildet mit dem Kreuzspital (seit 1853) und dem Frauenspital Fontana (seit 1917) ein Spitalzentrum. Der stetige Ausbau im Gesundheitswesen führte ab den 1980er Jahren zu finanziellen Problemen. Der sozialen Wohlfahrt widmete der konservative Kanton lange nur wenig Aufmerksamkeit. Bis gegen Ende des 19. Jahrhunderts erschöpfte sich die fürsorgerische Tätigkeit im Wesentlichen in der Führung der 1849 eingerichteten Armenkasse; 1920 wurde dann ein Fürsorgegesetz angenommen und die Stelle eines Trinkerfürsorgers eingerichtet. Erst die grossrätliche Verordnung von 1943 ermöglichte den Aufbau eines kantonalen Fürsorgeamtes und die Schaffung von Bezirksfürsorgestellen, der institutionelle Ausbau des Sozialstaats erfolgte während oder nach der konjunkturellen Blüte der Nachkriegszeit. Im kulturellen Bereich übernahm der Kanton in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Verantwortung für bestehende Einrichtungen – er unterstützt das Stadttheater in Chur seit 1963 bzw. 1976 mit festen Beiträgen – und vergibt ausserdem Anerkennungs- und Förderpreise. Ein kantonales Kulturförderungsgesetz wurde 1965 verabschiedet und 1997 revidiert.

Der Auf- und Ausbau des Schulwesens

Die staatliche Organisation des Volksschulwesens und der Aufbau der Mittelschulen sowie der Lehrerbildung gehen auf die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts zurück. Die flächendeckende Durchsetzung der Schulpflicht, der Ausbau der staatlichen Aufsicht und das finanzielle Engagement der Öffentlichkeit erfolgten aber erst in der zweiten Jahrhunderthälfte.

Im Verlauf des 19. Jahrhunderts normierte der Kanton das Volksschulwesen (Schularten, Lehrmittel in allen Kantonssprachen) und professionalisierte die Lehrerbildung. Die Schulordnung für die Volksschule von 1846 sowie das Schulgesetz von 1853 waren die ersten Erfolge des 1838 geschaffenen Erziehungsrats. Der Staat übernahm das im 18. Jahrhundert noch weitgehend private Bildungsangebot. Dabei konnten die Gemeinden ihre starke Position behaupten. Anlass zu Diskussionen gaben die konfessionelle Ausrichtung und die Sprachenfrage. Ein weiteres Merkmal des bündnerischen Schulwesens blieb bis in die jüngste Zeit infolge der starken Dezentralisation des Volksschulwesens der hohe Anteil von Gesamt- und Mehrklassenschulen. Für die Volksschuloberstufen, die zuerst Realschule, später Sekundarschule hiess, wurde 1907 eine erste kantonale Regelung erlassen. 1929 erschien der erste Lehrplan für Sekundarschulen; eine Vereinheitlichung folgte aber erst in den 1940er Jahren. 1895 wurde die Bündner Frauenschule (bis 2002) gegründet, die neben Arbeits- und Hauswirtschaftslehrgängen ab 1947 auch eine Ausbildung für Kindergärtnerinnen anbot. 1895 öffnete die landwirtschaftliche Schule Plantahof in Landquart (heute Landwirtschaftliches Bildungs- und Beratungszentrum) ihre Tore, 1967 die interkantonale Försterschule in Maienfeld (heute Bildungszentrum Wald).

Schülerinnen und Lehrerinnen der Koch- und Haushaltungsschule, fotografiert in Chur um 1900, im Garten der ersten Niederlassung am Ufer der Plessur. Aufnahme von Lienhard & Salzborn (Staatsarchiv Graubünden, Chur, Bestand Lienhard & Salzborn, FN IV 18/24 P 051).
Schülerinnen und Lehrerinnen der Koch- und Haushaltungsschule, fotografiert in Chur um 1900, im Garten der ersten Niederlassung am Ufer der Plessur. Aufnahme von Lienhard & Salzborn (Staatsarchiv Graubünden, Chur, Bestand Lienhard & Salzborn, FN IV 18/24 P 051). […]

1804 entstanden eine evangelische und eine katholische Kantonsschule, die 1850 in Chur zu einer überkonfessionellen Anstalt zusammengelegt wurden. Ab 1820 bzw. 1832 bildeten sie auch Lehrer aus. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts entwickelten sich die Schultypen Gymnasium, Technikum, Handelsschule und Lehrerseminar. In zunehmendem Masse besuchten ab dem 20. Jahrhundert auch Mädchen die Kantonsschule, 1943 machten sie 16,5% der Schülerschaft aus, 2004 59%.

Eine Besonderheit in Graubündens Schulwesen bilden die zahlreichen privaten Mittelschulen: In Schiers entstand 1837 die Evangelische Lehranstalt (heute Evangelische Mittelschule), die neben den Gymnasialabteilungen bis 2003 auch ein Lehrerseminar führte. Das heute noch bestehende Klostergymnasium in Disentis wurde 1880 ins Leben gerufen. In Davos (1878-1945, Neueröffnung 1946) und im Engadin (Zuoz 1904, Ftan 1913) wurden mit dem Aufschwung des Kurbetriebs und des Fremdenverkehrs weitere Mittelschulen gegründet, die zunächst vor allem interne Schülerinnen und Schüler aus dem In- und Ausland aufnahmen. Dazu kamen in Teilen des Kantons Progymnasien mit unterschiedlicher Lebensdauer. Mit den Unterstützungsbeiträgen, die der Kanton seit 1963 für den Besuch privater, regionaler Mittelschulen durch einheimische Schülerinnen und Schüler ausrichtet, wurde eine Dezentralisierung des Mittelschulwesens eingeleitet. Ab den 1980er Jahren erweiterte der Kanton sein Angebot an Fachhochschulen und höheren Fachschulen (u.a. Hochschule für Technik und Wirtschaft, Academia Engiadina), ausserdem entstanden zahlreiche Institutionen der Erwachsenenbildung. An der Theologischen Hochschule Chur, die sich aus dem seit 1807 in Chur angesiedelten Priesterseminar entwickelte, kann seit 1974 Theologie studiert werden. Die Lehrerausbildung für die Primarstufe und den Kindergarten erfolgt seit 2003 an der Pädagogischen Fachhochschule Graubünden in Chur.

Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur im 19. und 20. Jahrhundert

Bevölkerung und Siedlung

Von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Zweiten Weltkrieg

Graubündens Bevölkerung vergrösserte sich zwischen 1850 und 1888 jährlich um 1,5‰ von 89'895 auf 94'810 Personen. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts dürfte die Zuwachsrate etwas höher gelegen haben. Die langsame Abnahme der Geburtenrate (von 30 auf 25‰) und die im Vergleich zur übrigen Schweiz tiefere Sterblichkeit bewirkten einen hohen Geburtenüberschuss. Das Prinzip der Selbstversorgung, regional verschiedene, auf Realteilung basierende Erbrechte, das hohe Heiratsalter und der Zwang zur Endogamie blieben bis ins 20. Jahrhundert Merkmale des agrarisch geprägten Kantons. Der Bevölkerungsüberschuss wurde mittels Auswanderung ausgeglichen. Kriegsdienste in der Fremde behielten bis zu den italienischen Einigungskriegen 1859 ihre Bedeutung. Alternativen dazu boten die Schwabengängerei, die zwischen 1817 und 1850 durchschnittlich 710 Kinder und Jugendliche pro Jahr nach Süddeutschland führte, und andere Formen der gewerblichen Tätigkeit im Ausland. In der Regel beabsichtigten die Auswanderer eine spätere Rückkehr. Infolge der Französischen Revolution und der Ernährungsengpässe 1816-1817 und 1848-1850 fassten viele Bündner den Entschluss zur definitiven Emigration. Beliebtestes Auswanderungsland waren ab den 1850er Jahren und insbesondere in den 1880er Jahren die Vereinigten Staaten von Amerika, aber auch Russland, Südamerika und Australien wurden als Ziele gewählt.

Die Bekämpfung der Armut bzw. die Integration der sesshaften Nichtbündner und der nicht sesshaften Wandersippen und Einzelwanderer (Fahrende) stellten bis nach 1850 die wichtigsten Probleme der öffentlichen Hand dar. Mit der Schaffung eines gesamtschweizerischen Bürgerrechts 1848 und der den Gemeinden auferlegten Pflicht, die Fremden und Vaganten einzubürgern, wurde eine zwar einheitliche, aber ungerechte Lösung getroffen; sie bevorzugte nämlich diejenigen – oft reicheren – Gemeinden, welche solche Armen konsequent abgeschoben hatten. Die wirtschaftlichen Strukturveränderungen, die zum Verlust der wirtschaftlichen Funktion der Nichtsesshaften führten, beschleunigten deren Ausgrenzung und belasteten die betroffenen Bürgergemeinden über die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit.

Entlang der Passrouten nach Italien war der Warentransit neben der Landwirtschaft bis um die Jahrhundertmitte die wichtigste Erwerbsquelle (Transportgewerbe, Säumerei). Dessen Zusammenbruch als Folge des Baus der grossen Alpenbahnen, das Ende der fremden Kriegsdienste und Strukturveränderungen in der Landwirtschaft leiteten eine Abwanderungsbewegung ein, die anfänglich vor allem Mittelbünden, später alle peripheren Gebiete betraf. Der Anteil der in der Landwirtschaft Tätigen sank von 69% 1860 auf 46% 1910. Die traditionellen Wanderziele in Europa und Übersee verloren nun an Bedeutung, während das schweizerische Mittelland zunehmend an Attraktivität gewann.

