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St. GallenKanton

Seit 1803 Kanton der Eidgenossenschaft. Amtliche Bezeichnung: Kanton St. Gallen. Amtssprache ist Deutsch. Französisch Saint-Gall, italienisch San Gallo, rätoromanisch Son Gagl. Hauptort ist St. Gallen. Das Kloster, die Stadt, der Kanton und das 1847 errichtete Bistum verdanken ihren Namen dem irischen oder irofränkischen Wandermönch und Glaubensboten Gallus.

Wappen des Kantons St. Gallen
Wappen des Kantons St. Gallen […]
Oro- und hydrografische Karte des Kantons St. Gallen mit den wichtigsten Ortschaften
Oro- und hydrografische Karte des Kantons St. Gallen mit den wichtigsten Ortschaften […]

Das heutige Kantonsgebiet umfasste vom 16. Jahrhundert bis 1798 die Herrschaftsgebiete der Fürstabtei St. Gallen, nämlich die Alte Landschaft (Fürstenland) und die Grafschaft Toggenburg als sogenannte Neue Landschaft, zudem die freie Reichsstadt St. Gallen und weiter die Landvogtei Rheintal, die Freiherrschaft Sax-Forstegg, die Herrschaft Gams, die Grafschaften Werdenberg und Sargans (Sarganserland), die Fürstabtei Pfäfers, die Landvogtei Gaster und Weesen, die Grafschaft Uznach sowie den kleinen Stadtstaat Rapperswil.

Der im Osten der Schweiz gelegene Kanton St. Gallen umschliesst die Kantone Appenzell Innerrhoden und Appenzell Ausserrhoden und grenzt im Osten, getrennt durch den Rhein und den Alten Rhein, an das Fürstentum Liechtenstein sowie Österreich (Bundesland Vorarlberg) und im Norden an die Bundesrepublik Deutschland (Bundesländer Bayern und Baden-Württemberg), wobei die Landesgrenze zwischen Altenrhein und Goldach sowie bei Steinach durch den Bodensee verläuft. Das auch am Bodensee gelegene Horn ist eine thurgauische Exklave. Im Westen und Süden grenzt er an die Kantone Thurgau, Zürich, Schwyz, Glarus und Graubünden.

Struktur der Bodennutzung im Kanton St. Gallen

Fläche (2006)2 025,6 km2 
Wald / bestockte Fläche619,6 km230,6%
Landwirtschaftliche Nutzfläche970,6 km247,9%
Siedlungsfläche176,1 km28,7%
Unproduktive Fläche259,3 km212,8%
 Struktur der Bodennutzung im Kanton St. Gallen -  Arealstatistik der Schweiz

Der nördliche Kantonsteil zwischen Bodensee und der Achse Walensee-Oberriet im Rheintal gehört zum Mittelland sowie zu den Voralpen, der südliche Teil mit dem oberen Toggenburg, Teilen Werdenbergs und des Sarganserlands zu den Alpen. Topografisch ist St. Gallen zudem durch grosse Täler geprägt: Das Rheintal im Osten, das Seeztal, den Walensee und die Linthebene im Süden sowie das Thurtal im Westen. Durch den Kanton führen die beiden wichtigen Transitrouten vom Bodensee- und vom Walenseeraum zu den Bündner Pässen. Rhein und Thur entwässern als Hauptflüsse das Kantonsgebiet, die Seez fliesst in den Walensee, dessen Wasser sich durch den Linthkanal in den Zürichsee ergiesst.

Bevölkerungs- und Wirtschaftsstruktur des Kantons St. Gallen

Jahr 18501880a1900195019702000
Einwohner 169 625209 719250 285309 106384 475452 837
Anteil an Gesamtbevölkerung der Schweiz7,1%7,4%7,6%6,7%6,1%6,2%
Sprache       
Deutsch  208 718243 358299 692339 754398 666
Italienisch  9605 3006 05828 37210 640
Französisch  3767101 5031 6041 813
Rätoromanisch  2394521 1271 482845
Andere  19846572613 26340 873
Religion, Konfession       
Katholischb 105 370126 164150 412184 087244 625236 733
Protestantisch 64 19283 44199 114122 039133 557127 929
Christkatholisch    1 048319330
Andere 638867591 9325 97487 845
davon jüdischen Glaubens 63371556565321231
davon islamischen Glaubens     97127 747
davon ohne Zugehörigkeitc     1 91328 786
Nationalität       
Schweizer 166 367198 195221 841289 268325 641361 904
Ausländer 3 25811 52428 44419 83858 83490 933
Jahr  19051939196519952005
Beschäftigte im Kanton1. Sektor 44 41454 08517 38916 296d13 829
 2. Sektor 83 77958 31393 19386 56382 089
 3. Sektor 22 78330 91455 384128 483143 308
Jahr  19651975198519952005
Anteil am Schweiz. Volkseinkommen 5,3%5,3%5,4%5,6%5,1%

a Einwohner, Nationalität: Wohnbevölkerung; Sprache, Religion: ortsanwesende Bevölkerung

b 1880 und 1900 einschliesslich der Christkatholiken; ab 1950 römisch-katholisch

c zu keiner Konfession oder religiösen Gruppe gehörig

d gemäss landwirtschaftl. Betriebszählung 1996

Bevölkerungs- und Wirtschaftsstruktur des Kantons St. Gallen -  Historische Statistik der Schweiz; eidgenössische Volkszählungen; Bundesamt für Statistik

Von der Steinzeit bis zum Frühmittelalter

Ur- und Frühgeschichte

Mitte des 19. Jahrhunderts setzte die archäologische Erforschung des Kantons ein: 1864-1865 grub Peter Paul Immler von St. Gallen das Badegebäude der römischen Villa von Sargans-Malerva aus. Mitglieder des Historischen Vereins des Kantons St. Gallen waren zur selben Zeit auch als Sammler prähistorischer und römischer Gegenstände tätig; dies vorwiegend im Sarganserland. Ab 1890 folgten Grabungen in Höhlen, Höhensiedlungen und Burgen durch Jakob Heierli, Emil Bächler, Theophil Nigg, Benedikt Frei und Franziska Knoll-Heitz. Mit dem Bauboom und der Schaffung einer Kantonsarchäologie 1966 verkleinerten sich die zeitlichen Fundlücken im Fürstenland und im Toggenburg allmählich.

Alt-, Mittel- und Jungsteinzeit

Bisher ältester Beleg für die Anwesenheit von Menschen im Kanton ist eine über 50'000 Jahre alte Feuerstelle im Drachenloch oberhalb Vättis (2427 m, Pfäfers). Sie zeugt von der saisonalen Präsenz einer Jagdgruppe von Neandertalern in einer Warmphase der letzten Eiszeit. Später (vor 30'000-40'000 Jahren) hielten sich Neandertaler auch im Wildenmannlisloch am Selun (Wildhaus-Alt St. Johann) auf. Sie verwendeten Steingeräte aus Ölquarzit, einem Gestein, das in etwa 9 km Entfernung bei Wildhaus vorkommt. In der Hauptphase der letzten Eiszeit war das Kantonsgebiet weitgehend vergletschert. Spuren menschlicher Tätigkeit aus dem Spätpaläolithikum (vor 10'000-12'000 Jahren) sind einzig im Rheintal nachgewiesen. Gefunden wurden Abschläge von Steinwerkzeugen unterhalb der Saxerlücke (Sennwald) und eine Feuerstelle in einem Abri (Felsdach) im Hirschensprung (Rüthi).

Mit der zunehmenden Erwärmung und Wiederbewaldung im Mesolithikum verbesserten sich die Lebensbedingungen. Menschen lebten vor allem an Seen und Flüssen. Entsprechende Siedlungsstellen finden sich im Rheintal in Wartau-Oberschan-Moos und am Werdenbergersee.

Ur- und frühgeschichtliche Fundorte im Kanton St. Gallen (A)
Ur- und frühgeschichtliche Fundorte im Kanton St. Gallen (A) […]

Um die Mitte des 6. Jahrtausends v.Chr. wurden die ersten Bauern in der Ostschweiz sesshaft. Kulturell orientierten sie sich hauptsächlich gegen Norden und Nordosten. Deutlich zeigt sich dies im Rheintaler Fundmaterial von Sevelen-Pfäfersbüel (Epi-Rössener-Kultur, Lutzengüetle-Kultur, um 4300 v.Chr.). Allerdings sind auch Verbindungen der materiellen Kultur zum Mittelland nachweisbar. Dies gilt für alle jüngeren neolithischen Siedlungen auf Pfäfersbüel und die übrigen Siedlungsstellen im Kanton (Pfyner Kultur für Sevelen-Geissberg und Rapperswil-Jona-Feldbach Ost; Horgener Kultur für Wartau-Ochsenberg, Vilters-Wangs-Severgall und Rapperswil-Jona-Seegubel). Auch das Steinkistengrab von Rapperswil-Jona-Kempraten zeugt von Einflüssen aus Westen und Norden. Mit der in ganz Mitteleuropa verbreiteten Schnurkeramikkultur vermischten sich die Unterschiede in der materiellen Kultur. Siedlungsstellen wurden um Rapperswil, im Seeztal und im Rheintal nachgewiesen. Gräber dazu sind bislang nicht bekannt.

Bronze- und Eisenzeit

Mit der allgemeinen Verwendung von Kupfer und seinen Legierungen intensivierte sich der überregionale Handel. Wie der Hortfund von Sennwald-Salez (um 2000 v.Chr.) zeigt, wurde Kupfer in Form standardisierter Barren transportiert. Gute klimatische Verhältnisse und der Kupferabbau bewirkten zudem eine vermehrte Besiedlung des Alpenraums sowie allgemein eine höhere Bevölkerungsdichte. Von Höhen- und Seeufersiedlungen aus (wie Flums-Gräpplang, Mels-Castels, Wartau-Ochsenberg, Rapperswil-Jona-Technikum) wurden in der Frühbronzezeit (2200-1500 v.Chr.) Handel und Verkehr kontrolliert. Die mehrfach erneuerten Holzstege über die Seeenge bei Rapperswil sowie Fundgegenstände weisen auf die Bedeutung des überregionalen Handels während der späten Frühbronzezeit hin.

Eine Klimaverschlechterung führte um 1600 v.Chr. zur Aufgabe der Seeufersiedlungen. In der Mittelbronzezeit befanden sich die Siedlungen vor allem an Talflanken und auf Hügeln (Wartau-Herrenfeld, Rapperswil-Jona-Wagen-Erlen, Mels-Castels und Schänis-Gasterholz). Einzelfunde von Nadeln, Beilen und Waffen belegen eine relativ dichte Besiedlung des gesamten Kantonsgebiets.

In der Spätbronzezeit (1350-800 v.Chr.) werden weiträumige Kontakte zum Beispiel nach Nord- und Mittelitalien fassbar. Funde aus den grossen, teilweise befestigten Höhensiedlungen im St. Galler Rhein- und Seeztal (Oberriet-Montlingerberg, Mels-Castels, Flums-Gräpplang, Walenstadt-Berschis-St. Georg) deuten darauf hin, dass sich hier kleinere Gruppen von Menschen aus dem Südtirol bzw. Trentino niederliessen. Neben dem Handel mit Rohstoffen (Fahlerzkupfer) und Luxusgütern (Bernstein) dürfte auch die Wollproduktion eine Rolle gespielt haben. Über die Besiedlung des nördlichen Kantonsteils ist noch sehr wenig bekannt; hier scheinen die Siedlungen vor allem auf Hochterrassen gelegen zu haben (Goldach-Mühlegut, Wil-Fürstenaupark).

Hallstattzeitliche Keramikgefässe, um 700 v.Chr. Fundort Balmenrain an der Gemeindegrenze zwischen Eschenbach und Schmerikon (Kantonsarchäologie St. Gallen).
Hallstattzeitliche Keramikgefässe, um 700 v.Chr. Fundort Balmenrain an der Gemeindegrenze zwischen Eschenbach und Schmerikon (Kantonsarchäologie St. Gallen). […]

Der Beginn der frühen Eisenzeit (800-450 v.Chr.) ist durch eine Verlagerung der Siedlungen aufgrund einer Klimaverschlechterung gekennzeichnet. Die Höhensiedlungen in den St. Galler Flusstälern blieben bewohnt; von den vermuteten Einzelhofsiedlungen fand sich bisher keine Spur. Eine Gruppe von Grabhügeln auf dem Balmenrain (Eschenbach) könnte allerdings auf einen in der Nähe liegenden Hof hinweisen.

Zu Beginn der späten Eisenzeit (450-15 v.Chr.) verdichtet sich das Siedlungsbild wieder: Im Rhein- und Seeztal lebte eine räto-keltische Gruppe, die offenbar gute Kontakte mit dem südalpinen Raum hatte; im Linthgebiet, Toggenburg und Fürstenland entsprechen die kulturellen Erscheinungen denen des schweizerischen Mittellands. Im 3.-1. Jahrtausend v.Chr. glichen sich Rhein- und Seeztal immer mehr dem übrigen Kantonsgebiet an. Unterschiedlich blieb das kultische Verhalten. Während in Weesen ein keltischer Wasseropferplatz bestand, existierte in Wartau-Ochsenberg ein Brandopferplatz ostalpiner Tradition, der noch in römischer Zeit benutzt wurde.

Römische Zeit

Mit dem Alpenfeldzug von Tiberius und Drusus 15 v.Chr. kam das Gebiet des Kantons St. Gallen unter römische Herrschaft. Die nur kurzzeitig besetzten Wachttürme Biberlikopf, Stralegg und Voremwald am westlichen Walensee wurden in der Vorbereitungsphase des Feldzugs erbaut. Ob das Verbergen des römischen Münzschatzes von St. Gallen-Bruggen auch damit zusammenhängt, bleibt offen.

Ur- und frühgeschichtliche Fundorte im Kanton St. Gallen (B)
Ur- und frühgeschichtliche Fundorte im Kanton St. Gallen (B)

Es ist anzunehmen, dass die keltischen Siedlungen weiterhin bewohnt waren. Neu gegründet wurde in der ersten Hälfte des 1. Jahrhunderts der Vicus Kempraten (Rapperswil-Jona), wo der Verkehrsweg nach Oberwinterthur von der Verbindung Chur-Zürich abzweigte. In der zweiten Hälfte des 1. Jahrhunderts erfolgte nach einem verheerenden Brand der Holzbauten ein Ausbau mit Steingebäuden, der dem Ort ein urbanes Aussehen gab: An einen ummauerten Platz mit einem Tempel im Zentrum des Vicus schlossen sich grosse quadratische oder rechteckige, teilweise zweistöckige Häuser an, in deren Hinterhofbereich kleinere Wirtschafts- und Handwerkerhäuser standen. Am Nordrand des Vicus befand sich zudem ein ebenfalls ummauerter gallo-römischer Tempelbezirk. Funde zeigen, dass der Vicus sicher bis ins 4. Jahrhundert bewohnt war.

Die Bewohner grösserer und kleinerer, über den ganzen Kanton verteilter Gutshöfe betrieben Landwirtschaft und Handwerk (Sargans-Malerva mit Ziegelbrennerei, Oberriet-Montlingerberg, Rorschacherberg-Obere Burg, Rapperswil-Jona-Wagen-Salet). Das Gebäude unter der Kirche St. Martin in Busskirch (Rapperswil-Jona) dürfte eine Umladestation für den Warenverkehr zu Wasser und zu Land gewesen sein.

Römischer Münzschatzfund von Oberriet, spätes 3. Jahrhundert n.Chr. (Kantonsarchäologie St. Gallen).
Römischer Münzschatzfund von Oberriet, spätes 3. Jahrhundert n.Chr. (Kantonsarchäologie St. Gallen). […]

Ab der zweiten Hälfte des 3. Jahrhunderts war die Bevölkerung wegen der Alemanneneinfälle immer wieder gezwungen, sich in teilweise befestigte Höhensiedlungen zurückzuziehen (Walenstadt-Berschis-St. Georg, Wartau-Ochsenberg). Vielleicht wurden wegen dieser Bedrohung die Münzschätze von Oberriet, Balgach und Vättis vergraben. In der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts wurde in Weesen noch ein Kastell gebaut; Militärposten befanden sich zudem auf Berschis-St. Georg und auf dem Severgall (Vilters-Wangs). Um 400 scheint die Besiedlung des westlichen Kantonsteils aber aufgegeben worden zu sein oder sich verlagert zu haben. Im östlichen Kantonsteil hingegen, der zur Provinz Raetia prima (Raetia) gehörte, blieben die Beziehungen nach Süden auch nach dem Zerfall des weströmischen Reichs im 5. Jahrhundert bestehen.

Frühmittelalter

Im Frühmittelalter entwickelten sich der nördliche und südliche Kantonsteil unterschiedlich. Der nördliche Teil war ein von Romanen dünn besiedeltes Randgebiet Churrätiens, das alemannischer Einwanderung, fränkischer Herrschaft und germanischer Rechtstradition ("Pactus Alamannorum" und "Lex Alamannorum") offenstand und das dem im frühen 7. Jahrhundert gegründeten Bistum Konstanz zugewiesen wurde. Im südlichen Teil, der beim Bistum Chur blieb, hielten sich in der vorwiegend romanischen Bevölkerung die spätrömischen Herrschafts- und Rechtsstrukturen (Capitula Remedii) Churrätiens bis in karolingische Zeit. Die Grenze verlief vom Hirschensprung (Rheintal) über den Alpstein und die Churfirsten in die Linthebene.

Das Gebiet des heutigen Kantons geriet 493 als Teil der Provinz Raetia prima unter ostgotischen Einfluss und kam 536/537 unter die Oberherrschaft der Franken, die aber die churrätische bzw. alemannische Herrschafts- und Sozialordnung unberührt liessen. Im nördlichen Teil profitierte das alemannische Herzogtum ab Mitte des 7. Jahrhunderts von der Schwäche der Merowinger, kam aber mit dem Aufstieg der Karolinger im 8. Jahrhundert unter Druck. Im südlichen Teil übten die Zacconen/Viktoriden die weltliche (Praeses) und geistliche Macht (Bischof von Chur) zugleich aus.

Der Siedlungsausbau ging im südlichen Teil von den Höfen an den Talrändern (Rhein, Seez, Linth) und Uferlagen am oberen Zürichsee aus. Er erfolgte vermutlich in zwei Schüben im 5.-6. Jahrhundert sowie im 8.-9. Jahrhundert. Im nördlichen Teil breitete sich die alemannische Bevölkerung vom 7. Jahrhundert an unter Assimilierung oder Verdrängung der Romanen in Einzelhöfen und Weilern bis an den Hirschensprung, das Westende des Walensees und ins mittlere Toggenburg aus. Die nächstgelegenen Städte waren Chur und Konstanz, stadtähnlich die Kastellorte Arbon, wo sich eine romanische Bevölkerung bis ins frühe 8. Jahrhundert hielt, und Bregenz. Die Siedlung beim Kloster St. Gallen wurde um 926 als Dorf (villa) bezeichnet und im dritten Viertel des 10. Jahrhunderts ummauert.

Wichtige Machtträger waren neben dem Königtum (Königsgut am oberen Zürichsee und im Rheintal) nach Einführung der Grafschaftsverfassung (806) die Gerolde bzw. Udalriche und die Hunfride sowie neben den Bistümern die Reichsklöster St. Gallen (719 gegründet) und Pfäfers (um 735 gegründet). Bereits im 8. Jahrhundert sind Familien mit grösserem Besitz an Land, Leibeigenen und Vieh fassbar (Beata-Sippe), jedoch existierte noch kein Adel mit erblichen Privilegien und Herrschaftsfunktionen. Das alemannische Recht unterschied Freie, Freigelassene und Unfreie mit weiteren Abstufungen innerhalb der Freien und Unfreien. Gerichtsverbände von Freien sind vom 7. Jahrhundert an überliefert (Waltramshuntari). Auch der churrätische Raum kannte diese drei Rechtsstände. Familie, Ehe und Erbrecht der Freien sind aus den St. Galler Urkunden ersichtlich: Vorherrschend war die auf der Muntehe (mit dem Mann als Inhaber der Schutz- und Zwangsgewalt) basierende Kernfamilie mit zwei bis drei Kindern und agnatischer Erbfolge. Das Erbrecht benachteiligte die Töchter, schloss sie aber nicht aus. Freie Frauen waren rechtsfähig.

Die Wirtschaft erschliesst sich aus Urkunden und Verzeichnissen von Königs- oder Klostergut (Churrätisches Reichsgutsurbar). Die Getreide Gerste, Dinkel, Emmer und Hafer herrschten bis in Höhen von 650 m vor. Eine Klimaerwärmung begünstigte nach 750 deren weitere Ausdehnung. Auf Klostergütern wurde Dreifelderwirtschaft betrieben, sonst überwog Feldgraswirtschaft. Vor allem im alemannischen Gebiet waren Schweine und Hühner verbreitet, seltener belegt sind Rinder, Schafe und Ziegen. Im churrätischen Teil deuten Ortsnamen auf Alpwirtschaft hin. Der Weinbau ist vor allem im Rheintal, die Bierproduktion im Bodenseeraum und Thurtal bezeugt. Die Handwerke konzentrierten sich in den grundherrlichen Zentren, der Bergbau und die Eisenverarbeitung am Gonzen im Sarganserland. Der Verkehr bevorzugte die Gewässer Rhein, Linth, Walensee und Bodensee. Die Transitwege wurden in karolingischer Zeit verbessert; Fähren gab es bei Schaan und Maienfeld, Susten in Walenstadt, Weesen, Steinach und Rorschach. Kirchenschätze belegen den Fernhandel mit Seide, Glasgefässen, Edelmetallen, Edelsteinen, Elfenbein und Gewürzen.

Archäologische Ausgrabung im Schiff der Kirche Busskirch, 1975 (Kantonsarchäologie St. Gallen).
Archäologische Ausgrabung im Schiff der Kirche Busskirch, 1975 (Kantonsarchäologie St. Gallen). […]

Bis ins 7. Jahrhundert existierten provinzialrömische und alemannische Kulte nebeneinander. Im Süden breitete sich das Christentum ab der Wende vom 4. zum 5. Jahrhundert von Chur her aus. Frühe Kirchen standen am oberen Zürichsee (Busskirch, Kempraten), im Sarganserland (Flums) und im Rheintal (Grabs) zum Teil auf antiken Mauern. Im Norden förderten das Bistum Konstanz und irische Missionare (Kolumban, Gallus) die Christianisierung. Neben St. Gallen und Pfäfers entstanden im 8. Jahrhundert kurzlebige Eigenklöster (Benken, Jonschwil, Flums) und wohl zwischen 814 und 823 das Frauenstift Schänis. Die Klosterschulen von St. Gallen und Pfäfers pflegten die Freien Künste. Die Heiligenverehrung (Gallus, Otmar, Magnus, Papst Alexander) machte St. Gallen, Pfäfers und Kempraten zu Pilgerzielen.

Vom Hochmittelalter bis ins 18. Jahrhundert – Herrschaft und Staatsbildung

Hochmittelalterliche Herrschaftsstrukturen

Der Auflösung des karolingischen Frankenreichs folgte eine Zeit der Unsicherheit mit dem Überfall der Ungarn auf das Kloster St. Gallen 926 (Ungarneinfälle) und Raubzügen von Sarazenen 935-940 in den churrätischen Alpenraum. Als Vertretung der Königsmacht etablierten sich die Herzöge von Schwaben 917 und 919 im Kampf mit inneren (Bischof von Konstanz, Abt von St. Gallen) und äusseren Gegnern (Hochburgund). Das Herzogtum Schwaben beherrschte das ganze Kantonsgebiet und wurde Ende des 11. Jahrhunderts zum erblichen Lehen (Staufer, Zähringer). Die Klöster St. Gallen und Pfäfers waren eng mit den Herzögen verbunden. Sie profitierten von Schenkungen, erlebten aber auch Konfiskationen und Einflussnahmen bei Abtwahlen. Als Erbamt der Staufer ging das Herzogtum 1268 mit dieser Dynastie unter. Die Reichsvogtei Oberschwaben als Nachfolgeinstitution spielte in St. Gallen keine wesentliche Rolle.

Wichtiger wurde im 12. und 13. Jahrhundert die landesherrliche Expansion hochfreier Adelsgeschlechter: Hauptsächliche Akteure waren die Grafenhäuser der Kyburger, Habsburger, Toggenburger, Montforter und Werdenberger, Rapperswiler und Vazer sowie die Freien von Sax. In besonderem Masse prägten die Äbte Ulrich von Sax und Wilhelm von Montfort die weltliche Herrschaft des Klosters St. Gallen. Ersterer unterstützte die Staufer, was ihm 1207 die Reichsfürstenwürde einbrachte. Letzterer wehrte sich Ende des 13. Jahrhunderts erfolgreich gegen das mächtige Haus Habsburg.

Die Herrschaft des Klosters St. Gallen stützte sich im Hochmittelalter insbesondere auf unfreie Dienstleute (ministeriales) und Krieger (milites). Deren Funktionen begannen schon im 10. Jahrhundert erblich zu werden. Zum Ausdruck kam ihre Standesbildung im 11. und 12. Jahrhundert einerseits durch ein besonderes Dienstrecht (1064), andererseits durch ein immer selbstbewussteres Verhalten gegenüber dem Abt von St. Gallen als Dienstherrn. Vermutlich aufgrund dieser Verbindung von Klosterherrschaft und Ministerialität bildete sich im nördlichen Kantonsteil – mit Ausnahme der Grafen von Toggenburg – kein Hochadel mit regionalen Wurzeln aus. Der königstreue Abt Ulrich von Eppenstein verwickelte die Abtei St. Gallen 1077 in den Investiturstreit; seine Fehde gegen die papsttreuen Grafen von Toggenburg und von Kyburg sowie den Bischof von Konstanz zog die Bevölkerung und Wirtschaft bis 1093 stark in Mitleidenschaft. Das Kloster Pfäfers stand hingegen wie das Bistum Chur auf der päpstlichen Seite. Es wurde deshalb 1095 von König Heinrich IV. dem königsfreundlichen Bischof von Basel geschenkt und erst 1116 wieder unabhängig.

Die um 1155 beschriebene Grenze zwischen den Bistümern Chur und Konstanz entsprach jener um 900. Sie reichte von der Linthebene über die Churfirsten und östliche Alpsteinkette bis zum Hirschensprung. Von der Mitte des 12. bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts entstand die innere Gliederung der beiden Bistümer in Archidiakonate und Dekanate. Das heutige Kantonsgebiet gehörte zu den Konstanzer Dekanaten St. Gallen, Wil, Rapperswil-Zürich und Wetzikon sowie zum Churer Dekanat Unter der Landquart. Mit dem Landesausbau verdichtete sich im 12. und 13. Jahrhundert das Pfarreinetz und im Rahmen der monastischen Reformbewegung entstanden neue Klöster. Dessen adlige Stifter statteten sie mit Gütern aus, so zum Beispiel vor 1152 St. Johann im Thurtal und vor 1178 St. Peterzell.

Die Verleihung des Markt-, Münz- und Zollrechts an den Abt von St. Gallen für Rorschach 947 blieb ohne Wirkung. Das Städtewesen entwickelte sich erst vom 13. Jahrhundert an, wobei mit Ausnahme von St. Gallen – hier sind 1086 erstmals Bürger und 1272/1291 eine Handfeste erwähnt, von 1294 ist ein erstes Siegel erhalten geblieben – alle Gründungen Klein- und Kleinststädte blieben oder wie Schwarzenbach (1287/1301) und Weesen (1388) nach Zerstörungen im Krieg nicht mehr aufgebaut wurden. Erste Hinweise auf eine ländliche kommunale Bewegung sind dem Werk Christian Kuchimeisters zu entnehmen, der aus der Zeit um 1270 von organisiertem Widerstand von St. Galler Gotteshausleuten gegen den Abt berichtet.

Herrschaftliche und kommunale Entwicklungen sowie Territorialbildungen im Spätmittelalter

Die Zeit von 1300 bis 1500 ist durch den Abstieg vieler und den Aufstieg weniger traditioneller Herrschaftsträger (Adel, Kirche) sowie durch neue Herrschaftsformen (Territorialherrschaft) gekennzeichnet. Parallel dazu erstarkte die kommunale Selbstorganisation in der Stadt und auf dem Land.

Der Einfluss des Hauses Habsburg blieb in der Herrschaftssphäre des Klosters St. Gallen zwischen dem Tod König Albrechts I. 1308 und dem Bündnis Herzog Leopolds IV. mit dem Fürstabt von St. Gallen 1392 gering. Um 1400 dehnte das Kloster seine Macht vorübergehend im Rheintal aus. Im Südteil geriet Habsburg nach der Niederlage bei Näfels 1388 unter Druck. Bis in die 1460er Jahre verlor es infolge der Appenzeller Kriege, der Ächtung Herzog Friedrichs IV. 1415, des Alten Zürichkriegs und des Plappartkriegs 1458 alle Herrschaftsrechte im Gebiet von Rapperswil über den Walensee bis ins Rheintal. Die Grafen von Toggenburg expandierten nach einer Krise Ende des 13. Jahrhunderts im Thurtal, dehnten ihre Herrschaft 1338 durch Heirat (Vazer Erbe) nach Graubünden aus und erwarben in den Appenzeller Kriegen die habsburgischen Herrschaften im Walenseeraum und Rheintal als Pfänder. Der Alte Zürichkrieg nach dem Tod Graf Friedrichs VII. (1436) brachte Leid und Zerstörung, änderte aber an den vor Kriegsausbruch getroffenen Regelungen wenig. So gingen die Grafschaft Toggenburg 1436 als Erbe an die Freiherren von Raron (und 1468 durch Kauf an die Fürstabtei St. Gallen), Uznach 1437 sowie Gaster und Weesen 1438 als gemeine Herrschaften an Schwyz und Glarus. Die Grafschaft Sargans veräusserte der letzte Graf von Werdenberg 1483 an die sieben eidgenössischen Orte (ohne Bern). Die Vogteien Rheintal und Rheineck gelangten 1445 an Appenzell und 1490 an die acht eidgenössischen Orte. Adelsherrschaften blieben die Grafschaft Werdenberg bis 1517 (danach an Glarus), bis 1497 die Freiherrschaft Hohensax (Verkauf an Schwyz und Glarus) und bis 1615 die Herrschaft Forstegg (Verkauf an Zürich).