Zwischen 1900 und 1910 wuchs die Bevölkerung jährlich um 11,4‰ auf 117'069 Einwohner. Kinder- wie Erwachsenensterblichkeit ging nach 1895 infolge der besseren medizinischen Versorgung rasch zurück. Der Geburtenüberschuss stieg 1901-1910 auf 7,2‰ jährlich an. Beinahe ebenso bedeutend war die Zuwanderung. Chur baute seine Stellung als regionales Verwaltungszentrum aus, die Industrialisierung gelang hingegen kaum. Der Bau der Infrastruktur für die touristischen Zentren sowie des Strassen- und Eisenbahnnetzes machte aus dem traditionellen Auswanderungs- ein Einwanderungsland. Binnen- und Einwanderungsströme in die Fremdenverkehrszentren bzw. zu den grossen Bauplätzen veränderten zeitweise das Gesicht ganzer Regionen. Der Hauptort Chur (1850 6183 Einwohner; 1900 11'532) und Regionalzentren wie Davos (1850 1680 Einwohner; 1900 8089) wuchsen rasch und nachhaltig. Die Anteile der zugewanderten Schweizer und der Ausländer an der Wohnbevölkerung nahmen stetig zu; letzterer lag 1910 im gesamten Kanton bei 17%, in den Bezirken Oberlandquart und Maloja gar bei 32-35%. Im selben Jahr waren 27% der Erwerbstätigen im 3. Sektor (1860 9,5%) und 26% im 2. Sektor tätig. Die peripheren Gebiete wurden allerdings von der Einwanderung und der verbesserten Gesundheitsversorgung kaum erfasst.

Der Erste Weltkrieg leitete eine Phase der verlangsamten Bevölkerungsentwicklung ein, die – unterbrochen von einer Erholung in den 1920er Jahren – bis 1941 anhielt. Das Wachstum war Folge des Geburtenüberschusses (Natalität, Mortalität), während die Wanderungsbilanz negativ blieb. Dennoch wurden auch in den peripheren Regionen die traditionellen Strukturen aufgeweicht. Das Heiratsalter sank, weil die Möglichkeit einer Beschäftigung ausserhalb der Landwirtschaft auch die Vermählung ohne Hofübernahme gestattete. Der Zeitpunkt der Heirat und das Fortpflanzungsverhalten glichen sich jenen der Bevölkerung in der übrigen Schweiz an. Die Wirtschaftskrise und der Beginn des Zweiten Weltkriegs dämpften die Heiratslust (Nuptialität), erst 1941-1950 stieg die Zahl der Eheschliessungen gegenüber dem Jahrzehnt zuvor wieder an. Die Scheidungsrate nahm zwischen 1870 und 1950 um das Zweieinhalbfache zu. Der Erste Weltkrieg und eine restriktivere Politik führten zum Abbau des Ausländeranteils – meist handelte es sich um temporär ansässige Gastarbeiter –, der sich infolge der Weltwirtschaftskrise in den 1930er Jahren fortsetzte. Die Agrargebiete waren 1920-1930 von einer Abwanderung betroffen. Während der Weltwirtschaftskrise verzögerte sich diese, und in einigen Bezirken setzte eine Rückwanderungsbewegung aus dem schweizerischen Mittelland ein.

Bevölkerungsentwicklung des Kantons Graubünden 1850-2000

JahrEinwohnerAusländer-anteilAnteil ProtestantenAnteil KatholikenAlterstruktur (Anteil >59)ZeitraumGesamt- zunahmeaGeburten- überschussaWanderungs- saldoa
185089 8952,4%57,7%42,3% 1850-18600,8‰-0,1‰0,9‰
186090 7133,2%57,3%42,7%9,2%1860-18701,4‰-0,2‰1,6‰
187092 103b4,1%56,5%43,4%10,4%1870-18803,4‰4,6‰-1,2‰
188093 864b6,7%56,0%43,9%11,2%1880-18881,3‰3,6‰-2,3‰
188894 8108,0%54,8%45,1%11,8%1888-19008,2‰4,3‰3,9‰
1900104 52014,3%52,8%47,0%11,1%1900-191011,4‰7,2‰4,2‰
1910117 06917,2%51,0%48,6%10,1%1910-19202,4‰6,8‰-4,4‰
1920119 85412,4%51,9%47,4%10,1%1920-19305,3‰7,0‰-1,7‰
1930126 34012,3%51,3%47,8%10,9%1930-19411,4‰5,9‰-4,5‰
1941128 2477,4%51,6%47,8%13,2%1941-19507,4‰10,0‰-2,6‰
1950137 1008,1%50,7%48,4%14,1%1950-19607,3‰8,3‰-1,0‰
1960147 45811,6%48,0%51,2%14,8%1960-19709,5‰9,2‰0,3‰
1970162 08614,9%45,9%52,9%16,1%1970-19801,6‰4,6‰-3,0‰
1980164 64112,1%45,2%51,0%18,2%1980-19905,5‰4,1‰1,4‰
1990173 89013,3%43,9%49,5%19,3%1990-20005,9‰3,0‰2,9‰
2000187 05815,1%40,8%46,6%20,5%    

a mittlere jährliche Zuwachsrate

b ortsanwesende Bevölkerung

Bevölkerungsentwicklung des Kantons Graubünden 1850-2000 -  Historische Statistik der Schweiz; eidgenössische Volkszählungen; Bundesamt für Statistik

Die Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg

In den Jahren 1941-2000 stieg die Einwohnerzahl um 46% auf 187'058 Personen. Eine erste Phase bis 1970 brachte Zuwachsraten von jährlich 7,2‰. Die in allen Bezirken rasch zunehmende Geburtenrate und die langsam sinkende Sterberate führten zu steigenden Geburtenüberschüssen. Die mittlere Lebenserwartung kletterte von 67,7 (Männer) bzw. 72,6 Jahren (Frauen) 1950 auf 76,6 bzw. 82,4 Jahre 1999. Die Wanderungsbilanz blieb vorerst negativ, dennoch verschob sich der Ausländeranteil von 8,1% 1950 auf 14,9% 1970 und 15,2% 2001. Der beträchtlichen Zuwanderung von Ausländern stand die zahlenmässig noch stärker ins Gewicht fallende Abwanderung von Bündnern gegenüber. Wie im 19. Jahrhundert erfolgte häufig eine Rückwanderung von Pensionierten in ihre Herkunftsdörfer. 1970-1980 verlangsamte sich das Bevölkerungswachstum vorübergehend. Die veränderten Einstellungen gegenüber Ehe, Familie, Sexualität und der Wandel der Geschlechterverhältnisse (Geschlechterrollen) zeigten sich ab der Mitte der 1960er Jahre in einem Rückgang der Geburtenrate (sogenannter Pillenknick). Diese Entwicklung setzte in den verschiedenen Kantonsteilen nicht parallel, sondern zeitverschoben ein; die städtischen Zentren bzw. Gemeinden entlang den Verkehrsachsen wurden früher von ihr erfasst als die peripheren Agrargebiete. Diese Unterschiede waren teilweise auch durch die konfessionellen Bindungen bedingt. Für den beschleunigten Bevölkerungszuwachs in letzten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts (jährlich durchschnittlich 6,8‰) war die erstmals seit 1910 wieder deutlich positive Wanderungsbilanz verantwortlich. Obwohl sich die Bevölkerungszunahme Graubündens nach 1950 dem schweizerischen Mittel langsam annäherte, büssten die peripheren Gebiete zum Teil massiv an Bevölkerung ein. Der Anteil der in der Landwirtschaft Tätigen reduzierte sich 1941-2000 von 38,4% auf 5,7%. Hoch gelegene Gebiete entvölkerten sich, viele Bergsiedlungen wurden aufgegeben. Dieses Fortschreiten des Wüstungsprozesses und die Konzentration der Siedlungen im Talgrund bilden seit der frühen Neuzeit Konstanten der bündnerischen Bevölkerungsgeschichte.

Wirtschaftliche Entwicklung

Ein zentrales Merkmal der neueren Bündner Wirtschaftsgeschichte ist der direkte Übergang von der Vorherrschaft des Primär- zu derjenigen des Tertiärsektors. Der Transitverkehr wurde Ende des 19. Jahrhunderts vom Fremdenverkehr abgelöst, der sich zum Motor der Bündner Volkswirtschaft entwickelte. Der Industriesektor blieb relativ schwach ausgeprägt. Zwar stieg der Anteil der in ihm beschäftigten Erwerbspersonen von 1941 bis 1960 von 24% auf 38% an; nach diesem Zwischenhoch sank er dann aber wieder rasch und lag 1990 bei nur mehr 27%. Nach 1960 erfolgte der Aufschwung Graubündens als Tourismuskanton und damit die Tertiarisierung der Gesellschaft. 2000 waren 71% der Berufstätigen im 3. Sektor tätig.

Transport von Reisegepäck in St. Moritz. Fotografie von Rudolf Zinggeler, um 1900 (Schweizerische Nationalbibliothek, Bern, Eidgenössisches Archiv für Denkmalpflege, Sammlung Zinggeler).
Transport von Reisegepäck in St. Moritz. Fotografie von Rudolf Zinggeler, um 1900 (Schweizerische Nationalbibliothek, Bern, Eidgenössisches Archiv für Denkmalpflege, Sammlung Zinggeler). […]

Von dieser Entwicklung profitierten nicht alle Regionen im gleichen Mass. Dynamischen Tourismusorten sowie Dienstleistungszentren (v.a. Chur) standen lange agrarisch geprägte Regionen mit starker Abwanderung gegenüber. Hauptsächlich aufgrund der touristischen Entwicklung und des Kraftwerkbaus konnte Graubünden nach dem Zweiten Weltkrieg langsam von einem finanzschwachen zu einem finanziell mittelstarken Kanton aufsteigen.

Erwerbsstruktur des Kantons Graubünden 1860-2000a

Jahr1. Sektor2. Sektor3. SektorbTotal
186024 69362,2%7 75119,5%7 24118,3%39 685
1870c29 24169,2%8 31319,7%4 72111,1%42 275
1880c28 37263,6%9 73121,8%6 51314,6%44 616
188825 45857,0%8 70019,5%10 48523,5%44 643
190026 17650,6%13 42225,9%12 15023,5%51 748
191027 70644,5%15 80325,4%18 77930,1%62 288
192028 36647,4%13 40322,4%18 12230,2%59 891
193020 99335,4%15 50026,1%22 88638,5%59 379
194121 63838,4%14 38125,5%20 28936,1%56 308
195016 98129,4%17 63130,6%23 05540,0%57 667
196013 08820,2%25 74239,8%25 82740,0%64 657
197010 72814,1%27 97336,7%37 44149,2%76 142
19808 14710,2%24 89931,4%46 35558,4%79 401
19905 2676,0%23 15826,3%59 75667,7%88 181
2000d4 8044,8%19 47019,6%74 96975,6%99 243

a bis 1960 ohne Teilzeitangestellte

b Residualgrösse einschliesslich "unbekannt"

c ortsanwesende Bevölkerung

d Die Beschäftigtenzahlen der Volkszählung 2000 sind wegen der grossen Zahl "ohne Angabe" (15 082) nur begrenzt mit den vorhergehenden Daten vergleichbar.