Die Fürstabtei St. Gallen wurde – nach wirtschaftlichen und herrschaftlichen Schwächen in den ersten Jahrzehnten des 14. und 15. Jahrhunderts sowie nach mehreren Reformanläufen – unter Abt Ulrich Rösch in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts umgestaltet. Aus einer traditionellen Klosterherrschaft mit verstreuten Rechten und einer auf persönlichen Bindungen (Ministerialität) beruhenden Herrschaftsausübung wurde eine Territorialherrschaft mit klarer räumlicher Gliederung, einer Beamtenschaft und einer weitgehend einheitlichen Rechtsordnung. Die fürstäbtische Landesherrschaft umfasste Ende des 15. Jahrhunderts das Gebiet von Wil bis Rorschach (Alte Landschaft) und die Grafschaft Toggenburg (Neue Landschaft).

Die eidgenössischen Truppen treffen in St. Gallen ein. Illustration aus der Luzerner Chronik (1513) des Diebold Schilling zum St. Galler Krieg von 1490 (Zentral- und Hochschulbibliothek Luzern, Sondersammlung, Eigentum Korporation Luzern).
Die eidgenössischen Truppen treffen in St. Gallen ein. Illustration aus der Luzerner Chronik (1513) des Diebold Schilling zum St. Galler Krieg von 1490 (Zentral- und Hochschulbibliothek Luzern, Sondersammlung, Eigentum Korporation Luzern). […]

Ausgenommen war einzig die Stadt St. Gallen, die sich von der Fürstabtei gelöst hatte und bis Anfang des 15. Jahrhunderts zur Reichsstadt aufgestiegen war. 1454 verband sie sich mit Zürich, Bern, Luzern, Schwyz, Zug und Glarus. Der Versuch der Stadt, durch Vogteien und Ausbürger eine Herrschaft aufzubauen, scheiterte jedoch 1456 bzw. 1490 im St. Galler Krieg (Rorschacher Klosterbruch) am Widerstand der von den eidgenössischen Orten unterstützten Fürstabtei. Auch Rheineck (1276-vor 1309) und Rapperswil (1415-1444) galten zeitweise als reichsunmittelbar. Um 1500 waren jedoch alle Landstädte entweder unter der Herrschaft des Fürstabts von St. Gallen oder zugewandter Ort (Rapperswil ab 1464) oder unter eidgenössischer Herrschaft.

Die kommunale Entwicklung auf dem Land verlief regional unterschiedlich. Im südlichen Teil sind hofrechtliche und niedergerichtliche Ordnungen wie zum Beispiel für Benken, Kaltbrunn, Quarten, Mels und Ragaz erhalten. In der Alten Landschaft hingegen ersetzte Abt Ulrich Rösch vermutlich solche Ordnungen durch einheitliche Gerichtsoffnungen (erstmals 1463 Goldach). Die dörfliche Wirtschafts- und Sozialordnung kam darin kaum zur Sprache. Mehr Aufschluss über die kommunale Selbstbestimmung geben einzelne Offnungen der Neuen Landschaft wie diejenige von Krinau 1493 oder von Kirchberg 1515. Auch die Ordnungen aus dem südlichen Teil gewährten mehr Spielraum in der wirtschaftlichen und sozialen Selbstorganisation (u.a. Hofrodel Jona 1415-1450, Dorfrecht Schmerikon 1442, Grabser Urbar 1463, Tagwen im Linthgebiet um 1500).

Als Bündnissysteme waren erstens die Städtebünde im Bodenseeraum vom 14. bis ins frühe 15. Jahrhundert und zweitens ab dem frühen 15. Jahrhundert die Bündnisse mit den eidgenössischen Orten prägend. Die Stadt St. Gallen, aber auch Wil und Altstätten und sogar Rheintaler Dörfer waren Ende der 1370er Jahre dem Schwäbischen Städtebund angeschlossen. Dem Burg- und Landrecht der Stadt St. Gallen von 1412 mit den eidgenössischen Orten (ausser Bern) folgten weitere Schritte eidgenössischer Einflussnahme. 1451 wurden die Fürstabtei St. Gallen und 1454 die Stadt St. Gallen zugewandte Orte der Eidgenossenschaft. Um 1500 waren die Einwohner des nördlichen Kantonsgebiets Bürger oder Untertanen zugewandter Orte, diejenigen im südlichen Kantonsteil (ausser Sax-Forstegg) eidgenössische Untertanen in gemeinen oder einzelörtischen Vogteien.

Staatsbildung, Regieren und Verwalten im Ancien Régime

Die zwölf Territorien des 16.-18. Jahrhunderts auf dem Gebiet des späteren Kantons St. Gallen
Die zwölf Territorien des 16.-18. Jahrhunderts auf dem Gebiet des späteren Kantons St. Gallen […]

In der frühen Neuzeit setzte sich das Gebiet des späteren Kantons aus zwölf relativ kleinen Territorialstaaten mit unterschiedlichen Staatsformen zusammen. Die Alte Landschaft bildete eine absolute, das Toggenburg eine konstitutionelle Monarchie der Fürstäbte von St. Gallen. Ein geistliches Fürstentum war auch die Fürstabtei Pfäfers, dessen Herrschaft durch die sieben eidgenössischen Orte (ab 1712 auch Bern) eingeschränkt war. Bis 1615 hatten die Herren von Sax die Herrschaft Sax-Forstegg inne, die nach dem Kauf durch die Stadt Zürich als äussere Landvogtei verwaltet wurde. St. Gallen und Rapperswil bildeten Stadtstaaten mit Räten und gehörten als zugewandte Orte zur Eidgenossenschaft. Die übrigen Territorien waren eidgenössische Untertanengebiete: In Sargans und im Rheintal regierten die sieben alten Orte (ohne Bern) gemeinsam. Die Landvogtei Gaster und Weesen, die Grafschaft Uznach sowie die Herrschaft Gams wurden von Glarus und Schwyz beherrscht, Werdenberg von Glarus.

In diesen Territorien machten Niedergerichtsherren ebenfalls Herrschaftsansprüche geltend, so zum Beispiel das Kloster St. Johann im Toggenburg, das Kloster Einsiedeln in Kaltbrunn, die Schenk von Kastel in Oberbüren, die Herren von Gräpplang im Raum Flums (Gräpplang) und vor allem die Fürstabtei St. Gallen im Rheintal. Die Grafen von Hohenems beanspruchten alle landesherrlichen Rechte in Au, Widnau-Haslach und Schmitter (Diepoldsau), ebenso die Fürstäbte von Pfäfers im Taminatal und in Ragaz.

In der frühen Neuzeit wollten die Landesherren die konkurrierenden Kräfte ausschalten. Die Fürstabtei St. Gallen kaufte die Niedergerichte auf, zum Beispiel jenes der Schenk von Kastel in Oberbüren. Die Eidgenossen höhlten gestützt auf ihre politische und militärische Macht die Rechte von Konkurrenten aus: Schwache Herrschaften wurden auf leib- und grundherrliche Kompetenzen zurückgebunden. Mit den Fürstabteien St. Gallen (im Rheintal) und Pfäfers sowie den Grafen von Hohenems ergaben sich langwierige Konflikte, die – juristisch nie geklärt – faktisch aber stets zugunsten der eidgenössischen Interessen entschieden wurden.

Den verschiedenen Herrschaftsträgern gelang die Straffung der Herrschaft unterschiedlich. In der Stadt St. Gallen entmachteten die Zünfte, in Rapperswil die 29 regimentsfähigen Geschlechter die Bürgerversammlung. Die Fürstäbte von St. Gallen bauten ihre Alte Landschaft zur absoluten Monarchie mit barockem Hofstaat, geistlichen und weltlichen Beamten aus. Ähnlich straff regierten das Land Glarus in Werdenberg und die Stadt Zürich in Sax-Forstegg. Das Toggenburg verteidigte dagegen mit dem aus gewählten Vertretern der Gemeinden bestehenden Landrat und der Landsgemeinde ein grosses Mass an Selbstverwaltung. In Sargans und im Rheintal regierten residierende, alle zwei Jahre wechselnde Landvögte, sodass die lokalen Kräfte stark blieben. In Uznach, Gaster und Weesen sowie Gams gab es kaum absolutistische Tendenzen. Die Schwyzer und Glarner Landvögte residierten nicht am Ort, weshalb die aus dem Mittelalter stammenden lokalen Organe wie der Ammann oder Untervogt, die Landräte und Landsgemeinden über eine weitgehende Selbstständigkeit verfügten, zumal im abgelegenen Gams. Es handelte sich aber nicht um Demokratien im heutigen Sinn. In diesen Territorialstaaten besetzte die ländliche Oberschicht die wichtigen Ämter und schloss sich zunehmend ab.

Wo die Landesherren ihre Macht auf Kosten der Untertanen ausbauen wollten, ergaben sich oft regionale Konflikte, zum Beispiel 1703-1704 in Rapperswil im sogenannten Hungerhandel, 1719-1722 im Werdenberger Landhandel und 1722-1727 sowie 1745-1746 in Gossau. Alle Rebellionen wurden mit militärischer Repression unterdrückt. Das Toggenburg blieb während drei Jahrhunderten ein Konfliktherd, der auch zu blutigen Aufständen, 1712 gar zu einem eidgenössischen Bürgerkrieg führte (Zweiter Villmergerkrieg). Hier überlagerten sich konfessionelle Zwiste, ein starker Selbstständigkeitsdrang der Talschaft und Rivalitäten innerhalb der Toggenburger Oberschicht.

Ab 1790 breitete sich die Unzufriedenheit in fast allen Territorien aus. In der Alten Landschaft einigte sich Fürstabt Beda Angehrn mit den Untertanen 1795 im Gütlichen Vertrag, der aus einer absoluten eine konstitutionelle Monarchie machte. Ende Januar 1798 brach die Helvetische Revolution fast flächendeckend aus (mit Ausnahme von Uznach und Gams). Die bisherigen Herren entliessen ihre Untertanen in die Freiheit und diese riefen eine ganze Reihe von Republiken aus. Dem Einmarsch der französischen Truppen folgte im Mai 1798 die Eingliederung in die Helvetische Republik.

Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur vom Hochmittelalter bis ins 18. Jahrhundert

Bevölkerung und Siedlung

Bevölkerung und Siedlung im Hoch- und Spätmittelalter

Das Kantonsgebiet gliedert sich in fünf Siedlungsräume: das Gebiet vom oberen Zürichsee bis zum Rhein bei Sargans, das Rheintal, die Uferzonen am Bodensee, den Raum zwischen den Städten Wil und St. Gallen sowie das Thurtal südlich von Wil. Im klimatisch begünstigten Hochmittelalter (v.a. 10.-12. Jh.) wurde dieser mittelländische und voralpine Raum bis auf das obere Toggenburg praktisch durchgängig besiedelt, so auch die Hänge des Rheintals, bezeugt von den Rodungsnamen, und die Hügelzonen der Alten Landschaft sowie des unteren Toggenburgs (878 Erstnennung von Hemberg auf etwa 950 m). Das Sarganserland wurde erst im 11./12. Jahrhundert vom Walensee und vom unteren Rheintal her germanisiert, wie sich aufgrund der Übernahme romanischer Ortsnamen in die deutsche Sprache rekonstruieren lässt. Ausgangspunkte der Verdichtung und Erweiterung waren die Höfe und Siedlungen, die im südlichen Kantonsteil zum um 840 inventarisierten churrätischen Reichsgut gehörten (z.B. Flums, Mels, Ragaz), Kirchen und Kapellen, die oft auch Handlungsorte von Rechtsgeschäften waren, im 12. und 13. Jahrhundert die Klöster St. Johann, Magdenau und Wurmsbach, deren Ausbautätigkeiten durch Zehntprivilegien unterstützt wurden, sowie die neu gegründeten Grafenstädtchen wie Wil, Lichtensteig, Uznach und Rheineck.

Siedlungswüstung Rothusböden im hinteren Calfeisental. Luftbild von 1998 (Kantonsarchäologie Zürich).
Siedlungswüstung Rothusböden im hinteren Calfeisental. Luftbild von 1998 (Kantonsarchäologie Zürich). […]

Ab dem 13. Jahrhundert förderten das Kloster Pfäfers sowie die Grafen von Werdenberg und von Montfort die Besiedlung des Weisstannen- und Calfeisentals (Calfeisen) sowie der Hänge am Alvier (Wartau) durch Walser. Gleichzeitig wurden Siedlungslücken im oberen Toggenburg geschlossen. Dagegen kam es im Talboden des Rheins, der zuvor nur ausnahmsweise (Diepoldsau, Salez) erschlossen worden war, zur Aufgabe von Siedlungen wie Berau oder Juggen. Die spätmittelalterliche Klimaverschlechterung setzte diese vermehrt Überschwemmungen aus.

Um 1500 bestimmten grössere Dörfer an den Talrändern und Seeufern das Siedlungsbild (im Rheintal u.a. bedingt durch die Intensivierung des Rebbaus). Die Hügellandschaft zwischen den Städten Wil und St. Gallen war mit grösseren Dörfern, mit Weilern und Einzelhöfen durchsetzt. Im Toggenburg und in den Walsergebieten dominierte Streusiedlung.

Bevölkerungszahlen lassen sich nur schätzen. Es wird angenommen, dass der Landesausbau bis um 1300 mit einer Verdoppelung bis Verdreifachung der Bevölkerung einherging. Wieweit sich danach der Klimawandel, die Pestzüge und Kriege auswirkten, ist unklar. Siedlungswüstungen sind selten zu fassen, Flurwüstungen schwer nachweisbar. Vom Pestjahr 1349 ist einzig für die Pfäferser Klosterherrschaft überliefert, dass der Schwarze Tod mehr als 2000 Menschenleben gefordert habe.

Abgaben- und Personenverzeichnisse lassen ab 1400 Schlüsse auf die Bevölkerungszahl der Städte und Dörfer zu. So lebten in St. Gallen um 1400 2300-2900 Einwohner, um 1500 deren 3000-3500. Wil und Rapperswil zählten im 15. Jahrhundert weniger als 1000, die anderen Kleinstädte ca. 200-400, grössere Dörfer wie Gossau, Goldach, Rorschach oder die Rheintaler Rebdörfer ca. 500 Einwohner.

Bevölkerung in der frühen Neuzeit

Die Schätzung der Einwohnerzahlen fällt nicht leicht, weil für die zwölf Territorien sehr unterschiedliche Quellen vorliegen. Die einigermassen exakte Zählung für den ganzen Kanton datiert erst von 1809 (135'209). Ungefähre frühere Werte lassen sich nur durch Interpolation erschliessen (für 1450 ca. 35'000, für 1669 ca. 82'000). Die annähernde Vervierfachung der Bevölkerung von 1450 bis 1809 verlief nicht linear. Starke Wachstumsschübe nach 1540 und 1650 fielen mit dem Aufschwung der Leinwandproduktion sowie im 18. Jahrhundert mit dem Aufkommen der Baumwollindustrie zusammen. Kurzfristige Rückschläge resultierten aus Epidemien und Wirtschaftskrisen. Ein starker Einbruch (um etwa einen Viertel) erfolgte in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts durch Hungersnöte und drei schwere Pestzüge, ein geringerer durch kühl-feuchte Sommer, Missernten und Teuerung gegen Ende der 1680er Jahre. Die Verluste wurden nach wenigen Jahrzehnten ausgeglichen.