Erwerbsstruktur des Kantons Graubünden 1860-2000 -  Historische Statistik der Schweiz; eidgenössische Volkszählungen

Land- und Forstwirtschaft

Landwirtschaft und Forstwirtschaft stellten bis 1920 bezüglich der Anzahl der Beschäftigten die wichtigsten Bündner Erwerbszweige dar. Neue Einnahmen im Nebenerwerb bot der Tourismus. Vom Beginn des 20. Jahrhunderts an ersetzte das Pferd oft den Ochsen und das Rind als Zugtier, bis es infolge der Mechanisierung und der Motorisierung nach dem Zweiten Weltkrieg von Maschinen abgelöst wurde. Wegen billiger Getreideimporte verlor der Ackerbau (v.a. Roggen, Gerste) ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts an Bedeutung und die Ackerflächen verringerten sich. Ausweichmöglichkeiten boten in einzelnen Regionen der Rebbau (Churer Rheintal, Misox, Puschlav), der Obstbau (Churer Rheintal, Domleschg, vorderes Prättigau) und die Kultur von Kastanien (Misox, Bergell, Puschlav). Die Graswirtschaft konzentrierte sich im 20. Jahrhundert auf die guten bzw. tieferen Lagen; vermehrte Düngung ersetzte oft die Bewässerung.

Bergamasker Hirten mit einer Herde im Bergell. Aufnahme des russischen Alpinisten und Fotografen Anton von Rydzewski, 1899 (Staatsarchiv Graubünden, Chur, FR XL/083).
Bergamasker Hirten mit einer Herde im Bergell. Aufnahme des russischen Alpinisten und Fotografen Anton von Rydzewski, 1899 (Staatsarchiv Graubünden, Chur, FR XL/083). […]

In nord- und hochalpinen Tälern lag der Schwerpunkt seit jeher auf der Viehwirtschaft. Wegen der besseren Marktbedingungen überholte diese ab dem 19. Jahrhundert auch in den übrigen Gebieten den Ackerbau allmählich. Der Bestand an Schafen und Ziegen nahm ab. Beim Rindvieh erfolgte eine Spezialisierung auf die Nachzucht. In der Umgebung von Chur und in Tourismusgebieten mit Bedarf an Frischmilch blieb der Kuhbestand höher. Weidegebiet oberhalb der Waldgrenze wurde durch Alpwirtschaft extensiv genutzt. Der produzierte Magerkäse war für den Eigenbedarf bestimmt, etwas Fettkäse und Butter für den Verkauf (Käse). Ab Mitte des 19. Jahrhunderts kamen Talkäsereien auf. Schafherden aus Italien blieben nach der Jahrhundertwende wegen der Seuchengefahr aus (Viehseuchen). Die ab dem Ende des 19. Jahrhunderts erfolgte Alpmodernisierung förderte Gemeinschaftssennereien, die zentralisierte Bewirtschaftung und den Bau neuer Gebäude und Fahrwege.

Auch wenn Getreideimporte die Autarkiewirtschaft seit jeher durchbrochen hatten, so war die Subsistenzökonomie um 1800 wahrscheinlich noch vorherrschend. Der grösste Teil der Einnahmen stammte aus dem Viehverkauf, der in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch auf Tessiner und italienischen, danach hauptsächlich auf kantonalen und ostschweizerischen Märkten getätigt wurde. Noch im frühen 19. Jahrhundert war der Tauschhandel weit verbreitet (etwa Getreide gegen Obst). In der Viehwirtschaft lösten Preiszerfälle eigentliche Agrarkrisen aus, so in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und vor allem in der Zwischenkriegszeit, in der sich viele Betriebe stark verschuldeten (Agrarverschuldung). Die Abschaffung der sogenannten Gemeinatzung scheiterte vor allem am Widerstand der Schmalviehbesitzer. Die Kantonsverfassung von 1880 postulierte ausdrücklich die Förderung der Landwirtschaft, so durch die Prämierungen von Rindvieh und Meliorationen. Genossenschaften für Zucht, Produktion, Konsum und Finanzierung ergänzten ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die traditionellen bäuerlichen Selbsthilfeorganisationen.

Nach 1950 büsste die Landwirtschaft rasch weiter an Bedeutung ein. Der Einkommensrückstand der Bergbauern nahm stetig zu, weshalb vor allem viele kleinere Betriebe (bis zu 10 ha) aufgegeben wurden und die bäuerliche Bevölkerung zurückging. Nur grössere und zentralisierte Höfe, die auch eher von den Vorteilen der Mechanisierung profitierten, überlebten (die durchschnittliche Fläche stieg von 4,76 ha 1939 auf 12,08 ha 1990). Mit dieser Betriebskonzentration ging ein Trend zum bäuerlichen Nebenerwerbsbetrieb einher. Eidgenössische Unterstützungsmassnahmen setzten in den 1920er Jahren ein und wurden ab den 1950er Jahren ausgeweitet; insbesondere das Investitionshilfegesetz von 1974 hatte grosses Gewicht. Die staatlichen Zuschüsse und die Rationalisierungsbemühungen der Bauern selbst konnten die Krise und den Schwund der Berglandwirtschaft nur verzögern, aber nicht aufhalten. Seit den 1990er Jahren bewirtschaften viele Bündner Landwirte (1997 über 30%) ihre Höfe nach Richtlinien der Vereinigung schweizerischer biologischer Landbauorganisationen. Graubünden steht nicht zuletzt deshalb an der Spitze dieser Entwicklung, weil sich die Berglandschaft ohnehin nie für eine industrielle Agrarproduktion eignete.

In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden die Bündner Wälder durch Holzschlag und durchziehende Herden übernutzt; die Waldfläche schrumpfte, was unter anderem Naturkatastrophen auslöste. Das Kantonsforstinspektorat und die Kreisförster – Ersteres wurde mit der Waldverordnung von 1836 eingerichtet, Letztere wurden anlässlich der Reorganisation des Forstwesens 1851 eingesetzt – standen oft im Konflikt mit den Gemeinden, denen der Wald bedeutende Einkünfte verschaffte (Holzwirtschaft). Die Waldarbeit, die lange nur wenige ganzjährig tätige Arbeiter beschäftigte, bot zahlreichen Bauern einen Nebenverdienst. Im 20. Jahrhundert dehnte sich die Waldfläche dank nachhaltiger Nutzung, Aufforstungen und geschultem Personal trotz einer Steigerung des Hiebsatzes wieder aus. Dabei dürfte auch eine Rolle gespielt haben, dass die Waldbewirtschaftung gegen Ende des 20. Jahrhunderts ihre Kosten nicht mehr deckte und der Wald damit keine wichtige Einnahmequelle mehr für die Gemeinden darstellte.

Gewerbe und Industrie

Von der Aufhebung der Churer Zünfte 1840 gingen keine Impulse für eine Industrialisierung aus. Das Fehlen von Konsumzentren im Kanton, die abgeschiedene Lage vieler Orte und Talschaften, die grossen Distanzen zu den Absatzzentren des Mittellandes bzw. die aus diesen resultierenden hohen Transportkosten wirkten sich hindernd aus. Die kantonale Politik bemühte sich überdies mehr um die Ostalpenbahn (Normalspur der Vereinigten Schweizerbahnen 1858 nur bis Chur) und den Tourismus. Aus diesen Gründen entstanden nur wenige industrielle Unternehmungen in Graubünden, überwiegend Klein- und Mittelbetriebe, die sich auf das Churer Rheintal und einige andere Regionalzentren konzentrierten. Der einzige Grossbetrieb blieb die 1936 in Ems gegründete Holzverzuckerungs AG (Ems-Chemie). Das Gewerbe produzierte vor allem für lokale und regionale Bedürfnisse und unterlag den Schwankungen des Dienstleistungssektors, insbesondere des Tourismus. Von der Errichtung einer touristischen Infrastruktur profitierte ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Bauwirtschaft, die viele italienische Arbeitskräfte beschäftigte.

Die Erstellung der Wasserkraftwerke begann 1878, erfuhr um die Jahrhundertwende einen ersten Aufschwung und erlebte nach dem Zweiten Weltkrieg ihre Blütezeit. Die Spitzenleistung aller Kraftwerke des Kantons wurde von 185 Megawatt 1945 auf 2539 Megawatt 1994 gesteigert, Graubünden hinter dem Wallis der grösste Produzent hydroelektrischer Energie (Elektrizitätswirtschaft). Kanton und Gemeinden profitierten finanziell wie infrastrukturell erheblich vom Ausbau der Wasserkraft, obwohl ein fertiggestelltes Kraftwerk nur relativ wenig Arbeitsplätze bietet. Ab dem ausgehenden 20. Jahrhundert stiessen vor allem Grossprojekte auf erheblichen Widerstand seitens des Landschaftsschutzes (Greina, Val Madris, Curciusa).

Tourismus

Vom Ende des 18. Jahrhunderts an führte das Interesse an der alpinen Landschaft Reisende nach Graubünden. Die eigentlichen Gründerjahre des Fremdenverkehrs setzten aber erst nach 1850 ein. Sie zeichneten sich durch den Ausbau der Beherbergungs- und Transportkapazitäten aus, wobei Pioniere wie Alexander Spengler in Davos (1853) oder Johannes Badrutt in St. Moritz (1855) die lokale Entwicklung entscheidend vorantrieben. Manche Orte spezialisierten sich auf Kur-, andere auf Sporttourismus; Behandlungen der Krankheit Tuberkulose kannten vor allem Davos und Arosa, Alpinismus etwa Pontresina. Die Finanzierung erfolgte zum Teil mit einheimischem Geld, zum Teil aber auch mit schweizerischem oder internationalem Kapital. Neue Strassenverbindungen – etwa Landquart-Davos (1842-1860) und Reichenau-Disentis (1840-1858) – wurden angelegt und Hotels gebaut, welche die Bedürfnisse einer reichen, lange verweilenden Kundschaft erfüllten. Später entstanden Eisenbahnlinien nach Davos (1889), ins Engadin (St. Moritz 1904, Scuol 1913), ins Misox (1907), ins Puschlav (1910), in die Surselva (1912) und nach Arosa (1914).

Der Aufschwung des Tourismus prägte ab den 1880er Jahren die Bündner Volkswirtschaft nachhaltig, obwohl der Fremdenverkehr nicht das ganze Kantonsgebiet erfasste. In dieser Wachstumsphase veränderten sich nicht nur die Dorfbilder der Fremdenverkehrsorte – in Arosa, Flims und im Oberengadin entstanden riesige Hotelkomplexe –, sondern auch die Kräfteverhältnisse zwischen den Gemeinden verschoben sich zugunsten der Tourismuszentren. Da viele Arbeitskräfte aus agrarisch geprägten Tälern, die wirtschaftlich und demografisch vom Boom direkt nur wenig profitierten, in der Hotellerie (1905 7999 Beschäftigte) ihr Auskommen fanden (Gastgewerbe), setzte sich während der Belle Epoque der Konsens durch, dass es zum Tourismus keine wirtschaftliche Alternative gäbe. Dementsprechend richteten sich auch die Landwirtschaft, der Handel und das Gewerbe zunehmend auf den Fremdenverkehr aus, und dessen Führungsrolle wurde kaum mehr bestritten.

Wettkampf im Eiskunstlauf an den Olympischen Spielen in St. Moritz, 1928 (Kulturarchiv Oberengadin, Samedan).
Wettkampf im Eiskunstlauf an den Olympischen Spielen in St. Moritz, 1928 (Kulturarchiv Oberengadin, Samedan). […]

In dem Mass, in dem sich der Tourismus in Graubünden durchsetzte, wurde die kantonale Volkswirtschaft aber auch von der europäischen Konjunktur abhängig. Spürbar wurde dies während des Ersten Weltkriegs, in dem der Tourismus einen ersten Einbruch erlebte. In der Zwischenkriegszeit erholte er sich kaum, nur jeweils in der zweiten Hälfte der 1920er und 1930er Jahre waren die Besucherfrequenzen etwas besser. Viele Hotels gingen faktisch von Gründerfamilien an die Banken über. Im Bezirk Maloja verlor zwischen 1929 und 1939 ein Viertel der Beschäftigten ihre Arbeit, und auch die Umsätze sämtlicher nachgelagerter Gewerbe gingen erheblich zurück. Auch während des Zweiten Weltkriegs nahm die Zahl der ausländischen Besucher ab; dieser Rückgang konnte allerdings durch schweizerische Gäste und durch die Belegung von Hotels durch Internierte (Internierungen) teilweise kompensiert werden. In der Zwischenkriegszeit sind auch einige Innovationen zu verzeichnen: Lokale Transportanlagen erschlossen die Landschaft zuerst für den Sommertourismus, später setzten sie vor allem mit Skiliften – erstmals 1934 in Davos – mehrheitlich auf den Winter (Wintersport, Skisport).

Nach dem Zweiten Weltkrieg bildete sich in vielen Bündner Orten eine touristische Monokultur heraus, von der Gewerbe und Landwirtschaft abhängig waren. Der sogenannte Massentourismus setzte etwa ab 1950 ein. Bald übertraf die Anzahl Betten der Parahotellerie jene in Hotels und Pensionen; der hohe Bestand an Ferienhäusern und Ferienwohnungen liess nur temporär bewohnte Agglomerationssiedlungen entstehen. Um 1960 überflügelte der Winter- den Sommertourismus. Nach und nach übernahmen ausländische Arbeitskräfte die Ganzjahres- und insbesondere die Saisonstellen. In einer weiteren Ausbauphase wurden die Transportanlagen massiv erweitert (z.B. in Laax und Savognin). Mit der Einführung des sogenannten Stockwerkeigentums 1965 waren die gesetzlichen Bedingungen für den Bau von Appartementhäusern mit Eigentumswohnungen erfüllt. Der folgende Bauboom und die Zersiedlung des Landes durch Zweitwohnungen wurde später durch die Verkleinerung der Bauzonen und die Einschränkung des Verkaufs von Bauland an Ausländer leicht gebremst.

Die Übernachtungszahlen stagnierten ab den 1980er Jahren. Vor allem seit den 1990er Jahren setzten zahlreiche Gemeinden auf den sanften Tourismus; der Kanton fördert insbesondere jene Formen des Fremdenverkehrs, die eine hohe Wettbewerbsfähigkeit aufweisen, sowie die international konkurrenzfähigen Orte. Schon in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hatte der Tourismus in guten Jahren 30 bis 40% des bündnerischen Volkseinkommens generiert; in der zweiten Jahrhunderthälfte stieg dieser Anteil auf rund 50% an.

Gesellschaftlicher Wandel

1870 waren zwei Drittel der Bündnerinnen und Bündner in der Land- und Forstwirtschaft beschäftigt, 2000 eine noch stärkere Mehrheit im Dienstleistungsbereich. Entsprechend bestimmten bis über die Mitte des 19. Jahrhunderts hinaus bäuerliche Normen und Werte das öffentliche und private Leben, während es in der Folge zunehmend jene der Dienstleistungsgesellschaft waren. Zur Industriegesellschaft hatte Graubünden dagegen stets nur indirekten Bezug, als Lieferant von Wasserkraft und der alpinen Ferienlandschaft. Die meisten Ausseneinflüsse, welche die Bündner Gesellschaft des 19. und 20. Jahrhunderts veränderten, sind dieser spezifischen wirtschaftlichen Situation zuzuschreiben.

Eine starke Arbeiterbewegung kam auf kantonaler Ebene infolge des niedrigen Industrialisierungsgrades nie zustande. Sie erreichte nur lokal Gewicht, so in Chur, Landquart und Davos, meist mit den entsprechenden Kulturvereinen (Arbeitervereine). Stützen der Gewerkschaften waren vor dem Ersten Weltkrieg vor allem deutsche Handwerksgesellen sowie italienische Bauarbeiter. Der Kampf für bessere Arbeitsbedingungen fand vor 1914 in zahlreichen Auseinandersetzungen Niederschlag. Von den Schweizern waren die Bahnarbeiter der Schweizerischen Bundesbahnen (SBB) und der Rhätischen Bahnen (RhB) stark organisiert.

Ein vielfach besungenes Idealbild der Bündner Gesellschaft war bis weit ins 20. Jahrhundert Il pur suveran (Gion Antoni Huonder), der unabhängige Bauer mit vollem Bürgerrecht und eigenem Grund und Boden. Tatsächlich hatte jedoch nie eine geschlossene bäuerliche Gesellschaft bestanden, insbesondere nicht in Transitregionen und Gebieten mit starkem Handwerk. Die Emigration und die Marktabhängigkeit hoch gelegener Viehzuchtregionen schufen zusätzliche Aussenkontakte. Den Hauptanstoss zur bedeutend grösseren räumlichen und sozialen Mobilität gab nach der Mitte des 19. Jahrhunderts der Tourismus. Die Begeisterung für die vermeintlich heile Alpenwelt führte zahlreiche meist bürgerliche, später vermehrt mittelständische Gäste aus dem industrialisierten Europa und aus Übersee nach Graubünden. Saisonale und ganzjährige Angestellte, Hoteliers, Investoren und Gäste aus dem Kanton, der übrigen Schweiz und dem Ausland schufen neu zusammengesetzte, personell instabile lokale Gesellschaften. Bisher vor allem agrarisch geprägte Dörfer und Täler erlebten eine Öffnung, womit steigende Einwohnerzahlen, ein Wandel der Sozialstruktur und veränderte Alltagserfahrungen und Denkmuster einhergingen. Zwischen den zwei Welten bewegten sich zahlreiche Frauen und Männer, die während der Saison in den Hotels arbeiteten und dazwischen zu Hause den Bauernbetrieb besorgten.

Vom Aufkommen des Massentourismus nach 1950 wurden weitere Dörfer erfasst. Die Arbeitskräfte kamen nun vermehrt aus dem Ausland, während die nicht in der einheimischen Landwirtschaft beschäftigte Bevölkerung lohnendere Arbeitsstellen im Baugewerbe und in den Dienstleistungs- und Verwaltungszentren (v.a. Chur) fand, wo manche traditionelle, kulturelle, konfessionelle und sprachliche Bindung allmählich verschwand. Nur wenn der neue Arbeitsplatz innert vernünftiger Zeit erreichbar war, blieben die Menschen gegebenenfalls als Wegpendler im Heimatdorf wohnen. Die Bevölkerungsabnahme und der Abbau der Infrastruktur (Schule, Läden, Gaststätten, Vereine) gefährdeten die Funktionsfähigkeit der Dorfgemeinschaften in abgelegenen Orten. Motorisierung, Ausbau der Strassen und sinkende Lebensqualität in den Zentren führten ab den 1970er Jahren zu einer Gegenbewegung, vor allem in der Agglomeration des Churer Rheintals; «Arbeiten in der Stadt, Wohnen auf dem Land» lautete jetzt die Maxime. 1950 war nur jede fünfzehnte Bündner Erwerbsperson Pendler, 1980 bereits jede fünfte.