Die Gesamtzahlen verdecken grosse regionale Gegensätze aufgrund unterschiedlicher wirtschaftlicher Verhältnisse. Dies belegt zum Beispiel die Bevölkerungsdichte. So kamen um 1669 in den Viehzuchtgebieten des Sarganserlands und des oberen Toggenburgs auf einen Quadratkilometer produktive Fläche weniger als 30 Einwohner, im Kornland des westlichen Fürstenlands und des unteren Toggenburgs etwas über 50. In der Gegend von St. Gallen und Rorschach sowie im unteren Rheintal bis Altstätten erreichte die Bevölkerungsdichte dagegen über 70 Einwohner pro km2, zum Teil sogar über 100. Die hohen Werte widerspiegeln die intensiv betriebene Landwirtschaft mit Wein-, Obst- und Flachsbau sowie das Leinwandgewerbe. Auch die Bevölkerungszahlen entwickelten sich 1669-1809 regional sehr unterschiedlich. Im wirtschaftlich stagnierenden Sarganserland wuchs die Bevölkerung gar nicht an, in den wenig industrialisierten Herrschaften Werdenberg, Gams und Sax-Forstegg lag die Zunahme bei Werten von 30-50%, im schon früh dicht besiedelten Fürstenland bei solchen von 30-100%. Im Toggenburg bewirkte die Baumwollindustrie Steigerungen um 100-200%, im Gebiet zwischen Mogelsberg und Wattwil sowie in Amden sogar um über 200%.

Auch weiträumige Missernten und Wirtschaftskrisen wirkten sich regional unterschiedlich aus: Je grösser die Abhängigkeit von teuren Nahrungsmitteln war, desto mehr Opfer forderten die Hungersnöte. In Gebieten mit hohem Selbstversorgungsgrad (Gaster und Uznach) starben im Krisenjahr 1771 nicht mehr Menschen als in durchschnittlichen Jahren. Im Viehzuchtgebiet des Sarganserlands stiegen die Todesfälle um 60-80%. In Gegenden mit intensiver Landwirtschaft und Industrialisierung (Fürstenland, unteres Rheintal) verdoppelten sie sich, während die Toggenburger mit starker Ausrichtung auf Heimarbeit 2,5- bis 3,5-mal so viele Opfer beklagten. Dagegen lässt sich bei den etwa zwölf Pestepidemien im Zeitraum 1517/1519-1635/166 kein Zusammenhang zwischen der Wirtschaftsstruktur und der Zahl der Opfer feststellen. In zwölf ausgewählten Pfarreien forderte der Schwarze Tod 1634-1637 etwa ein Fünftel, in der Freiherrschaft Sax-Forstegg 1629 sogar zwei Drittel der Bevölkerung.

Wirtschaft

Wirtschaftliche Entwicklungen im Mittelalter

Im 13.-15. Jahrhundert vollzog sich in der Landwirtschaft ein Wandel von einer auf Selbstversorgung ausgerichteten Produktion zu einer Spezialisierung auf Getreide-, Rebbau oder Viehhaltung mit zunehmender Orientierung auf die regionalen Märkte. Auch die Handwerke spezialisierten sich und organisierten sich in Zünften und Bruderschaften. Kaufleute handelten von West- bis Osteuropa mit Leinen, Gewürzen, Salz und Metallen (Diesbach-Watt-Gesellschaft). Das aufkommende Kreditwesen schuf neue Abhängigkeiten des Landes von der Stadt.

Eintrag im Jahrzeitbuch der Abtei Pfäfers zur Pest von 1349 (Stiftsarchiv St. Gallen, Cod. Fab. 114, Fol. 6v).
Eintrag im Jahrzeitbuch der Abtei Pfäfers zur Pest von 1349 (Stiftsarchiv St. Gallen, Cod. Fab. 114, Fol. 6v). […]

Getreidebauregionen blieben die Alte Landschaft, die Flusstäler und die Gebiete am Boden- und Zürichsee. Die Viehwirtschaft wurde im oberen Thurtal, im Oberrheintal, Sarganserland und Gaster intensiviert, der Rebbau im Unterrheintal, bei Rapperswil und Wil. Der Anbau von Textilpflanzen wie Hanf und Flachs ist trotz der gewerblichen Bedeutung relativ selten belegt. Im mittelländischen Raum gab es zwischen den Dörfern mit Zelgensystem (das im südlichen Kantonsteil nicht bezeugt ist) Einzelhofwirtschaft, die in höheren Lagen vorherrschte. Die Alpen im Alpstein, an den Churfirsten und im südlichen Kantonsteil gingen ab dem späten 14. Jahrhundert oft von Klöstern und Adelsfamilien an Genossenschaften über. Die Hungersnöte und Seuchen des 14. Jahrhunderts fanden in den Quellen wenig Beachtung; sie wirkten vermutlich schwächer als anderswo. Zu Teuerungen führten der Näfelser, der Appenzeller und der Alte Zürichkrieg. Viehwirtschaft und Weinbau nahmen ab dem 14. Jahrhundert und verstärkt nach 1450 einen Aufschwung, gefördert durch Kredit- und Pachtformen wie die Viehverstellung (eine Form der Verpachtung von Vieh) und den Teilbau (v.a. im Rebbau, der Bauer hatte dem Verpächter einen festgelegten Ertragsanteil abzuliefern). Die Eisengewinnung am Gonzen, ein Regal der Grafschaft Sargans, kam im 15. Jahrhundert in die Hände von Zürcher Eisenherren (z.B. Peter Kilchmatter, Hans und Georg Thum oder Ulrich Grebel).

Die in den Städten konzentrierten und spezialisierten Handwerker schlossen sich in St. Gallen im 14. Jahrhundert zu Zünften (Weber, Schmiede, Schneider, Schuhmacher, Pfister, Metzger) zusammen. Sie regulierten unter anderem die Produktion, Qualität, Löhne sowie Preise und prägten ab Mitte des 14. Jahrhunderts auch das politische Leben. In Rapperswil, Wil und Uznach entstanden Bruderschaften mit religiösen und sozialen Aufgaben, aber auch mit wirtschaftlichen Zielen wie etwa dem Konkurrenzschutz. Neben Wandergesellen sind wandernde Bauhandwerker, zum Beispiel Steinmetze, belegt.

Für den Warentransport waren insbesondere die Wasserverkehrswege wichtig. Das Netz der Landwege reichte von der Reichsstrasse, auf der sich Fuhrwerke kreuzen konnten, bis zum lokalen Flurweg. Auf dem Land besassen reichere Bauern Fuhrwerke, in den Städten bildeten die Fuhrhalter einen besonderen Berufszweig.

Fernhandel trieben ab dem 13. Jahrhundert Kaufleute der Stadt St. Gallen, die Leinwand bis nach Spanien und Polen ausführten. Sie organisierten sich im 15. Jahrhundert in der Gesellschaft zum Notenstein (zur Wahrung wirtschaftlicher Interessen und Pflege der Geselligkeit) und führten neben Leinen zum Beispiel Pferde, Metalle, Gewürze oder Pelze mit. Auch Kaufleute aus Wil und Uznach waren europaweit unterwegs. Die städtische Wirtschaft erlebte gemäss den Steuerbüchern von St. Gallen und Wil im 15. Jahrhundert einen Aufschwung, der vom Alten Zürichkrieg länger und vom St. Gallerkrieg (1490) kurz unterbrochen wurde.

Wirtschaftliche Entwicklung in der frühen Neuzeit

Die Landwirtschaft entwickelte sich in spezialisierten Agrarzonen weiter. Im Fürstenland und untersten Toggenburg herrschte der Kornbau im Dreizelgensystem mit Getreideüberschüssen vor, im oberen Toggenburg sowie in den höher gelegenen südlichen Regionen die Vieh- und Alpwirtschaft mit Butter-, Käse- und Zigerproduktion. Im unteren Rheintal nahm der Wein- und Obstbau ebenso eine Sonderstellung ein wie in der Umgebung der Stadt St. Gallen der Anbau von Gemüse und von Flachs für das Leinwandgewerbe. Die Landwirtschaft orientierte sich am in- und ausländischen Markt und die Geldwirtschaft wurde wichtiger. Zur Ertragssteigerung wegen des Bevölkerungswachstums wurden vermehrt Allmenden aufgeteilt und Brachfelder bepflanzt, Privatland wurde eingehegt. Als Rheintaler Spezialität kam um 1700 der Anbau von Mais (sogenanntes Türkenkorn), in den übrigen Regionen ab 1740 jener von Kartoffeln auf.

Berufsleute des Leinwandgewerbes im Bodenseeraum. Öl auf Leinwand eines unbekannten Malers, 1714 (Historisches und Völkerkundemuseum St. Gallen).
Berufsleute des Leinwandgewerbes im Bodenseeraum. Öl auf Leinwand eines unbekannten Malers, 1714 (Historisches und Völkerkundemuseum St. Gallen). […]

Handwerk und Gewerbe konzentrierten sich vorwiegend auf die grösseren und kleineren Städte und Marktflecken. Allerdings wurde in den zahlreichen Landstädten auch Landwirtschaft betrieben und in den Dörfern sowie Weilern auch Handwerk ausgeübt. Die Wochenmärkte in den Städten förderten das dortige Gewerbe. Nur in St. Gallen bestand ein durchorganisiertes, einflussreiches Zunftsystem. In den Kleinstädten, etwa in Wil und Rapperswil, schlossen sich die Handwerker zusammen; auf der Landschaft organisierten sie sich in unterschiedlichem Ausmass. Regionaltypische Gewerbe bildeten zum Beispiel die Steinbrüche im Sarganserland, die Gewinnung von Braunkohle und Torf nahe bei St. Gallen, das Eisenbergwerk im Gonzen sowie die zahlreichen Heilbäder (z.B. Pfäfers). In den wirtschaftlich rückständigen südlichen Regionen blieb der Solddienst wichtig.

Die Stadt St. Gallen war um 1500 bereits das Zentrum der Leinwandproduktion im Bodenseeraum. Nach langer Blütezeit und einem Zusammenbruch in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts erreichte sie 1680-1714 eine neue Hochkonjunktur. 1721 begann der Aufschwung der Herstellung von Baumwolltuch. Nach 1750 setzte die Handstickerei ein. Auf dem Prinzip von Verlagswesen und Heimarbeit bot sie der bäuerlichen Bevölkerung bis Werdenberg und Obertoggenburg einen wichtigen, allerdings konjunkturabhängigen Zusatzerwerb. Die Leinwandproduktion nahm hingegen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts rasch ab.

Sitterbrücke und Zollhaus Chrätzeren westlich der Stadt St. Gallen. Radierung von Heinrich Thomann, um 1790 (Kantonsbibliothek Vadiana St. Gallen, VGS Q 3/5).
Sitterbrücke und Zollhaus Chrätzeren westlich der Stadt St. Gallen. Radierung von Heinrich Thomann, um 1790 (Kantonsbibliothek Vadiana St. Gallen, VGS Q 3/5). […]

Der Handel mit Garn erfolgte auf den regionalen Märkten, jener mit dem fertig verarbeiteten St. Galler Tuch auch von Wil, Lichtensteig und Rorschach aus. Grosskaufleute exportierten die Produkte nach Polen, Ungarn, Oberitalien, Spanien und Frankreich, zum Teil mit Ablagen in wichtigen Messestädten wie Lyon, Frankfurt und Leipzig. Aus den Viehzuchtgebieten führten Grosshändler Jungtiere, Mastochsen und Pferde nach Oberitalien aus. Die Spezialisierung in der Landwirtschaft und die Textilindustrie bewirkten eine Abhängigkeit von Getreideimporten aus Süddeutschland, das sich wirtschaftlich komplementär ausrichtete, dort den Anbau von Dinkel und Hafer förderte, hingegen die gewerbliche Produktion vernachlässigte. Die Gebiete um den Bodensee entwickelten sich zu einem grenzübergreifenden, marktorientierten Wirtschaftsraum. Der Gütertransport erfolgte auf der Walenseeroute und der Rheintalstrasse, den beiden Transitachsen zu den Bündnerpässen. 1773-1778 baute die Fürstabtei St. Gallen die Fürstenlandstrasse von Rorschach nach Wil und verbesserte die verkehrsmässige Erschliessung.

Gesellschaft

Wandel der Gesellschaftsordnung im Hoch- und Spätmittelalter

Der Modellvorstellung einer festen Ständeordnung mit Adel, Klerus und Bauern widersprach der tiefgreifende gesellschaftliche Wandel vom 13. bis 15. Jahrhundert. Der Adel verlor gegenüber dem aufstrebenden städtischen Bürgertum und der nicht adligen Landbevölkerung an Bedeutung.

Im 13. Jahrhundert schufen die drei Grafenhäuser von Toggenburg, von Rapperswil und von Werdenberg am Rand des Machtbereichs des Klosters St. Gallen, mit dem die Grafen von Toggenburg bis ins 13. Jahrhundert öfter Konflikte austrugen, Herrschaften unterschiedlicher Grösse und Dauer. Mit dem Tod Jörgs von Werdenberg-Sargans endete 1504 das letzte dieser Häuser. Andere edelfreie Geschlechter erloschen (z.B. im oberen Thurtal) oder wurden aus den Grafschafts- und Stiftsgebieten an die Ränder des späteren Kantons gedrängt (von Bussnang, von Enne, von Güttingen, von Hewen). Sie spielten – mit Ausnahme der Freiherren von Sax (Hohensax) – untergeordnete Rollen. Die Zahl der Ministerialengeschlechter nahm im 13. Jahrhundert zu, fiel dann aber bis Ende des 15. Jahrhunderts auf wenige Familien zusammen, deren Träger oft der erstarkten Fürstabtei St. Gallen dienten. Die Anlehnung an erfolgreiche Dienstherren konnte Aufstieg bedeuten (z.B. Giel von Glattburg im 13. Jh., Meier von Windegg im 14. Jh.), Widerstand zum Niedergang führen (z.B. von Ramschwag). Standesdenken kam in den Heiraten zum Ausdruck, die selten – etwa wenn sich Prestige mit Besitz verband – über die innerständischen Grenzen hinweg oder in bürgerliche Kreise führten.

Die städtische Sozialstruktur ist vom 14. Jahrhundert an aus Ämtern zu erschliessen. Ab dem frühen 15. Jahrhundert zeichnen die Steuerbücher die Vermögensverhältnisse in St. Gallen und Wil nach. In St. Gallen bildeten Kaufleute, einzelne Textil- und Metallhandwerker, Müller und Wirte die Oberschicht sowie die obere Mittelschicht, die zusammen vier Fünftel der Ratssitze innehatten. Die meisten Handwerker zählten zur Mittelschicht. Die Reichen wohnten nahe bei den Marktplätzen und Herrschaftssitzen (Kloster St. Gallen, Burg Rapperswil, Hof Wil); insgesamt war jedoch die Segregation (ausser der Gerber, die wegen des Gestanks ihres Gewerbes in Randlagen verdrängt wurden) wenig ausgeprägt. Zahlen zur Unterschicht sind ebenso wenig abzuleiten wie zu den Frauen, deren Vermögen nur aufgeführt wurde, wenn sie alleinstehend oder verwitwet waren. Juden wurden in St. Gallen im Pestjahr 1349 getötet. Danach spielten nur noch wenige Juden eine Rolle, darunter auch einzelne, die im Kreditwesen von St. Gallen und Wil tätig waren.

Auch auf dem Land sind die sozialen Verhältnisse ab dem 14. Jahrhundert erkennbar. Jüngere Personenverbände (Gerichtsinsassen, Grafschaftsleute) überlagerten ältere (Hofleute), was in Rorschach und im Toggenburg im 15. Jahrhundert zu Spannungen führte. Zur Oberschicht gehörte, wer ehrbar war, d.h. rechts-, lehens- und amtsfähig, und ein grosses Eigen- oder Lehengut besass. Im 15. Jahrhundert erscheinen einflussreiche Bauern, Müller und Wirte vor allem in den grösseren Dörfern wie Rorschach, Goldach und Gossau sowie im Rheintal und Linthgebiet, wogegen Streusiedlung die Elitebildung beeinträchtigte. In Konflikten wie dem Rorschacher Klosterbruch und St. Gallerkrieg 1489-1490 mussten sich lokale Führer zwischen Aufständischen und Herrschaft entscheiden. Gegen 1500 werden Abgrenzungen gegenüber armen Zuzügern erkennbar: Wald- und Weiderechte wurden von den Genossen gegenüber den minderberechtigten Hintersassen und den nicht berechtigten Ungenossen verteidigt, Jagdrechte und Fischenzen von den Herrschaftsinhabern gegenüber den Untertanen geschützt.

Der gesellschaftliche Wandel bildete sich im Klerus ab: Die Insassen der Reichsklöster St. Gallen, Pfäfers und Schänis entstammten im 13. Jahrhundert dem regionalen Adel. Im 15. Jahrhundert hingegen kamen sie – mit Ausnahme des Frauenstifts Schänis – meist aus nicht adligen Familien des Kantonsgebiets und der nahen eidgenössischen Orte. Stärker regional verwurzelt waren St. Johann und die im 13. Jahrhundert aufkommenden Frauenkonvente. Im Zug der Frömmigkeitsbewegung nahm die Zahl der Beginensammlungen und der Waldschwestern sowie -brüder in Gemeinschaften und Einsiedeleien zu (Grimmenstein AI, Pfanneregg, Tübach, Wonnenstein). Mit dem Ausbau des Pfarreinetzes stieg der Bedarf an Weltgeistlichen, die sich ebenfalls zuerst aus dem Adel, später oft aus dem Bürgertum und der ländlichen Oberschicht rekrutierten.

Wandel in der Gesellschaftsordnung in der frühen Neuzeit

Der gesellschaftliche Wandel vollzog sich vor allem in der Oberschicht. Der alte Adel war bis auf die im Rheintal verbliebenen Grafen von Hohenems und die Herren von Sax-Hohensax ausgestorben. Dienstadelige, auch zugewanderte wie die Freiherren Rinck von Baldenstein oder die von Thurn-Valsassina, übernahmen Ämter im fürstäbtischen Territorialstaat. Erfolgreiche Aufsteiger aus dem Leinwandhandel erwarben Burgen und errichteten zahlreiche Landschlösschen im Fürstenland und Rheintal. In der Stadt St. Gallen grenzten sie sich von zünftischen Mitbürgern in der zunehmend exklusiven Gesellschaft zum Notenstein ab. Einige erlangten vom Kaiser einen Wappen- und Adelsbrief. Um 1500 besassen zum Beispiel die Familien von Fels und Zollikofer, um 1600 die Hochreutiner einen kaiserlichen Wappenbrief. Auch fürstäbtische Beamte wurden gelegentlich in den Adel erhoben, so 1525 die von Saylern oder 1774 die Müller von Friedberg (im 19. Jahrhundert nur noch Müller-Friedberg genannt).

Das Höggerberg-Schlössli mit barocker Gartenanlage auf dem Rosenberg bei St. Gallen. Ölgemälde eines unbekannten Meisters, um 1655 (Historisches und Völkerkundemuseum St. Gallen).
Das Höggerberg-Schlössli mit barocker Gartenanlage auf dem Rosenberg bei St. Gallen. Ölgemälde eines unbekannten Meisters, um 1655 (Historisches und Völkerkundemuseum St. Gallen). […]

In den Städten St. Gallen und Rapperswil war die Bürgerschaft von Geburt an frei, nicht aber in den Landstädtchen. Auf der Landschaft wurden die geburtsständischen Unterschiede zwischen freien und unfreien Bauern nivelliert, alle waren nun Gotteshausleute im Territorialstaat der Fürstabtei St. Gallen. Im Bauernkrieg 1525 entstand in allen Territorien (ausser im Gaster und in Uznach) Widerstand durch Landsgemeinden, Beschwerden und Drohungen. Die Konflikte drehten sich insbesondere um den Begriff der Leibeigenschaft. 1558 wollten die Rorschacher "freie Gotteshausleute" sein, die Fürstabtei beharrte auf "Leibeigene" und betonte damit ihre leibherrlichen Rechte. Im Sarganserland bestanden mehrere Leibherrschaften nebeneinander. Hier wurden noch bis ins 18. Jahrhundert die Kinder von Eltern verschiedener Leibherren unter diesen verteilt. Ein Loskauf von der Leibeigenschaft gelang 1779 lediglich den Leuten von Tscherlach.

Den Zuzug von Fremden bremste die Obrigkeit ab dem 16. Jahrhundert mit einer restriktiven Einbürgerungspolitik und rechtlicher Benachteiligung. Weder die Stadt noch die Fürstabtei St. Gallen duldeten Juden, erst im 18. Jahrhundert lockerten sie ihre Praxis. Im Toggenburg durften die Juden Handel treiben, aber nicht dort wohnen. In Rheineck bestand bis 1634 eine jüdische Ansiedlung. Heimatlose und Fahrende standen auf der untersten sozialen Stufe. Man verfolgte sie, griff sie in eigentlichen Betteljagden auf und führte sie weg. Einzig in Sargans und Gams fanden sie gelegentlich eine Unterkunft.

Innerhalb der einheimischen Bevölkerung bestanden grosse soziale Unterschiede. Die Oberschicht der Stadt St. Gallen machte um 1650 ca. 20% der Steuerzahler aus, besass aber etwa 81% des steuerbaren Vermögens. In den Dörfern war die Oberschicht aus reichen Bauern, Wirten, Müllern, Textilkaufleuten und Kapitalgebern noch dünner. Diesen stand eine grosse Mehrheit oft verschuldeter Kleinbauern und Heimarbeiter gegenüber. Die Wohlhabenden besetzten alle wichtigen politischen Ämter.

Für die Unterstützung der Armen äufnete man ab dem 16. Jahrhundert Armenfonds. In den Städten bestanden Armen- und Pflegeheime ("Spitäler"). Bei Katastrophen wurden Sammlungen organisiert. Während der Hungersnot von 1771-1772 kaufte der fürstäbtische Staat teures Getreide in Italien ein, gab es verbilligt ab und verschuldete sich dadurch massiv. Die Abwanderung Bedürftiger ist noch wenig erforscht. Punktuell ist der Wegzug aus krisenanfälligen und wirtschaftlich rückständigen Regionen nachgewiesen, etwa nach dem Dreissigjährigen Krieg ins Elsass, in die Pfalz, nach Schwaben, Bayern und Ostpreussen.

Kirche und Religion

Religiöses und kulturelles Leben im Mittelalter

Schulheft von Johannes Rütiner, Schüler der Lateinschule St. Gallen, 1515 (Kantonsbibliothek Vadiana St. Gallen, Ms. 485, Fol. 544r).
Schulheft von Johannes Rütiner, Schüler der Lateinschule St. Gallen, 1515 (Kantonsbibliothek Vadiana St. Gallen, Ms. 485, Fol. 544r). […]

Mit dem wachsenden Bedürfnis der Laien nach besserer Seelsorge gingen im 12.-13. Jahrhundert und erneut Ende des 15. Jahrhunderts ein Ausbau des Pfarreinetzes, eine Festigung der Bistumsorganisation (Gericht, Verwaltung) sowie Reformen im Ordensklerus einher. Da die gregorianische Reform den weltlichen Herren die Nutzung des Kirchensatzes grundsätzlich untersagte, gingen viele Kirchenpatronate an Klöster über. Die Kirchen der im 13. Jahrhundert gegründeten Kleinstädte waren zuerst Filialen benachbarter Dorfkirchen und wurden erst mit der Zeit eigenständige Pfarrkirchen, manchen wie zum Beispiel Werdenberg gelang das nie. Eine Krise des monastischen Lebens im 12.-14. Jahrhundert ist im Kloster St. Gallen, anders als in den Abteien Pfäfers und St. Johann, klar zu belegen. Die Reformbewegung des 13. Jahrhunderts (Zisterzienser, Dominikaner) wurde vor allem von Ordensfrauen getragen (Magdenau, Bollingen, Wurmsbach, Wil und St. Katharinen in St. Gallen). Die benediktinische Reform wirkte sich im Kloster St. Gallen nach dem Konstanzer Konzil (1414-1418) aus, endgültig aber erst unter Abt Ulrich Rösch (ab 1463). In den Städten und Dörfern übernahmen Kirchgenossen zunehmend die Verantwortung für ihre Kirche (Bau, Ausstattung, Priesterwahl, Kirchenpflege), die damit zur Stadt- (z.B. St. Laurenzen in St. Gallen) bzw. Dorfkirche (z.B. Wildhaus, Rheintaler Dörfer) wurde. Im Territorium der Fürstabtei war diese Tendenz wegen herrschaftlichen Widerstands weniger stark.

Die sogenannte Versteinerung der Städte – an die Stelle der Holzhäuser traten zunehmend solche aus Stein – setzte erst Ende des Mittelalters und in Städtchen wie Werdenberg nur begrenzt ein. Aus Stein gebaut wurden Gebäude und Häuser der Reichen, die zunächst die Burgen des Adels imitierten. Später errichteten sie vermehrt repräsentative Landsitze ohne Wehrfunktion (z.B. Falkenburg ob St. Gallen, Weinstein ob Marbach). Die Burgen zerfielen oder wurden zu Vogteisitzen. Bäuerliche und adlige Kultur wurden um 1400 von Heinrich Wittenwiler in seinem Ringepos satirisch überzeichnet. Nach der Mitte des 15. Jahrhunderts bewirkten Moden aus Burgund und Italien erste Kleidervorschriften (1468 fürstäbtische Landsatzung). Höfische Kultur und Bildung zeigte sich zum Beispiel im Ritterfest Abt Berchtolds von Falkenstein 1270, in den Gesängen von neun Minnedichtern (u.a. stammten die Grafen Kraft von Toggenburg, Heinrich von Frauenberg und Eberhard von Sax aus dem Gebiet des späteren Kantons) in der Manessischen Liederhandschrift um 1300 und in der Weltchronik Rudolfs von Ems um 1250. Zeugnisse bürgerlicher und bäuerlicher Kultur sind im späten 15. Jahrhundert zum Beispiel das St. Galler Schützen- und Turnfest von 1485, das Familienbuch des Altstätter Ammanns Hans Vogler und die Berichte zu den Wunderwirkungen "Unserer Lieben Frau im Gatter" im Kloster St. Gallen. Neben den Klöstern St. Gallen, Pfäfers und St. Johann führten im Spätmittelalter auch die Städte St. Gallen, Wil, Rapperswil, Lichtensteig und Sargans Lateinschulen sowie die grösseren Dörfer (v.a. zwischen Rorschach und Sarganserland) Deutsche Schulen (Elementarschulen). Studenten und später auch Professoren (u.a. Vadian) aus St. Gallen sind in wachsender Zahl an mittel- und westeuropäischen Universitäten zu finden. Ende des 15. Jahrhunderts verfügte die Hälfte der Kleriker im Kantonsgebiet über eine akademische Bildung.

Kirche und Religion in der frühen Neuzeit

Die religiös-soziale Bewegung der 1520er Jahre verlief stürmisch; das Volk und seine Anführer neigten mehrheitlich der Reformation zu. Doch der Zweite Landfrieden von 1531 rekatholisierte das Fürstenland, Gaster, Uznach und Gams. Reformiert blieben die Stadt St. Gallen sowie die Herrschaften Werdenberg und Sax-Forstegg. Beide Konfessionen wurden im Toggenburg, Sarganserland und Rheintal geduldet. Im Sarganserland blieb aber nur Wartau reformiert. In den paritätischen Gemeinden benutzten Katholiken und Reformierte dieselbe Kirche, was gelegentlich zu Konflikten führte (Konfessionelle Parität).

Die Katholische Reform des 16. und 17. Jahrhunderts setzte beim Klerus und den Klöstern an. Zur lateinischen Liturgie kamen Predigten und Lieder in deutscher Sprache. Kapuziner predigten von den neu gegründeten Klöstern Rapperswil (1602-1603), Mels (1650) und Wil (1653) aus. Die mittelalterlichen Bräuche wurden weiter gepflegt, Bruderschaften, Rosenkranzgebet und Heiligenverehrung gefördert (1640-1791 erfolgten 35 Überführungen neuer Reliquien). Die barocke Sinnlichkeit in vielen neu- oder umgebauten Kirchen sollte die Religiosität fördern und die Abwehr gegen reformierte Einflüsse stärken.

Auf reformierter Seite stand – nach den Bilderstürmen – das Wort im Mittelpunkt, aber nicht frei interpretiert, sondern gemäss der rechtgläubigen, von der Obrigkeit vorgeschriebenen Lehre. Im 18. Jahrhundert brachen Pietismus und Aufklärung die erstarrten Fronten dieser Orthodoxie auf. Die Reformierten im Toggenburg und unteren Rheintal wurden von der Fürstabtei in der Ausübung ihres Glaubens eingeschränkt.

Sarganserländer Fasnachtsmaske "Guger", zweite Hälfte 19. Jahrhundert, von Georg Emil Kalberer (Museum Rietberg, Zürich).
Sarganserländer Fasnachtsmaske "Guger", zweite Hälfte 19. Jahrhundert, von Georg Emil Kalberer (Museum Rietberg, Zürich). […]

Die reformierte Obrigkeit strebte eine strenge Lebensführung der Untertanen an. Modische Kleidung, Tanz, Spiel, Fasnacht und Volksfeste waren verboten, Festessen und Wirtshausbesuche wurden behindert. In den katholischen Gebieten, vor allem im Süden, waren die Vorschriften lockerer. Selbst die Fürstabtei St. Gallen duldete die Fasnacht, die Kilbenen, Trink- und Tanztage. Einig waren sich beide Konfessionen bezüglich der Sonntagsheiligung und des Verbots der ausserehelichen Sexualität.