In Bezug auf das Steueraufkommen, die volkswirtschaftliche Bedeutung und die Bevölkerungszahl vergrösserte sich bereits im 19. Jahrhundert der Abstand zwischen den landwirtschaftlich ausgerichteten Tälern einerseits und den touristischen Regionen sowie der Schul- und Verwaltungsstadt Chur andererseits. Modernisierungsanstösse kamen vorwiegend aus den Fremdenverkehrsregionen, die mit gestärktem Selbstbewusstsein und einem grösseren Organisationsgrad auftraten, etwa wenn sie mit der Stadt Chur für die Zulassung des Autos warben. Für die einheimischen Bauern, die wirtschaftlich vom Fremdenverkehr abhängig waren, ergab sich eine zwiespältige Situation. Während die Touristen die unberührte, hochalpine Welt schätzten, die von einer urbanen Infrastruktur ergänzt wurde, stand für die Landwirtschaft der Ertrag der Wiesen und Weiden im Zentrum. Den Wechsel zu einer Sichtweise, welche die Ziele des Fremdenverkehrs in den Vordergrund rückte, machten die meisten Einheimischen mit, wenn auch nicht überall gleich schnell und gleich stark. Die Vertreter der landwirtschaftlichen und der touristischen Interessen in Verbänden und Parteien intervenierten vor allem dann erfolgreich, wenn die Landschaft – für alle die ökonomische Grundlage – bedroht war, so bei der geplanten Überflutung der Silserebene im Engadin nach 1900 oder bei der Unterwassersetzung des Rheinwalds während des Zweiten Weltkriegs. Bestrebungen für Kultur- und Landschaftsschutz wurzelten oftmals in einer konservativen Modernisierungsfeindlichkeit und in den Überzeugungen des urbanisierten einheimischen Bildungsbürgertums. Stark präsent im öffentlichen Diskurs blieb stets das Thema Verkehr. Während zuerst die Ostalpenbahn bzw. der Verzicht auf deren Realisierung und die daraus resultierende Benachteiligung Graubündens als «Land dahinten» Anlass zur Klage gaben, standen später die Erschliessung der abgelegenen Orte für den motorisierten Privatverkehr und schliesslich auch die durch diesen bedingten Umweltprobleme zur Diskussion.

Kirche, Kultur und Sprache

Die Entwicklung der Landeskirchen und ihr Verhältnis zum Staat

Ein Merkmal der Entwicklung der Kirchen in Graubünden ist die starke Stellung der reformierten Kirchgemeinden. Die bisher letzte Verfassung der Evangelisch-reformierten Landeskirche wurde 1978 angenommen, die jüngste Revision der Katholischen Landeskirche Graubünden datiert von 1993. Die Interessen der beiden Landeskirchen Graubündens wurden im 19. und 20. Jahrhundert vom Evangelischen Grossen Rat und dem Corpus catholicum vertreten, die als Kirchenparlamente im 19. Jahrhundert auch ein politisches Mandat der Interessenvertretung und Aufsicht erhielten. Die beiden Räte sind damit auch Organe der kirchlichen Autonomie im demokratischen Staat.

Diese Entwicklung war eine Konsequenz aus zahlreichen, seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts geführten Auseinandersetzungen zwischen der katholischen Kirche und dem Staat. In den Verfassungen von 1814/1820 und 1854 schrieb die sogenannte Paritätsklausel vor, dass alle kantonalen Behörden zu zwei Dritteln mit Reformierten und einem Drittel mit Katholiken besetzt werden sollen. Bei der Wahl der Ständeräte und der Erziehungskommission kam der konfessionelle Minderheitenschutz zur Anwendung. Nach der Revision der Bundesverfassung von 1874, die durch die Gewährung der Glaubensfreiheit dem Staat eine strikte Konfessionsneutralität auferlegte, war kein Raum mehr für nach Konfessionen bestellte Kantonsorgane; die Paritätsklausel musste fallengelassen werden. Wegen Unklarheiten blieben die konkreten Aufsichtsbefugnisse der staatlichen Behörden noch lange Zeit umstritten. Dies gilt auch für die Mitwirkungsrechte bei Bischofswahlen.

Nach der Vernichtung des katholischen Liberalismus in den 1880er Jahren richtete sich der katholische Widerstand vor allem gegen die kantonale Schulpolitik. Von Beginn des 20. Jahrhunderts bis gegen Ende der 1940er Jahre kam es zu einem verspäteten Kulturkampf um die Frage der konfessionellen Schulen und des Verhältnisses zwischen Kirche und Staat. Die Auseinandersetzung verlief nun auf der Ebene der Parteipolitik vor allem zwischen den Katholisch-Konservativen und den Demokraten. Eine allmähliche Entkrampfung des Verhältnisses erfolgte zunächst nach dem Zweiten Weltkrieg. Nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962-1965) ergaben sich dann wieder durch die vermehrte Mitwirkung der Laien und der Frauen innerkirchliche Veränderungen und Diskussionen, die besonders nach der Ernennung von Bischof Wolfgang Haas 1990 zu einem heftigen Konflikt in der Diözese Chur führten.

Das Verhältnis zwischen reformierter Kirche und Staat blieb weitgehend ungetrübt. In der evangelischen Kirche dominierten zunächst die traditionellen Auseinandersetzungen um die Sonntagsheiligung und die Gottesdienstgestaltung. Die Basis manifestierte zunehmend ihren Willen, selber Verantwortung für die Mitgestaltung der Kirche zu übernehmen. In den 1930er und 1940er Jahren beteiligte sich die evangelische Kirche mit Aufrufen und Stellungnahmen an den konfessionellen Auseinandersetzungen. Gleichzeitig fanden auch innerkirchliche Diskussionen und Abstimmungen um die Zulassung von Frauen zum Pfarramt (seit 1927) statt. Erst 1965 wurde der Zugang für Frauen zum Pfarramt rechtlich gestattet. Ab den 1970er Jahren führen beide Landeskirchen auch Diskussionen mit einer zunehmend grösser werdenden freikirchlichen Bewegung. Dies begünstigte nach dem Zweiten Vatikanum zwischenzeitlich ökumenische Bestrebungen wie z.B. 1974 die Einrichtung der Interkonfessionellen Gesprächskommission (Ökumene).

Kultur

Plakat des Grafikers Ingo Krauss für die Ausstellung zur vierzigjährigen Tätigkeit der Bündner Sektion der Gesellschaft schweizerischer Maler, Bildhauer und Architekten im Bündner Kunstmuseum Chur, 1976 (Kantonsbibliothek Graubünden, Chur).
Plakat des Grafikers Ingo Krauss für die Ausstellung zur vierzigjährigen Tätigkeit der Bündner Sektion der Gesellschaft schweizerischer Maler, Bildhauer und Architekten im Bündner Kunstmuseum Chur, 1976 (Kantonsbibliothek Graubünden, Chur). […]

Graubünden galt im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts als Kanton mit wenig Kunstsinn, zumindest suchten viele künstlerische Talente ihr Glück in der Fremde. Berühmteste Emigranten waren die Mitglieder der Bergeller Familie Giacometti. Mit dem Aufschwung des Fremdenverkehrs zogen aber auch bedeutende europäische Künstler dauernd oder vorübergehend nach Graubünden, so Giovanni Segantini oder Ernst Ludwig Kirchner. Ende des 19. Jahrhunderts erlebte die professionelle Fotografie einen Aufschwung. 1900 erfolgte die Gründung des Bündner Kunstvereins, der kontinuierlich Ausstellungen veranstaltete, bis 1919 das Bündner Kunstmuseum in Chur diese Aufgabe übernahm. Das Museum betreut die Bündner Kunstsammlung, deren Anfänge auf das späte 19. Jahrhundert zurückgehen, besitzt aber auch Werke zeitgenössischer Bündner Kunstschaffender (z.B. Not Vital, Matias Spescha). Das Segantini Museum in St. Moritz öffnete 1908 seine Tore, das Kirchner Museum in Davos 1982.

Zu den kulturellen Werken zählt man heute auch die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstandenen Kunststrassen über die Alpenpässe und die vor dem Ersten Weltkrieg errichteten Bauten der Rhätischen Bahn. Persönlichkeiten wie Richard La Nicca wirkten wegweisend für die Entwicklung der Ingenieurskunst im 19. Jahrhundert. Die ersten Hotelbauten aus der Zeit der Belle Epoque wurden noch von auswärtigen Architekten entworfen. Vor dem Ersten Weltkrieg entstand dann ein eigenständiger Bündner Heimatstil, den Architekten wie Nicolaus Hartmann, Gaudenz Issler, Martin Risch und Otto Schäfer vertraten. In den Südtälern wirkte der Italiener Giovanni Sottovia und später in Davos der Berner Rudolf Gaberel als Exponent des Neuen Bauens. Nach dem Zweiten Weltkrieg bildete sich in der Bündner Architektur ein moderner Regionalismus aus, etwa bei Rudolf Olgiati. Internationale Beachtung erlangten ab den 1980er Jahren die Bauten von Peter Zumthor, die sich durch ihre einfache, moderne Formensprache und die Verwendung einheimischer Materialien auszeichnen.

Das Auftreten von professionellen Wandertruppen ist in Chur ab der Mitte des 18. Jahrhunderts belegt; die ersten Bündner Theatergruppen wurden im 19. Jahrhundert gegründet. Bis zum Beginn der 1950er Jahre wuchs die Zahl von Laiengruppen in allen drei Sprachregionen stark an. Vereinzelt verbanden diese schon früh künstlerischen Ehrgeiz mit dem traditionellen Anspruch auf Unterhaltung und Geselligkeit. Seit den 1970er Jahren konnte im Kanton eine hoch stehende Laientheaterszene aufgebaut werden. 1976 entrichtete die Stadt Chur erstmals Beiträge an professionelle Aufführungen. Das dortige Stadttheater befindet sich seit 1959 im alten Zeughaus. Bis 1992 zeigte das feste Churer Ensemble Eigenproduktionen, daneben fanden Gastspiele statt. Seither ist das Stadttheater ein Gastspielbetrieb. Eigenständiges, professionelles Theater pflegt die Churer Kleintheaterszene. Als Teil des kulturellen Angebots finden in Tourismuszentren Gastspiele statt, die keine professionelle Theatertradition zu begründen vermochten.