Die Schule erfuhr ab Mitte des 17. Jahrhunderts auch auf dem Land eine Förderung, in paritätischen Gebieten allerdings nach Konfessionen getrennt. Die Pfarrer überwachten sie im Auftrag der Regierung. In der Schule wurde vor allem Lesen und Schreiben unterrichtet, ohne Klasseneinteilung, Lehrmittel und ausgebildete Lehrer. Der Schulbesuch war oft schlecht, bedingt durch die Kinderarbeit in der Landwirtschaft und Heimindustrie. Reformversuche, etwa das Modell der sogenannten Normalschule ab 1783 in der Fürstabtei St. Gallen mit Klassenunterricht und einheitlichen Lehrbüchern, scheiterten am konservativen Widerstand.

Leonhard Straub gründete 1578 die erste Buchdruckerei in St. Gallen; die Klosterdruckerei folgte 1640. In Rorschach druckte Straub 1597 die Monatsschrift Annus Christi, die als älteste deutschsprachige Zeitung gilt. Lesegesellschaften boten zusätzlichen Lesestoff neben den kleinen Hausbibliotheken im 18. Jahrhundert. Als Schriftsteller sind vor allem Ulrich Bräker zu erwähnen, dann auch der Mönch Athanasius Gugger, Johannes Grob, Johann Ludwig Ambühl, Gregorius Grob, Josef Franz Leonhard Bernold sowie Marianne Ehrmann, eine Kämpferin für die Emanzipation der Frau.

Von der Gründung des Kantons bis zur Gegenwart

Politische Geschichte und Verfassungsentwicklung

Von der Fürstabtei zum liberal-demokratischen Staat (1798-1861)

Einsetzung des St. Galler Grossen Rats im Jahr 1803. Kupferstich von Daniel Beyel, nach einer Vorlage von Antonio Orazio Moretto, erschienen in den Neujahrs-Stücken für die vaterländische Jugend, 1807 (Staatsarchiv St. Gallen, ZA 187/2).
Einsetzung des St. Galler Grossen Rats im Jahr 1803. Kupferstich von Daniel Beyel, nach einer Vorlage von Antonio Orazio Moretto, erschienen in den Neujahrs-Stücken für die vaterländische Jugend, 1807 (Staatsarchiv St. Gallen, ZA 187/2). […]

Vorangetrieben von einer ländlichen Elite, konstituierten sich auf dem Gebiet des heutigen Kantons St. Gallen zu Beginn des Jahres 1798 acht kleine Freistaaten, die jedoch im April zu den Kantonen Säntis und Linth der Helvetischen Republik zusammengefasst wurden. Schon bald zwangen Finanzprobleme die beiden Kantone zu unpopulären Massnahmen. Am 17. September 1798 verstaatlichte die helvetische Regierung den Besitz des Klosters St. Gallen, was die katholische Bevölkerung zutiefst verletzte. Die unerfüllten Hoffnungen führten bei den Anhängern der Revolution bis in den Winter zu einer Ermattung. Belastend wirkten die Besatzungskosten und der anhaltende Widerstand der einflussreichen Revolutionsgegner. Der nach Wien geflohene Fürstabt Pankraz Vorster forderte den Kaiser zur Rückeroberung der Fürstabtei St. Gallen auf. Nach dem Ausbruch des Zweiten Koalitionskriegs besetzte die österreichische Armee im Mai 1799 die Ostschweiz, und Fürstabt Pankraz bezog wieder seine alte Residenz. Doch nach der Niederlage der Österreicher und Russen bei Zürich kehrten die Franzosen zurück. In der ausgebluteten Ostschweiz breiteten sich Elend und eine verklärende Sehnsucht nach den alten Zuständen aus.

Der Schweiz verordnete Napoleon in der Eröffnungssitzung der Consulta Ende 1802 eine föderalistische Verfassung. Die Mediationsakte von 1803 schuf neu den Kanton St. Gallen. Zum Präsidenten der provisorischen Regierung in St. Gallen ernannte Napoleon den ehemaligen fürstäbtischen Landvogt Karl Müller-Friedberg. In der Verfassung blieb die rechtliche Gleichheit als revolutionäre Errungenschaft auf dem Papier erhalten. Hohe Zensusbestimmungen legten die Macht aber in die Hände der besitzenden Männer. Vordergründig bildete der Grosse Rat das höchste Organ im Kanton, doch die eigentliche Regierungsgewalt übte der neunköpfige Kleine Rat aus, der allein über das Recht zur Gesetzesinitiative sowie über die Finanzen verfügte. Um die labile Herrschaft zu stabilisieren, setzte die Regierung die Zentralisierung des Polizei-, Erziehungs-, Sanitäts- und Gerichtswesens durch. Staatsrechtlich befand sie sich in einer unangenehmen Position, da die Mediationsakte die Wiederherstellung aufgehobener Klöster garantierte. Fürstabt Pankraz weigerte sich denn auch bis zu seinem Tode 1829, auf die Landeshoheit zu verzichten. Der Grosse Rat folgte deshalb 1805 der Regierung und beschloss mit knappem Mehr die Aufhebung der Fürstabtei, worauf der Klosterbesitz rasch liquidiert wurde.

Nach der Niederlage Napoleons drohte der junge Kanton 1814 in seine Teile zu zerfallen. Volksbewegungen vom Rheintal bis ins Gasterland forderten Autonomie. Gegen die Widerstände aus den alten regierenden Orten (Schwyz, Glarus) erreichte die Regierung jedoch die Anerkennung der bestehenden Kantonsgrenzen durch die Siegermächte. Die Verfassung von 1814 orientierte sich am konfessionellen Paritätsprinzip: Der Grosse Rat bestand von nun an aus 66 Reformierten und 84 Katholiken, wobei jeder Konfessionsteil die kirchlichen und schulischen Angelegenheiten selbst regelte. Das Sarganserland, das den Anschluss an Glarus anstrebte, wurde 1814 durch Tagsatzungstruppen besetzt und verblieb beim Kanton St. Gallen.

1830 verlangten Bürgerversammlungen in Altstätten, Wattwil und St. Gallenkappel die Beseitigung der restaurativen Ordnung. Nach hitzigen Auseinandersetzungen zwischen direktdemokratisch-religiöskonservativen und liberal-bürgerlichen Kräften unter der Führung von Gallus Jakob Baumgartner hiessen die Stimmberechtigten im März 1831 die neue Kantonsverfassung mit dem Grossrat als höchstem Organ gut. Das allgemeine Wahlrecht wurde auf alle in bürgerlichen Ehren stehenden Männer ab dem 21. Altersjahr ausgedehnt. 60% der erwachsenen Männer verfügten nun über die politischen Rechte. Weiter sah die Verfassung die Verankerung der Rechtsgleichheit, die Gewaltenteilung und die öffentliche Kontrolle von Verwaltung und Finanzen vor. Sie garantierte ferner die Presse-, Vereins-, Handels- und Gewerbefreiheit. Bleibende Spuren hinterliessen die religiös-konservativen Bewegungen vom Lande: Das männliche Stimmvolk erhielt ein eingeschränktes Vetorecht, die Wahlen folgten weiterhin dem Prinzip der Parität zwischen Katholiken und Reformierten und die Konfessionsteile verwalteten das Schul- und Ehewesen weiterhin getrennt.

Antiklerikale Karikatur von Jakob Albrecht aus der satirischen Zeitschrift Der Inspekter vom 6. April 1861 (Kantonsbibliothek Vadiana St. Gallen).
Antiklerikale Karikatur von Jakob Albrecht aus der satirischen Zeitschrift Der Inspekter vom 6. April 1861 (Kantonsbibliothek Vadiana St. Gallen). […]

Nach 1831 erhielt das Zweiparteiensystem von Konservativen und Liberal-Radikalen feste Konturen. Flugblätter, Wahlbroschüren und gedruckte Wahllisten kamen in Gebrauch. Dank des Erfolgs der Liberal-Radikalen in den Grossratswahlen von 1847 ermöglichte die Stimme des Kantons St. Gallen trotz heftigem Widerstand einiger katholischer Gegenden, dass in der Tagsatzung eine knappe liberale Mehrheit der Kantone sich für die militärische Auflösung des Sonderbunds aussprach. Die Bundesverfassung von 1848 wurde in St. Gallen deutlich angenommen. Nach 1850 gewannen die Konservativen rasch an Boden. Der Kampf um die Revision der Kantonsverfassung drohte in einen Bürgerkrieg auszuarten, doch 1861 hiessen der Grossrat und die Stimmberechtigten einen Kompromissvorschlag gut. Die neue Verfassung übertrug den Religionsgemeinschaften die Besorgung ihrer kirchlichen Angelegenheiten. Die konfessionellen Grossratskollegien wurden aufgehoben. Die Verflechtung von staatlichen und konfessionellen Entscheidungsbefugnissen löste sich für alle Glaubensgemeinschaften auf. Nach dem Erziehungswesen gingen 1867 die Führung der Zivilstandsregister sowie 1874 die Eheschliessung und das Beerdigungswesen in die Hände des Staats über. Der Grossrat wurde nicht mehr an offenen Bezirksversammlungen gewählt, sondern in 92 Gemeindewahlkreisen. Die durch die demografische Entwicklung überholte feste Zuteilung der Mandate nach Konfession und Bezirk fiel weg: Von nun an war auf 1200 Einwohner ein Abgeordneter zu bestimmen. Mit der Einführung des Veto-Referendums wurden die Volksrechte erweitert.

Vom Kultur- zum Klassenkampf (1861-1914)

1861 eroberte die liberal-radikale Partei drei Fünftel aller Grossratsmandate. Unter dem Eindruck der päpstlichen Verurteilung des Liberalismus im Syllabus (1864) und im Ersten Vatikanischen Konzil (1869-1870) verstärkten die Liberal-Radikalen ihre kulturkämpferische Politik, indem der Grossrat nach preussischem Vorbild politische Äusserungen auf der Kanzel unter Strafe stellte und das bischöfliche Knabenseminar in St. Georgen aufhob. Umgekehrt bekämpfte die konservative Partei in enger Verbindung mit der Kirchenleitung die Kommunalisierung der Friedhöfe und die Reduktion der Feiertage als verletzenden Eingriff in kirchliche Rechte. Zur Verteidigung des katholischen Glaubens sammelten sich die konservativen Gläubigen ab 1871 im Piusverein. 1873 folgten die Mütter-, 1875 die Erziehungs- und 1899 die christlichsozialen Arbeitervereine. Die konservative Partei erreichte nach 1875 schrittweise eine grössere Vertretung im Nationalrat und widersetzte sich beharrlich der Schaffung überkonfessioneller, sogenannt bürgerlicher (staatlich verwalteter) Schulgemeinden, wie sie die Bundesverfassung von 1874 verlangte.

Auf Grund des raschen industriellen Wachstums trat die Soziale Frage in den Vordergrund. Der linke Flügel der Liberalen rückte deshalb von kulturkämpferischen Zielsetzungen ab und engagierte sich für die direkte Demokratie und die Sozialpolitik. Nach 1881 schlossen sich Demokraten und Konservative in ihrer Gegnerschaft zum "Aristokraten-, Plutokraten-, Eisenbahnbaronen- und Manchestertum" der liberal-radikalen Partei zu einer Allianz zusammen. Die Demokratische und Arbeiterpartei beschloss 1888 ein vom Advokaten Josef Anton Scherrer entworfenes Programm, das den Ausbau der Volksrechte und mehr soziale Gerechtigkeit verlangte und zur Revision der Verfassung führte.

Das 1890 mit vier Fünfteln Ja-Stimmen angenommene Grundgesetz erleichterte das fakultative Referendum, führte die Volkswahl der Regierungsräte ein und verankerte die Gesetzesinitiative. In der heftig umstrittenen Schulfrage behielt der Staat die Leitung des Unterrichts. Die beiden Mittelschulen (Kantonsschule St. Gallen, Lehrerseminar Rorschach) wurden ausschliesslich aus Staatsmitteln finanziert. Wo konfessionelle Schulen bestanden, erhielten die politischen Gemeinden das Recht, sie durch Mehrheitsbeschluss zu vereinigen. Neu wies Artikel 1 dem Staat die Förderung der Volkswohlfahrt zu. Daraus ergaben sich die unentgeltliche Abgabe von Lehrmitteln, die finanzielle Unterstützung der Sekundarschulen und die Erteilung von Stipendien. Ferner sollte der Staat die Gesundheitspflege verbessern, die Arbeitskraft schützen, die Landwirtschaft fördern und das Versicherungswesen ausbauen.

Demokraten und Konservative gewannen 1891 fünf der sieben Regierungsratssitze. Die Grossratswahlen ergaben aber auf Grund der Wahlordnung eine absolute Mehrheit der Liberal-Radikalen. Der Kampf der Allianzparteien richtete sich daher auf die Einführung des Proporzwahlrechts. Nach gescheiterten Versuchen 1893, 1900 und 1906 machte die erste Verhältniswahl von 1912 die Konservative Volkspartei mit 87 Mandaten zur stärksten Partei. Die geschwächten Liberalen kamen auf 86 Vertreter; sie schufen daraufhin zur Erhöhung ihrer Schlagkraft ein ständiges Sekretariat und einigten sich auf die einheitliche Bezeichnung Freisinnig-Demokratische Partei (FDP). Die Sozialdemokraten, die sich unter der Leitung des Rorschacher Anwalts Johannes Huber 1905 mit einem marxistischen Programm als Kantonalpartei konstituiert hatten, stellten elf Vertreter. In Frontstellung zur klassenkämpferischen Arbeiterbewegung kamen sich Freisinnige und Konservative näher. Das bürgerliche Zusammengehen ging mit der Pflege des Nationalgefühls einher. Das katholisch-konservative Misstrauen gegenüber dem liberalen Bundesstaat wich der Vaterlandsbegeisterung.

Zwischen Konfrontation und nationalem Konsens (1914-1945)

Die wirtschaftlichen Belastungen des Ersten Weltkriegs führten zu einer wachsenden Distanz der organisierten Arbeiterschaft zum bürgerlich regierten Staat. Trotz revolutionärer Klassenkampfrhetorik befürwortete die sankt-gallische Sozialdemokratie im Widerspruch zu ihrer Mutterpartei die Landesverteidigung. Als das demonstrative Truppenaufgebot des Bundesrats am 11. November 1918 den Landesstreik auslöste, beteiligte sich die Arbeiterschaft in den Industrieorten St. Gallen, Rapperswil, Buchs, Sargans und Rorschach am Ausstand. Die bürgerlichen Parteien verteidigten während des Kriegs die bestehende Ordnung. Die Konservative Volkspartei behauptete ihre Stellung dank der 1911 gegründeten christlichsozialen Parteigruppe, die mit ihrem sozialreformerischen Programm eine Abwanderung der katholischen Arbeiter und Angestellten "nach links" verhinderte. Demgegenüber erlitten die Freisinnigen im April 1918 eine Wahlschlappe; die Zahl ihrer Mandate im Grossrat sank von 86 auf 69.