Die rätoromanische Literatur und die italienischsprachige Literatur der Südttäler blieben im 19. Jahrhundert stark regionalen Themen verpflichtet. Als Ausdruck der sprachlich-kulturellen Identität standen das Bündner- und Bauerntum im Zentrum, aber auch die Emigration und die schwierigen wirtschaftlichen Verhältnisse. Als Folge des niedrigen Industrialisierungsgrads fehlte eine sozialkritische Arbeiterliteratur. Für das 20. Jahrhundert gilt Gian Fontana als Begründer des zeitgenössischen rätoromanischen Romans, während Luisa Famos die bündnerische Lyrik erneuerte. Deutschsprachige Autoren wie Johann Benedikt Jörger verfassten vor allem im 19. Jahrhundert Stücke in Dialektliteratur. Im 20. Jahrhundert machten sich Schriftsteller wie Iso Camartin oder Leo Tuor auch ausserhalb der Schweiz einen Namen.

Das öffentliche Bündner Musikleben nahm seinen Anfang im frühen 19. Jahrhundert mit der Gründung von Gesangvereinen. Der Männerchor Chur organisierte 1862 erstmals ein Eidgenössisches Sängerfest (Eidgenössische Feste). Ausserdem konstituierten sich verschiedene Blasmusiken, zum Beispiel 1879 als Vorläuferin der Stadtmusik in Chur die Harmoniemusikgesellschaft. Im 19. Jahrhundert existierten in Chur bereits diverse Laienorchester. 1912 entstand der Churer Orchester-Verein, 1920 wurde ebenfalls in der Kantonshauptstadt die erste Musikschule ins Leben gerufen. Lucius Juon begründete 1938 am selben Ort mit dem Kirchenchor St. Martin eine Tradition von hoch stehenden Aufführungen geistlicher Werke. In der Nachkriegszeit trugen Konzertvereine und regionale Veranstalter das Konzertleben allmählich auch in die Bündner Regionen hinaus. Berufsmusiker schlossen sich 1989 zum Bündner Kammerorchester zusammen. Sommerkonzerte und Festivals sind inzwischen fester Bestandteil des Musiklebens im ganzen Kanton. In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg bildete sich in Chur auch eine Jazzszene. Zahlreiche regionale und lokale Festivals mit alternativ-künstlerischem oder kommerziellem Anspruch sind seit den 1980er Jahren entstanden.

Sprache und Sprachpolitik

Der freundliche Lehrer. Titelseite eines Schulbuchs für die romanische Sprache auf Primarstufe von Andrea Rosius a Porta, 1819 (Kantonsbibliothek Graubünden, Chur).
Der freundliche Lehrer. Titelseite eines Schulbuchs für die romanische Sprache auf Primarstufe von Andrea Rosius a Porta, 1819 (Kantonsbibliothek Graubünden, Chur). […]

Die Dreisprachigkeit Graubündens geht auf die mittelalterlichen Siedlungsverhältnisse zurück (Mehrsprachigkeit). Bis vor 1800 blieb das Rätoromanische als gesprochene Sprache dominierend. Lombardische Idiome (Italienisch) wurden in den südlichen Tälern Misox, Calanca, Bergell und Puschlav gesprochen. Die Modernisierung von Wirtschaft und Gesellschaft brachte ab dem 19. Jahrhundert die Sprachgrenzen rasch in Bewegung. Nach der Mitte des 19. Jahrhunderts verkleinerte sich die rätoromanische Sprachregion zunehmend, wobei vor allem in Mittelbünden und in den Tourismusregionen vermehrt Deutsch gesprochen wurde. Der rätoromanische Raum spaltete sich durch diese Entwicklung in zwei Teile: Einerseits die Gebiete Engadin, Münstertal und Oberhalbstein, andererseits die Surselva. Ab etwa 1860 bildete die Bevölkerung deutscher Muttersprache eine Mehrheit im Kanton. Nach dem Zweiten Weltkrieg veränderte sich die Situation durch den Vormarsch des Englischen erneut. Auch die Sprachen der ausländischen Arbeitskräfte und Flüchtlinge führten dazu, dass sich Graubünden von der Dreisprachigkeit zur Vielsprachigkeit entwickelte.

Nachdem im Freistaat der Drei Bünde keine allgemeine Regelung des öffentlichen Sprachgebrauchs bestanden hatte, faktisch aber die deutsche Sprache als verbindlich betrachtet wurde, wurden im 19. Jahrhundert die Bedeutung und der Wert der Sprachen Themen eines öffentlichen Diskurses, in dessen Verlauf sich der von Placidus Spescha für die verschiedenen konfessionell und räumlich getrennten romanischen Idiome geprägte Sammelbegriff «Rätoromanisch» und die Auffassung von der kulturellen Eigenständigkeit dieses Sprachguts allmählich durchsetzten. Aber noch in der Zeit des italienischen Irredentismus vor und nach dem Ersten Weltkrieg wurde dem Rätoromanischen von der nationalistischen Philologie in Italien der sprachliche Eigencharakter abgesprochen. Die rätoromanische Sprache verschaffte sich mit der Entstehung von Sprachvereinen (Societad Retorumantscha, 1919 Lia Rumantscha als Dachorganisation regionaler Sprachvereinigungen) zunächst im kantonalen Bildungswesen Anerkennung. Unter dem Eindruck der Bedrohung durch den Nationalsozialismus und den Faschismus anerkannten Volk und Stände 1938 mit massivem Mehr das Rätoromanische als vierte Landessprache.

Die Bündner Sprachenpolitik beruht neben den Aufgaben, die der Kanton direkt in Schule und Öffentlichkeit wahrnimmt, auf dem Prinzip der Subsidiarität. Historisch gewachsene, autonome Sprachorganisationen werden vom Kanton und im Fall der rätoromanischen und italienischsprachigen Minderheiten auch vom Bund finanziell unterstützt. Die zentrale Organisation der regionalen Sprachvereine in den vier Tälern Italienischbündens (Misox/Calanca, Puschlav und Bergell), die Pro Grigioni Italiano, besteht seit 1918. Wie die Lia Rumantscha verfügt sie in Chur über ein Zentralsekretariat. 1960 gründeten die Walser eine eigene Kulturorganisation, der die meisten Gemeinden mit walserischer Vergangenheit und eine grosse Zahl von Einzelmitgliedern angehören. Die übrigen Deutschbündner verfügen über keine entsprechende Organisation. Die drei Sprach- und Kulturorganisationen trugen seit den 1980er Jahren zur Entstehung und Verbreitung einer sprachethnischen Identität bei und förderten den Dialog unter den Sprachgruppen. Seit 1982 exisiert mit Rumantsch Grischun eine rätoromanische Standardsprache. Mit der Revision des Sprachenartikels (Artikel 116 der Bundesverfassung von 1874) wurde 1996 die Stellung des Rätoromanischen als Landessprache bestätigt.