Der Landesstreik polarisierte: Auf der einen Seite stand die gestärkte Sozialdemokratie, die programmatisch am Umsturz der Eigentumsordnung festhielt, in der Praxis aber eine reformistische Linie verfolgte. Mit deutlichem Mehr verwarf sie 1920 den Beitritt zur kommunistischen Dritten Internationale, worauf sich in Rorschach, Rapperswil, Rheineck und St. Gallen kleine Lokalsektionen der Kommunistischen Partei der Schweiz bildeten. Auf der anderen Seite rückten die bürgerlichen Parteien nach rechts. Zur Verteidigung des Staats gründeten freisinnige und konservative Militärs in St. Gallen eine private Bürgerwehr und bildeten gleichzeitig eine Sektion des Schweizerischen Vaterländischen Verbands. Die Gegnerschaft zur "roten Gefahr" führte zu einer antisozialistischen Gesinnung. Vor allem die Konservativ-christlichsoziale Volkspartei verstand sich als staatstragende Kraft und bekämpfte mit der katholischen Kirche alles, was mit Sozialismus und Bolschewismus in Verbindung stand.

Die geschwächte freisinnige Partei, die keine weiteren katholischen Wähler verlieren wollte, willigte 1923 und 1931 in die Beseitigung der letzten Reste des Staatskirchentums ein. Da die Konfrontation mit der Linken nicht die gewünschte Wirkung zeigte, gaben die Konservativen ihren Widerstand gegen eine sozialdemokratische Regierungsbeteiligung auf. Nachdem die Sozialdemokraten als Erben der Demokratischen und Arbeiterpartei 1925 ein drittes Nationalratsmandat erobert hatten, setzten sie fortan auf die Mitarbeit in der Regierung. Mit der 1930 erfolgten Wahl des Redaktors Valentin Keel zum Polizeidirektor folgten sie einem pragmatischen Weg, der bei den Wahlen 1935 allerdings deutliche Verluste nach sich zog. Die Unzufriedenen wandten sich neuen politischen Gruppierungen zu, den Jungbauern, den Freiwirtschaftern oder dem von Gottlieb Duttweiler gegründeten Landesring der Unabhängigen (LdU), die sich gegen die Herabsetzung des Lebensstandards zur Wehr setzten. 1936 eroberten die Kleinparteien 15 Sitze, 1939 gar deren 24.

Nach ersten Versammlungen der von jungen Akademikern geführten Nationalen Front im Juni 1933 entstanden diverse Ortsgruppen. Im Kampf gegen den Marxismus von den Konservativen, die gestützt auf die katholische Soziallehre unter anderem in der "Ostschweiz" antiliberale, ständestaatliche Ideen vertraten, anfänglich als Bundesgenossen begrüsst, setzten die Fronten dem liberalen Individualismus Volksgemeinschaft und Führerdemokratie entgegen. Die Begeisterung verlor sich rasch und 1939 bekannten sich nur noch 200 Mitglieder zum frontistischen Programm. Auf dem Höhepunkt der deutschen Militärerfolge erlebten die Fronten einen neuerlichen Aufschwung. Die 180 Mitglieder starke Nationale Opposition eroberte 1942 dank der Unterstützung von verunsicherten Kleingewerblern und Angestellten einen Grossratssitz.

Sitze des Kantons St. Gallen in der Bundesversammlung 1919-2015

 19191939195919671971197519831991199519992003200720112015
Ständerat
KK/CVP111111111111  
FDP11111 11111111
SP     1      11
Nationalrat
KK/CVP66666655443333
FDP54443342222112
SP22222222322222
Demokraten2             
LdU 1111111      
Grüne       111111 
Autopartei/Freiheitspartei       11     
SVP        134545
GLP            1 
Total Sitze1513131312121212121212121212
Sitze des Kantons St. Gallen in der Bundesversammlung 1919-2015 -  Historische Statistik der Schweiz; Bundesamt für Statistik

Zusammensetzung des Regierungsrats im Kanton St. Gallen 1954-2016

 19541957196019681972197619841992199620002004200820122016
KK/CVP33333333333222
FDP33333333222222
SP11111111222222
SVP           111
Total Sitze77777777777777
Zusammensetzung des Regierungsrats im Kanton St. Gallen 1954-2016 -  Historische Statistik der Schweiz; Bundesamt für Statistik; Staatskanzlei

Zusammensetzung des Kantonsrats im Kanton St. Gallen 1909-2016

 19091912192119391945195719721988199219962004200820122016
KK/CVP7186767477899281696655332926
FDP8386544950605250454432232226
SP611232729322122303435162020
Demokraten121816           
KP/PdA  1 4         
Jungbauern   106         
LdU   651271197    
Grüne       53310455
EVP      1222222 
Republikaner/NA/SD      7 1     
Autopartei/Freiheitspartei       71910    
SVP         1445413540
GLP           152
BDP            2 
Andere 1387  22 1  1
Total Sitze172202173174178193180180180180180120120120
Zusammensetzung des Kantonsrats im Kanton St. Gallen 1909-2016 -  Historische Statistik der Schweiz; Bundesamt für Statistik; Staatskanzlei

Stabilität und neue Strömungen (seit 1945)

Die wirtschaftliche Prosperität in den ersten Nachkriegsjahrzehnten sorgte für politische Kontinuität. Bis auf eine kurze Unterbrechung teilten sich Freisinnige und Konservative die Ständeratsmandate, und auch die 1930 eingeführte Verteilung der Regierungsratssitze auf je drei Freisinnige und Christlichdemokraten sowie einen Sozialdemokraten hatte bis 1996 Bestand.

In den Wahlen Anfang 1945 erstarkte die Linke: Vier Vertreter der Partei der Arbeit (PdA) hielten Einzug ins Parlament. Bereits 1951 wurden sie im Zeichen des Kalten Kriegs wieder abgewählt, während die Politische Polizei die kommunistische PdA systematisch überwachte. Nach einer Verschiebung der Kräfteverhältnisse nach rechts 1948 stellte die Konservativ-christlichsoziale Volkspartei bis 1972 fast die Hälfte der Grossratsmandate. Im politischen Alltag verteidigte sie über zwei Jahrzehnte hinweg die katholischen Schulen, während der Freisinn umgekehrt deren Aufhebung forderte. Die Schulverschmelzungsinitiative von 1970 führte bis 1982 zur Beseitigung der letzten konfessionellen Schulverbände und zum Ende der kulturpolitischen Polarisierung.

Mit der Umbenennung in Christlichdemokratische Volkspartei (CVP) 1970 präsentierten sich die Konservativen neu als Kraft der dynamischen Mitte. Damit verknüpft war die Abkehr von der politischen Wahrnehmung katholisch-kirchlicher Interessen. Dies verschaffte der CVP in den Wahlen von 1972 die absolute Mehrheit im Grossrat. Obwohl der Griff nach der Mehrheit im Regierungsrat misslang, bewahrte die CVP ihre Vormachtsstellung im Parlament bis 1984. Im Gegensatz dazu büsste der Freisinn 1972 einen Fünftel seiner Sitze ein, und die Sozialdemokratie fiel mit 21 Mandaten auf ein historisches Tief. Der sozialdemokratische Wählerschwund, der sich aus der Verschiebung der Basis von der Industriearbeiterschaft hin zu den Angestellten, Beamten und Intellektuellen ergab, hielt bis 1988 an. Dann brachte das Engagement für Umweltschutz und Gleichberechtigung wieder mehr Sitze.

Im Zug des öffentlichen Bewusstseins für Umweltprobleme bildete sich auf der linken Seite des Parteienspektrums mit den Grünen und der Kleinpartei M.U.T. eine ökologische Bewegung, die 1984 ein, 2004 als Erbin des LdU zehn und 2008 im verkleinerten Parlament (von 180 auf 120 Sitze) fünf Mandate gewann. Gleichzeitig veränderte sich die bürgerliche Parteienlandschaft grundlegend: Stellten 1984 FDP und CVP rund vier Fünftel der Sitze im Grossrat (seit 2001 Kantonsrat), vereinten sie 2008 nicht einmal mehr die Hälfte auf sich. Als zweitstärkste politische Kraft etablierte sich die nationalkonservative Schweizerische Volkspartei (SVP), die im Umfeld der Abstimmung zum Europäischen Wirtschaftsraum 1992 reaktiviert worden war. 1996 eroberte sie 14 Sitze, 2008 deren 41 (seither stärkste Fraktion), wobei sie nicht nur die Autopartei aufsog, sondern auch in ehemaligen CVP- und FDP-Bezirken beachtliche Wähleranteile erreichte. Der Aufstieg der SVP beruhte auf der schwindenden religiösen Bindung weiter Teile der katholischen Bevölkerung und der verbreiteten Ablehnung von europäischer Integration und Globalisierung.

Das Pressewesen

Als erste Zeitungen nutzten für kurze Zeit das Wochenblatt für den Kanton Säntis und die Schweizerischen Tagblätter die in Artikel 7 der helvetischen Verfassung garantierte Pressefreiheit. 1801 erschien als Inserate- und Nachrichtenblatt das St. Galler Wochenblatt. 1803 folgte das Kantonsblatt (Amtsblatt) und 1806 als offiziöses Organ der Regierung Der Erzähler.

Der Umsturz von 1831 leitete eine Kommunikationsrevolution ein. Die Presse wurde zum Organ der öffentlichen Meinung und zum Instrument im Kampf um die Wählergunst. Die grosse Zahl liberal-radikaler Blätter legte den Grundstein zu den freisinnigen Wahlsiegen. Als Organ des Katholischen Vereins erschien 1835 Der St. Gallische Wahrheitsfreund. Das 1839 gegründete Tagblatt der Stadt St. Gallen (seit 1910 St. Galler Tagblatt), das sich im Untertitel "Organ des vernünftigen ruhigen Fortschritts" nannte, erreichte kantonsweit die grösste Auflage. Die Liberal-Radikalen bauten ihre Presse weiter aus, unter anderem mit dem Rorschacher Wochenblatt (1846) und dem Oberländer Anzeiger (1862). Zugleich entstanden katholisch-konservative Zeitungen wie das Neue Tagblatt aus der östlichen Schweiz (1856), das 1874 durch das Zentralorgan Die Ostschweiz (1874) abgelöst wurde. Um 1930 bestanden rund 30 Gesinnungsblätter, die an 22 verschiedenen Orten herausgegeben wurden. Trotz wirtschaftlicher Schwierigkeiten und dem langsamen Zerfall der politisch-sozialen Milieus hielten sich die meisten Zeitungen bis in die 1970er Jahre. Die 1911 erstmals erschienene, sozialdemokratische Volksstimme (ab 1970 Ostschweizer Arbeiterzeitung) stellte 1996 ihr Erscheinen ein. Nur ein Jahr später verschwand Die Ostschweiz. Neben einigen wenigen kleinen Zeitungen dominierte 2008 im Nordteil des Kantons das St. Galler Tagblatt, im Südteil die Südostschweiz.

Staatstätigkeit

Gebietseinteilung, Behörden und Verwaltung

Der neue Kanton entstand 1803 aus der Verschmelzung der nach der Wiederherstellung der Kantone Glarus und Appenzell übrig gebliebenen Teile der helvetischen Kantone Linth und Säntis. Er umfasste zwölf Gebiete. Nachdem er 1803 in acht Bezirke als Einheiten der Verwaltung und Rechtspflege sowie 44 Wahlkreise eingeteilt worden war, erhöhte sich 1831 die Zahl der Bezirke, die gleichzeitig als Amts-, Wahl- und Gerichtsbezirke dienten, auf 15. Die Gemeinden bildeten 1861-1912 die Wahlkreise. Nach der Erweiterung der Stadtgemeinde St. Gallen 1918 reduzierte sich die Zahl der Bezirke auf 14, die 2003 von acht Wahlkreisen, den Regionen St. Gallen, Rorschach, Rheintal, Werdenberg, Sarganserland, See-Gaster, Toggenburg und Wil, abgelöst wurden.

Die gesetzgebende Gewalt liegt beim Grossrat, der seit 2001 Kantonsrat heisst. 1803 besass das Parlament 150 Mitglieder, ab 1861 kam auf 1200 Einwohner ein Abgeordneter, was die Vertreterzahl bis 1960 auf 204 ansteigen liess. Dann erfolgte eine Begrenzung auf 180 Mitglieder, seit 2008 auf 120. Neben dem Grossrat bestanden in Kirchen-, Ehe- und Schulsachen 1814-1861 ein katholisches und ein evangelisches Grossratskollegium. Die exekutive Gewalt übt der Regierungsrat mit sieben Mitgliedern aus, der sich bis 1831 als Kleiner Rat aus neun Mitgliedern zusammensetzte.

Zu den wichtigsten Tätigkeitsbereichen des Staats zählten 1803 die Rechtspflege, das Militärwesen und die Ausübung der Regalrechte. Auch im Bau-, Erziehungs- und Sozialwesen nahm er Aufgaben wahr, überliess den Vollzug seiner Anordnungen aber grösstenteils den Gemeinden oder privaten Trägerschaften. Einen ersten Ausbau der staatlichen Aktivität brachte nach 1890 der Wandel vom Rechts- zum Wohlfahrtsstaat. Die stärkste Intensivierung der Staatstätigkeit setzte nach 1945 ein, als Wirtschafts- und Bevölkerungswachstum neue Herausforderungen stellten. Die Zahl der Kantonsbeamten und -angestellten erhöhte sich von 2000 Personen 1945 auf 15'402 Personen 2007, darunter viele Teilzeitbeschäftigte. Der grösste Teil der kantonalen Angestellten – der Beamtenstatus wurde 1996 abgeschafft –arbeitet im Gesundheitsbereich, gefolgt von der allgemeinen Verwaltung und dem Bildungswesen. Der Kanton St. Gallen gehörte zu den Gründungsmitgliedern der Regio Bodensee, die das Ziel einer engen nachbarschaftlichen Zusammenarbeit über die Grenzen hinweg verfolgt.

Erziehungswesen

Das Erziehungsgesetz von 1804 unterstellte das Schulwesen staatlicher Oberaufsicht. Für die Lehrerausbildung richtete der katholische Konfessionsteil 1835 ein Seminar mit einer zweijährigen Berufsbildung ein, das eine Abteilung der Katholischen Kantonsschule in St. Gallen bildete, während die reformierten Lehrer das kantonale Seminar im thurgauischen Kreuzlingen besuchten. Das erste gemeinsame Lehrerseminar entstand 1856 als Abteilung der im gleichen Jahr gegründeten, konfessionell gemischten Vertragskantonsschule. Es ging 1864 im staatlichen Lehrerseminar Mariaberg in Rorschach auf.

Trotz Anstrengungen verharrte die Volksschule auf dem Land bis 1830 auf dem Stand des Ancien Régime. Der Unterricht in den konfessionell getrennten Schulen beschränkte sich neben Lesen, Schreiben und Rechnen auf die Tugend- und Glaubenslehre. In vielen Gemeinden liess der Schulbesuch zu wünschen übrig, und der Zustand der Schulräume war erbärmlich. Erste Reformen setzten 1833 ein, als die liberalen Katholiken im katholischen Grossratskollegium und im Erziehungsrat die Mehrheit erlangten. Der Schulstoff wurde säkularisiert: Die sogenannte Vaterlandskunde diente der Erziehung der Kinder zu patriotisch gesinnten Staatsbürgern, der Realienunterricht (Geografie, Naturkunde) förderte das wissenschaftliche Denken. Nach 1841 verebbten die Bemühungen. Erst die Gründung der Vertragskantonsschule 1856 setzte neue Akzente. An die Stelle des 1809 ins Leben gerufenen Katholischen Gymnasiums und des 1598 geschaffenen Evangelischen Stadtgymnasiums trat eine konfessionell gemischte Staatsschule im Dienst der kantonalen Einheit.