Quellen und Literatur

  • Bischöfliches Archiv Chur, Chur.
  • Rätisches Museum, Chur.
  • Regionale Dokumentationsarchive (Brusio, Davos, Grüsch, Mesocco, Samedan, Stampa/Coltura, St. Moritz).
  • Staatsarchiv Graubünden, Chur.
  • Stadtarchiv Chur, Chur.
  • Dandolo, Tullio: Saggio di lettere sulla Svizzera. Il Cantone de' Grigioni, 1829 (neue Ausgabe 1997).
  • Codex diplomaticus (ad historiam Raeticam). Sammlung der Urkunden zur Geschichte Cur-Rätiens und der Republik Graubünden, 4 Bde., 1848-1865.
  • Moor, Conradin von; Sererhard, Nicolaus: Einfalte Delineation aller Gemeinden gemeiner dreien Bünden nach der Ordnung der Hochgerichten eines jeden Bunds, ihren Nammen, Nachbarschafften, Höfen, Situationen, Landsart, Religion u. Land-Sprach nach kurz entworfen, Samt beigefügten etwelchen Merkwürdigkeiten der Natur, 1871-1872 (Neueditionen, bearbeitet von Oskar Vasella, Walter Kern, 1944; von Oskar Vasella, Rudolf Schenda, 1994).
  • Ardüser, Hans; Bott, Jakob: «Hans Ardüser's rätische Chronik», 1877 (erschienen als Beilage zu den Jahresberichten der Naturforschenden Gesellschaft von Graubünden, Neue Folge, 15-20, 1871-1876).
  • Jecklin, Constanz: «Urkunden zur Verfassungsgeschichte Graubündens», in: Jahresbericht der Historisch-Antiquarischen Gesellschaft von Graubünden, 12-13, 1882-1883.
  • Kind, Christian Immanuel (Hg.): Ulrici Campelli Raetiae alpestris topographica Descriptio, 1884.
  • Jecklin, Constanz: «Urkunden zur Verfassungsgeschichte Graubündens», in: Jahresbericht der Historisch-Antiquarischen Gesellschaft von Graubünden, 15, 1885.
  • Plattner, Placidus (Hg.): Ulrici Campelli Historia Raetica, 2 Bde., 1887-1890.
  • Wagner, Rudolf; Salis, Ludwig Rudolf von (Hg.): Rechtsquellen des Cantons Graubünden, 2 Bde., 1887-1892.
  • Jecklin, Constanz: «Urkunden zur Staatsgeschichte Graubündens», in: Jahresbericht der Historisch-Antiquarischen Gesellschaft von Graubünden, 20, 1890.
  • Jecklin, Constanz: «Urkunden zur Staatsgeschichte Graubündens», in: Jahresbericht der Historisch-Antiquarischen Gesellschaft von Graubünden, 21, 1891.
  • Wartmann, Hermann: Rätische Urkunden aus dem Centralarchiv des fürstlichen Hauses Thurn und Taxis in Regensburg, 1891.
  • Schiess, Traugott (Hg.): Bullingers Korrespondenz mit den Graubündnern, 3 Teile, 1904-1906.
  • Jecklin, Fritz von: Materialien zur Standes- und Landesgeschichte Gem. III Bünde (Graubünden), 1464-1803, 2 Bde., 1907-1909.
  • Planta, Robert von; Schorta, Andrea; Huber, Konrad: Rätisches Namenbuch, 3 Bde., 1939-1986.
  • Meyer-Marthaler, Elisabeth; Deplazes, Lothar (Hg.): Bündner Urkundenbuch, 1-, 1955-.
  • Perret, Franz: Urkundenbuch der südlichen Teile des Kantons St. Gallen, Bd. 1, 1961.
  • Die Rechtsquellen des Kantons Graubünden, 19662- (Sammlung schweizerischer Rechtsquellen, GR).
  • Schnyder, Werner: Handel und Verkehr über die Bündner Pässe im Mittelalter zwischen Deutschland, der Schweiz und Oberitalien, 2 Bde., 1973-1975.
  • Jenny, Rudolf (Hg.): Handschriften aus Privatbesitz im Staatsarchiv Graubünden. Repertorium und Regesten, 1974.
  • Jenny, Rudolf (Hg.): Landesakten der Drei Bünde, 1974.
  • Meyer-Marthaler, Elisabeth; Jenny, Rudolf (Hg.): Urkunden-Sammlungen im Staatsarchiv Graubünden, 2 Bde., 1975-1977.
  • Staatsarchiv Graubünden (Hg.): Quellen und Forschungen zur Bündner Geschichte, 1986-.
  • Rizzi, Enrico: Walser Regestenbuch. Quellen zur Geschichte der Walseransiedlung, 1253-1495, 1991.
  • Staatsarchiv Graubünden (Hg.): Jahrzeitbücher, Urbare und Rödel Graubündens, 1-, 1999-.
Historiografie
  • Die historische Forschung Graubündens konzentrierte sich lange auf staatlich-politische bzw. rechtlich-institutionsgeschichtliche Fragen. Grosses Interesse fanden auch kirchengeschichtliche Probleme, die meist im Zeichen des Konfessionalismus aufgearbeitet wurden. Im Bereich der wirtschafts- und sozialgeschichtlichen Themen wurden vor allem der Landesausbau (mit der Kolonisation der Walser) und der Passverkehr berücksichtigt. Mit der materiellen Kultur befasste sich die ur- und frühgeschichtliche Archäologie sowie die Burgen- und Hausforschung. Die Kulturgeschichte der Drei Bünde im 18. Jahrhundert (1875) von Johann Andreas von Sprecher und die Bündnergeschichte (1945) von Friedrich Pieth, die von den Anfängen bis zum Ersten Weltkrieg reicht, gelten als Grundlagen der modernen Bündner Geschichtsschreibung und als Basis der Beschäftigung mit der frühen Neuzeit. Ihnen voran gingen die Standardwerke Peter Conradin von Moors Geschichte von Currätien und der Republik «gemeiner drei Bünde» (1870-1874) und Peter Conradin von Plantas Geschichte von Graubünden (1892). Der Jurist Peter Metz handelte in der dreibändigen Geschichte des Kantons Graubünden (1989-1993) detailreich die Zeit von 1798 bis in die 1980er Jahre ab. Mit dem Handbuch der Bündner Geschichte in drei Bänden (2000), dessen Beiträge von mehr als dreissig Autoren und Autorinnen gestaltet wurden, besteht erstmals eine Darstellung aller Epochen, die auch ins Italienische übersetzt wurde. Adolf Collenberg verfasste eine überarbeitete, einbändige rätoromanische Fassung (Istorgia grischuna 2003). Die rätoromanische Teilausgabe des Historischen Lexikons der Schweiz erschien 2010-2012 mit regionalem Fokus als Lexicon istoric retic (zwei Bände mit rund 3200 Artikeln). Die Fortsetzung als Online-Lexikon (Lexicon istoric da la Svizra, seit 2023) setzt den Hauptakzent auf Übersichtsartikel zur Schweizer Geschichte, wiederum ergänzt um einen regionalen Schwerpunkt «Graubünden/Rumantschia».
Reihen, BibliografieAllgemeines
  • Moor, Conradin von: Geschichte von Currätien und der Republik «gemeiner drei Bünde» (Graubünden). Zum ersten Male in Zusammenhange und nach den Quellen bearbeitet, 3 Bde., 1870-1874.
  • Sprecher, Johann Andreas vonKulturgeschichte der Drei Bünde im 18. Jahrhundert, 1875 (Neu-Edition von Rudolf Jenny, 1951, 19763).
  • Planta, Peter Conradin von: Die currätischen Herrschaften in der Feudalzeit. Mit einer Karte der currätischen weltlichen und geistlichen Herrschaften, 1881.
  • Planta, Peter Conradin von: Geschichte von Graubünden in ihren Hauptzügen, gemeinfasslich dargestellt, 1892 (19133).
  • Mayer, Johann Georg: Geschichte des Bistums Chur, 2 Bde., 1907-1914.
  • Camenisch, Emil: Bündnerische Reformationsgeschichte, 1920.
  • Gillardon, Paul: Geschichte des Zehngerichtenbundes. Festschrift zur Fünfjahrhundertfeier seiner Gründung 1436-1936, 1936.
  • Die Kunstdenkmäler des Kantons Graubünden, Bd. 1-, 1937-.
  • Pieth, Friedrich: Bündnergeschichte, 1945 (19822).
  • Padrutt, Christian: Staat und Krieg im Alten Bünden, 1965 (Neudruck 1991)
  • Simonett, Christoph; Könz, Jachen Ulrich: Die Bauernhäuser des Kantons Graubünden, 1965-1968 (1983-19872).
  • Clavadetscher, Otto P.; Vasella, Oskar et al.: Festschrift 600 Jahre Gotteshausbund. Zum Gedenken an die Gründung des Gotteshausbundes am 29. Januar 1367, 1967.
  • Liver, Peter: Abhandlungen zur schweizerischen und bündnerischen Rechtsgeschichte, 1970.
  • Meyer-Marthaler, Elisabeth: Studien über die Anfänge Gemeiner Drei Bünde, 1973.
  • Bornatico, Remo: L'arte tipografica nelle Tre Leghe (1547-1803) e nei Grigioni (1803-1975), 1976.
  • Bundi, Martin: Zur Besiedlungs- und Wirtschaftsgeschichte Graubündens im Mittelalter, 1982 (19892).
  • Pichard, Alain: Les Grisons. Mosaïque d'une nation alpine, 1983.
  • Clavadetscher, Otto P.; Meyer, Werner et al.: Das Burgenbuch von Graubünden, 1984.
  • Metz, Peter: Geschichte des Kantons Graubünden, 3 Bde., 1989-1993.
  • Mathieu, Jon: Eine Agrargeschichte der inneren Alpen. Graubünden, Tessin, Wallis: 1500-1800, 1992.
  • Churer Stadtgeschichte, 2 Bde., 1993.
  • Vasella, Oskar: Geistliche und Bauern. Ausgewählte Aufsätze zu Spätmittelalter und Reformation in Graubünden und seinen Nachbargebieten, 1996.
  • Jäger, Georg; Sablonier, Roger et al.: Handbuch der Bündner Geschichte, 4 Bde., 2000-2005.
  • Collenberg, Adolf; Gross, Manfred: Istorgia grischuna, 2003.
Von der Ur- und Frühgeschichte bis zur Römerzeit
  • Wiedemehr, Hans Rudolf: «Die Walenseeroute in frührömischer Zeit», in: Degen, Rudolf; Drack, Walter; Wyss, René: Helvetia antiqua. Festschrift Emil Vogt. Beiträge zur Prähistorie und Archäologie der Schweiz, 1966, S. 167-172.
  • Lieb, Hans; Wüthrich, Rudolf: Lexicon topographicum der römischen und frühmittelalterlichen Schweiz, 1967.
  • Risch, Ernst: «Die Räter als sprachliches Problem», in: Jahrbuch der Schweizerischen Gesellschaft für Urgeschichte, 55, 1970, S. 127-134 (Neubearbeitung, 1984, in: Schriftenreihe des Rätischen Museums Chur, 28, 1984, pp. 22-36).
  • Lejeune, Michel: Lepontica, 1971.
  • Overbeck, Bernhard; Pauli, Ludwig: Geschichte des Alpenrheintals in römischer Zeit. Auf Grund der archäologischen Zeugnisse, 2 Bde., 1973-1982.
  • Frei-Stolba, Regula: «Die römische Schweiz. Ausgewählte staats- und verwaltungsrechtliche Probleme im Frühprinzipat», in: Temporini, Hildegard (Hg.): Aufstieg und Niedergang der römischen Welt, Teil 2, Bd. 5.1, 1976, S. 288-403.
  • Pauli, Ludwig: Die Alpen in Frühzeit und Mittelalter. Die archäologische Entdeckung einer Kulturlandschaft, 1980.
  • Zürcher, Andreas C.: Urgeschichtliche Fundstellen Graubündens, 1982.
  • Walser, Gerold: Die römischen Strassen und Meilensteine in Raetien, 1983.
  • Historisch-antiquarische Gesellschaft von Graubünden (Hg.): Beiträge zur Raetia Romana. Voraussetzungen und Folgen der Eingliederung Rätiens ins Römische Reich, 1987.
  • Frei-Stolba, Regula: «Viehzucht, Alpwirtschaft, Transhumanz», in: Whittaker, Charles R.Pastoral Economies in Classical Antiquity, 1988, S. 143-159.
  • Sennhauser, Hans Rudolf: «Recherches récentes en Suisse. Edifices funéraires, cimetières et églises», in: Duval, Noël (Hg.): Actes du XIe Congrès International d'Archéologie Chrétienne. Lyon, Vienne, Grenoble, Genève et Aoste (21-28 septembre 1986), Bd. 2, 1989, S. 1515-1533.
  • Archäologischer Dienst Graubünden (Hg.): Archäologie in Graubünden. Funde und Befunde. Festschrift zum 25jährigen Bestehen des Archäologischen Dienstes Graubünden, 1992.
  • Rageth, Jürg: «Kleine Urgeschichte Graubündens», in: Archäologie der Schweiz, 23, 2000, S. 32-46.
  • Schaub, Andreas: «Die förmliche Provinzkonstitution Raetiens unter Tiberius nach dem Zeugnis des Velleius Paterculus», in: Germania. Anzeiger der Römisch-Germanischen Kommission des Deutschen Archäologischen Instituts, 79, 2001, S. 391-400.
  • Rageth, Jürg: «Urgeschichte Graubündens im Überblick», in: Sölder, Wolfgang (Hg.): Zeugen der Vergangenheit. Archäologisches aus Tirol und Graubünden, 2002, S. 87-123.
  • Rageth, Jürg: Römische Fundstellen Graubündens, 2004.
Graubünden im Früh- und Hochmittelalter
  • Camenisch, Carl: «Vom Bündner Schrifttum», in: Schmid, Walter (Hg.): Graubünden: Ein Heimatbuch, 1942, S. 107-113.
  • Zendralli, Arnoldo Marcelliano: Pagine grigionitaliane. Raccolta di scritti in prosa e in versi, 16.-20. secolo, 1956, S. 13-28.
  • Büttner, Heinrich: Frühmittelalterliches Christentum und fränkischer Staat zwischen Hochrhein und Alpen, 1961.
  • Büttner, Heinrich: «Churrätien im 12. Jahrhundert», in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, 13, 1963, S. 1-32.
  • Deplazes, Lothar: Reichsdienste und Kaiserprivilegien der Churer Bischöfe von Ludwig dem Bayern bis Sigmund, 1973.
  • Ur- und frühgeschichtliche Archäologie der Schweiz, Bd. 6, 1979.
  • Maurer, Helmut (Hg.): Churrätisches und st. gallisches Mittelalter. Festschrift für Otto P. Clavadetscher zu seinem fünfundsechzigsten Geburtstag, 1984.
  • Brunold, Ursus; Deplazes, Lothar: Geschichte und Kultur Churrätiens. Festschrift für Pater Iso Müller OSB zu seinem 85. Geburtstag, 1986.
  • Clavadetscher, Otto P.; Brunold, Ursus; Deplazes, Lothar: Rätien im Mittelalter. Verfassung, Verkehr, Recht, Notariat. Ausgewählte Aufsätze. Festgabe zum 75. Geburtstag, 1994.
  • Hitz, Florian: «Die Walser im Prättigau», in: Jahresbericht der Walservereinigung, 1998, S. 21-53.
  • Kaiser, Reinhold: Churrätien im frühen Mittelalter. Ende 5. bis Mitte 10. Jahrhundert, 1998.
  • Kaiser, Reinhold: «Autonomie, Integration, bilateraler Vertrag – Rätien und das Frankenreich im frühen Mittelalter», in: Francia, 29, 2002, S. 1-27.
  • Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, Bd. 24, 2003, S. 79-86.
  • Ackermann, Josef; Grüninger, Sebastian: «Christentum und Kirche im Ostalpenraum im ersten Jahrtausend», in: Sennhauser, Hans Rudolf: Frühe Kirchen im östlichen Alpengebiet. Von der Spätantike bis in ottonische Zeit, Bd. 2, 2003, S. 793-816.
Der Freistaat der Drei Bünde
  • Grimm, Paul Eugen: Die Anfänge der Bündner Aristokratie im 15. und 16. Jahrhundert, 1981.
  • Färber, Silvio: Der bündnerische Herrenstand im 17. Jahrhundert. Politische, soziale und wirtschaftliche Aspekte seiner Vorherrschaft, 1983.
  • Scheurer, Rémy: «Les Grisons dans les communications avec la France, Venise et l'Orient au milieu du XVIe siècle», in: Cinq siècles de relations franco-suisses. Hommage à Louis-Edouard Roulet, 1984, S. 37-49.
  • Pfister, Max: Baumeister aus Graubünden. Wegbereiter des Barock. Die auswärtige Tätigkeit der Bündner Baumeister und Stukkateure in Süddeutschland, Österreich und Polen vom 16. bis zum 18. Jahrhundert, 1993.
  • Saulle Hippenmeyer, Immacolata: Nachbarschaft, Pfarrei und Gemeinde in Graubünden, 1400-1600, 1997.
  • Bundi, Martin; Lietha, Walter (Hg.): Freiheit einst und heute. Gedenkschrift zum Calvengeschehen 1499-1999, 1999.
  • Fischer, Albert: Reformatio und Restitutio. Das Bistum Chur im Zeitalter der tridentinischen Glaubenserneuerung. Zugleich ein Beitrag zur Geschichte der Priesterausbildung und Pastoralreform (1601-1661), 2000.
  • Head, Randolph C.: Demokratie im frühneuzeitlichen Graubünden. Gesellschaftsordnung und politische Sprache in einem alpinen Staatswesen, 1470-1620, 2001.
  • Bundi, Martin: Gewissensfreiheit und Inquisition im rätischen Alpenraum. Demokratischer Staat und Gewissensfreiheit, von der Proklamation der «Religionsfreiheit» zu den Glaubens- und Hexenverfolgungen im Freistaat der Drei Bünde (16. Jahrhundert), 2003.
Von der Redaktion ergänzt
  •  Hitz, Florian: Fürsten, Vögte und Gemeinden. Politische Kultur zwischen Habsburg und Graubünden im 15. bis 17. Jahrhundert, 2012.
Der Staat im 19. und 20. Jahrhundert
  • Bundi, Martin: Bedrohung, Anpassung, Widerstand. Die Grenzregion Graubünden 1933-1946, 1996.
  • Bundi, Martin; Rathgeb, Christian (Hg.): Die Staatsverfassung Graubündens. Zur Entwicklung der Verfassung im Freistaat der Drei Bünde und im Kanton Graubünden, 2003.
  • Rathgeb, Christian: Die Verfassungsentwicklung Graubündens im 19. Jahrhundert, 2003.
Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur im 19. und 20. Jahrhundert
  • Töndury-Osirnig, Gian Andri: Studie zur Volkswirtschaft Graubündens und zukünftiger Ausbau der bündnerischen Wasserkräfte, 1946.
  • Kaiser, Dolf: Cumpatriots in Terras estras. Prouva d'üna documentaziun davart l'emigraziun grischuna, considerand in speciel l'Engiadina e contuorns, 1968.
  • Catrina, Werner: Die Entstehung der Rhätischen Bahn, 1972.
  • Bundi, Martin: Arbeiterbewegung und Sozialdemokratie in Graubünden, 1981.
  • Graf, Werner: «Die Ordnung der Evangelischen Kirche in Graubünden von der Reformation bis 1980», in: Jahresbericht der Historisch-Antiquarischen Gesellschaft von Graubünden, 112, 1982, S. 7-93.
  • Arquint, Jachen C.: Zur Entwicklung der Volks- und Mittelschule in Graubünden, 1984.
  • Kruker, Robert: Jugend im Berggebiet. Berufliche, soziale, kulturelle und räumliche Orientierungen. Untersuchungen in den Regionen Albulatal/Mittelbünden (GR), Leuk (VS), Diemtigtal (BE), 1984.
  • Kaiser, Dolf: Fast ein Volk von Zuckerbäckern? Bündner Konditoren, Cafetiers und Hoteliers in europäischen Ländern bis zum Ersten Weltkrieg. Ein wirtschaftsgeschichtlicher Beitrag, 1985 (19882).
  • Simonett, Jürg: Verkehrserneuerung und Verkehrsverlagerung in Graubünden. Die «Untere Strasse» im 19. Jahrhundert, 1986.
  • Mantovani, Paolo: La strada commerciale del San Bernardino nella prima metà del XIX secolo, 1988.
  • Mathieu, Jon: «Die Organisation der Vielfalt: Sprachwandel und Kulturbewegung in Graubünden seit dem Ancien Régime», in: Bündner Monatsblatt, 1988, S. 153-170.
  • Meyer, Clo: «Unkraut der Landstrasse». Industriegesellschaft und Sesshaftigkeit, am Beispiel der Wandersippen und der schweizerischen Politik an den Bündner Jenischen vom Ende des 18. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg, 1988.
  • Stiftung Bündner Kunstsammlung Chur; Schweizerisches Institut für Kunstwissenschaft Zürich (Hg.): Bündner Kunstmuseum Chur. Gemälde und Skulpturen, 1989.
  • Bühler, Roman: Bündner im Russischen Reich. 18. Jahrhundert – Erster Weltkrieg, ein Beitrag zur Wanderungsgeschichte Graubündens, 1991.
  • Jenny, Valentin: Handwerk und Industrie in Graubünden im 19. Jahrhundert. Bestrebungen zur Förderung von Handwerk und Einführung von Industrie als Massnahme zur Hebung des Volkswohlstandes, 1991.
  • Churer Stadtgeschichte. Von der Mitte des 17. Jahrhunderts bis zur Gegenwart, Bd. 2, 1993.
  • Bollier, Peter: Davos und Graubünden während der Weltwirtschaftskrise 1929-1939. Auswirkungen auf Arbeitsmarkt, Beschäftigungs- und Sozialpolitik, 1995.
  • Chappuis, Isabelle; Stutzer, Beat: Übergänge. Kunst aus Graubünden, 1936-1996, 1996 (Ausstellungskatalog).
  • Kessler, Daniel: Hotels und Dörfer. Oberengadiner Hotellerie und Bevölkerung in der Zwischenkriegszeit, 1997.
  • Stäuble, Antonio; Stäuble, Michèle: Scrittori del Grigioni italiano. Antologia letteraria, 1998, S. 39-57.
  • Hofmann, Silvia; Jecklin, Ursula; Redolfi, Silke (Hg.): Frauenrecht. Beiträge zur Frauen- und Geschlechtergeschichte Graubündens im 19. und 20. Jahrhundert, 2003.
  • Braschler, Karl ; Lechmann, Gion: 200 Jahre Bündner Kantonsschule, 1804-2004, 2004.
  • Seglias, Loretta: Die Schwabengänger aus Graubünden. Saisonale Kinderemigration nach Oberschwaben, 2004.
Weblinks
Weitere Links
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Grisons (französisch)

Zitiervorschlag

Florian Hitz; Jürg Rageth; Stefanie Martin-Kilcher; Reinhold Kaiser; Werner Meyer; Martin Bundi; Peter Bollier; Max Hilfiker; Silvio Färber; Ulrich Pfister; Adolf Collenberg; Marc Antoni Nay; Philipp von Cranach; Georg Jäger; Jürg Simonett: "Graubünden", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 29.08.2023. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/007391/2023-08-29/, konsultiert am 19.03.2024.