1862 wurde die Volksschule dem neu errichteten Erziehungsdepartement unterstellt, ohne die konfessionelle Trennung der Schulverbände aufzuheben. Obwohl ab 1890 Artikel 27 der Bundesverfassung die Vereinigung der konfessionellen zu staatlichen Schulgemeinden durch Mehrheitsbeschluss vorsah, blieb die Wirkung der Neuregelung bis 1960 gering. Danach wurden die konfessionellen Schulgemeinden rasch aufgehoben.

Ansicht der Kantonsschule Wil (SG) vom Dach des Getreidespeichers der Silo AG Wil © 2002 Fotografie Kantonsschule Wil.
Ansicht der Kantonsschule Wil (SG) vom Dach des Getreidespeichers der Silo AG Wil © 2002 Fotografie Kantonsschule Wil. […]

Trotz regelmässiger staatlicher Beiträge an die Schulgemeinden ab 1890 und der kostenlosen Abgabe von gedruckten Unterrichtsmitteln verbesserten sich die Verhältnisse in der Grundschule nicht im gewünschten Mass. Die sankt-gallischen Primarschulen wiesen die höchsten Klassenbestände der Schweiz auf. Bis nach dem Zweiten Weltkrieg existierten viele Dreiviertel- und Halbjahresschulen, was zu grossen Qualitätsunterschieden führte. Staatliche Unterstützung erhielten nach 1890 auch die kaufmännisch-gewerblichen Fortbildungs- und die Realschulen. Die Sekundarlehrerausbildung, die 1867 als einjähriger Kurs an der Kantonsschule eingerichtet worden war, erweiterte die Regierung 1893 auf drei und 1909 auf vier Semester und stellte sie auf eine einheitliche, fachwissenschaftlich-pädagogische Grundlage.

In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verdoppelte sich die Zahl der Absolventen der Sekundarschulen, diejenige der Mittelschulen erhöhte sich um das Sechsfache. Der Ausbau der Mittelschulen begann 1961 mit der Errichtung der Zweigschule Sargans. 1964 folgte die Einweihung des Ergänzungsbaus der Kantonsschule St. Gallen, 1970 die Eröffnung der Kantonsschule Wattwil, 1975 diejenige von Heerbrugg und 2002 jene der interkantonalen Mittelschule Wil. Als Fachschulen nahmen 1970 das Technikum Buchs und die Höhere Wirtschafts- und Verwaltungsschule St. Gallen sowie 1972 das von Schwyz, Zürich (2008 aus dem Vertrag ausgetreten), Glarus und St. Gallen getragene Technikum Rapperswil ihre Tätigkeit auf. Nach 1998 wurden sie zu Fachhochschulen aufgewertet. Eine Aufwertung erfuhr auch die 1898 als Handelsakademie gegründete Handelshochschule, die 1976 an den Kanton überging. Die 1963 in Hochschule St. Gallen für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften umbenannte und international anerkannte Institution erhielt 1995 als grösste schweizerische Hochschule im Bereich der Wirtschaftswissenschaften den Titel Universität St. Gallen.

Sozial- und Gesundheitspolitik

Für die Armenunterstützung waren wie im Ancien Régime zunächst die Ortsbürgergemeinden zuständig. 1835 schränkte die Regierung die Unterstützungspflicht nach englischem Vorbild rigoros ein. Arbeitslose blieben ausgeschlossen und wirtschaftlich in Not geratene Menschen wurden ausgegrenzt, da ihre Armut nach liberaler Vorstellung persönlichem Verschulden entsprang. Zudem setzte man das schon 1804 verfügte Bettelverbot mit harten Strafen durch. Die Behörden förderten den Bau von Armenanstalten, welche die Insassen mit strenger Arbeit zu brauchbaren Mitgliedern der bürgerlich-industriellen Gesellschaft erziehen sollten. Um 1850 besassen gegen 80% der Gemeinden Armenhäuser, in denen Alte, Gebrechliche, Waisen, Irre und Alkoholkranke unter oft erbärmlichen Zuständen lebten. Im Zug der Industrialisierung und Verstädterung wurde die Arbeitslosigkeit als soziales Problem erkannt und die Arbeitslosenfürsorge von der Armenpflege abgetrennt. 1894 erliess der Grossrat ein Gesetz, das den Gemeinden die Einführung einer obligatorischen Arbeitslosenversicherung gestattete. Parallel dazu wurde die Armenpflege humaner. Das Einsperren unterschiedlicher Gruppen im Armenhaus nahm ein Ende. Spezialanstalten für Waisen, schwer erziehbare Jugendliche oder Alte wie die 1869 durch den katholischen Konfessionsteil für verwahrloste Kinder eröffnete Katholische Rettungsanstalt Thurhof oder die 1894 gegründete Besserungsanstalt für Knaben in Oberuzwil entstanden. 1896 gliederte die Ortsbürgergemeinde St. Gallen die Armen- und Arbeitsanstalt aus der Altersversorgung aus, und 1906 verbot ein Gesetz die Aufnahme von Kindern ins Armenhaus.

Patientinnen in der Liegehalle des kantonalen Lungensanatoriums Walenstadtberg. Fotografie, um 1930 (Rehazentrum Walenstadtberg).
Patientinnen in der Liegehalle des kantonalen Lungensanatoriums Walenstadtberg. Fotografie, um 1930 (Rehazentrum Walenstadtberg). […]

1803 übertrug die Regierung die medizinische Patentierung einem Sanitätskollegium, das die Zulassungsprüfungen für angehende Mediziner abnahm. Zugleich erhielten die akademisch gebildeten Ärzte als alleinige Experten die Oberaufsicht über das gesamte medizinische Personal. Die öffentlichen Institutionen des Gesundheitswesens wurden nach und nach erweitert: 1838 wurde eine private Entbindungsanstalt für arme Schwangere (1847 verstaatlicht), 1847 die Irren-, Heil- und Pflegeanstalt im aufgehobenen Kloster Pfäfers, 1873 das Kantonsspital St. Gallen, 1892 die psychiatrische Klinik in Wil und 1909 das Tuberkulosesanatorium Walenstadtberg eröffnet. Hinzu kamen staatlich unterstützte Gemeinde- und Bezirkskrankenhäuser, die zwischen 1867 und 1901 in Altstätten, Niederuzwil, Thal, Walenstadt, Wattwil, Flawil, Uznach, Grabs und Rorschach gebaut wurden. Den grössten Entwicklungsschub erfuhr das Gesundheitswesen in den Jahren 1950-1970, in denen rund 250 Mio. Franken in die chirurgische Klinik des Kantonsspitals (1956), das Ostschweizerische Säuglingsspital (1966) und die Regionalspitäler investiert wurden. 1953-1998 nahm die durchschnittliche Aufenthaltsdauer eines Patienten im Kantonsspital von 23 auf neun Tage ab. Dies führte ab 1980 zu Überkapazitäten, sodass die Spitalbettenzahl gesenkt werden musste. Versuche, Regionalspitäler zu schliessen, scheiterten aber am Widerstand der Bevölkerung.

Wehrwesen

Die Verfassung von 1803 sah vor, dass jeder im Kanton wohnhafte Schweizer Dienst zu leisten hatte. Für die notwendige Bewaffnung und Uniformierung war jeder Wehrmann selbst zuständig. Entsprechend bunt und mangelhaft fiel die Ausrüstung aus. Für das Bundeskontingent musste St. Gallen 1315 Mann stellen. 1817 wurde dieses Kontingent auf 2% der Bevölkerung erhöht.

Nach dem liberalen Umschwung sorgte der Staat für die Uniform, während der Soldat das Gewehr weiterhin selbst anzuschaffen hatte. Nach wie vor blieb die Ausrüstung der Truppen mangelhaft. Die Rekrutenschule wurde zentral in der alten Kaserne in St. Gallen absolviert und förderte die Integration der Bürger in den jungen Kanton. Nach 1848 blieben Finanzierung und Ausrüstung der Armee eine kantonale Angelegenheit, obschon der Bund einen Teil des Kriegsmaterials lieferte. Die endgültige Zentralisierung erfolgte erst 1874 mit der Revision der Bundesverfassung. 1877 löste ein Neubau im Westen der Stadt St. Gallen die alte Kaserne ab.

Von den Anfängen einer bürgerlich-industriellen Gesellschaft bis zur Gegenwart

Bevölkerung und Siedlung

1803 nahm St. Gallen bezüglich der Einwohnerzahl hinter den Kantonen Zürich, Bern und Waadt die vierte Stelle ein. Bis 1870 wuchs die sankt-gallische Bevölkerung pro Jahr durchschnittlich um 0,6% (gesamte Schweiz 0,8%). Bei einer hohen jährlichen Geburtsrate von 28-36‰ und einer gleichzeitig hohen Sterblichkeit von 29-31‰ resultierte ein mässiger Geburtenüberschuss. Neben dem natürlichen Wachstum erzielte St. Gallen nach 1840 dank der industriellen Entwicklung im nördlichen Teil auch Wanderungsgewinne. 1816-1817 kam es zur letzten Hungerkrise, in der über 8000 Personen starben. Um die Zunahme der Armen (8% der Einwohner) zu unterbinden, erliess der Grosse Rat 1818 ein restriktives Ehegesetz, dessen Einfluss auf die Heiratshäufigkeit gering blieb.

Bevölkerungsentwicklung des Kantons St. Gallen 1850-2000

JahrEinwohnerAusländer-anteilAnteil KatholikenAnteil ProtestantenAlters-struktur (Anteil >59)ZeitraumGesamt-zunahmeaGeburten-überschussaWanderungs-saldoa
1850169 6251,9%62,1%37,8% 1850-18605,8‰3,8‰2,0‰
1860180 4113,3%61,4%38,5%7,6%1860-18705,6‰4,7‰0,9‰
1870190 6743,5%60,8%39,0%8,2%1870-18809,8‰6,2‰3,6‰
1880209 7195,9%60,0%39,6%8,5%1880-188810,6‰7,9‰2,7‰
1888228 1747,9%59,3%40,4%9,0%1888-19007,7‰8,0‰-0,3‰
1900250 28511,4%60,1%39,6%9,3%1900-191019,3‰11,3‰8,0‰
1910302 89617,6%60,9%38,4%8,3%1910-1920-2,5‰7,6‰-10,1‰
1920295 54311,4%59,0%40,2%9,3%1920-1930-3,2‰6,7‰-9.9‰
1930286 3629,3%58,8%39,9%11,7%1930-19410,0‰4,2‰-4,2‰
1941286 2016,3%58,9%39,8%14,5%1941-19508,6‰8,9‰-0,3‰
1950309 1069,4%59,6%39,5%15,5%1950-19609,4‰8,8‰0,6‰
1960339 4899,7%61,9%37,2%15,9%1960-197012,5‰10,4‰2,1‰
1970384 47515,3%63,7%34,7%16,3%1970-19801,9‰4,9‰-3,0‰
1980391 99513,3%61,0%34,4%18,1%1980-19908,7‰4,9‰3,8‰
1990427 50116,9%58,0%32,2%18,3%1990-20006,1‰3,9‰2,2‰
2000452 83720,1%52,3%28,3%19,0%    

a mittlere jährliche Zuwachsrate

Bevölkerungsentwicklung des Kantons St. Gallen 1850-2000 -  Historische Statistik der Schweiz; eidgenössische Volkszählungen; Bundesamt für Statistik

Dank des Aufschwungs der Maschinenstickerei rückte St. Gallen nach 1865 zu den führenden Industriekantonen auf. 1870-1910 lag die durchschnittliche Zunahme der Bevölkerung pro Jahr mit 1,5% deutlich über dem Landeswert von 1%. Vor allem in den nördlichen Industriebezirken lebten immer mehr Menschen, während sich die landwirtschaftlich-heimindustriellen Gegenden im Süden (Gaster, Sargans, oberes Toggenburg) gegenläufig entwickelten. In 38 von 93 Gemeinden stagnierte oder nahm die Einwohnerzahl ab. Aus diesen Gebieten stammte ein Grossteil der Auswanderer: 1844-1890 suchten über 15'000 Personen in Übersee eine neue Heimat. Das Wachstum beruhte zum einen auf sinkenden Sterberaten bei gleichzeitig überdurchschnittlichen Heirats- und Geburtenziffern, die mit leichter Verzögerung dem Konjunkturzyklus der Stickerei folgten. Zum anderen ergaben sich hohe Wanderungsgewinne. Zwar lag der Kanton St. Gallen 1910 mit einem Ausländeranteil von 17,6% in der schweizerischen Rangliste nur auf Platz sieben, in den Bezirken Tablat, Rorschach und St. Gallen machten diese aber rund einen Drittel der Bevölkerung aus. Die grössten Kolonien stellten die Deutschen (45%), Italiener (34%) und Österreicher (18%).

1914-1941 führte die Stickereikrise zu einem Bevölkerungseinbruch, dann folgte bis 2000 eine kontinuierliche Zunahme. 1960 rutschte St. Gallen hinter den Aargau auf die fünfte Position in der Rangliste der bevölkerungsstärksten Kantone ab. Von der Krise nach 1914 besonders hart getroffen wurde die Hauptstadt, die einen Sechstel ihrer Einwohner verlor und während Jahrzehnten an diesem Aderlass litt. Parallel zur schweizerischen Entwicklung sank der Anteil der Ausländer im Kanton von 17,5% 1914 auf 6,3% 1941.

Nach 1945 folgte das Bevölkerungswachstum der Konjunktur: Die hohen Wachstumsraten 1941-1970, die unter dem schweizerischen Mittel lagen, wurden bis in die 1980er Jahre durch eine Stagnationsphase abgelöst. Danach nahm die Bevölkerungszahl wieder zu. Die Zunahme beruhte einerseits auf einem anhaltenden Geburtenüberschuss, andererseits auf dem Zustrom von ausländischen Arbeitskräften und Flüchtlingen. Obwohl die Geburtenraten ab Ende der 1960er Jahre stark nach unten tendierten, erzielte der Kanton bei weiter rückläufigen Sterbeziffern regelmässig ein natürliches Wachstum, seit 1995 vor allem dank der Geburten innerhalb der jüngeren Ausländerbevölkerung. Der Anteil der Ausländer belief sich 2000 auf rund 20%, wobei zwei Fünftel davon aus Ex-Jugoslawien, 18% aus Italien und 10% aus Deutschland stammten.

Am stärksten wuchsen bis 1970 die Bezirke St. Gallen, Wil, Rorschach und See, am schwächsten die Region Toggenburg. Die Zunahme konzentrierte sich auf Industrieorte und Städte, wobei Gemeinden mit einer zukunftsträchtigen Industrie vor allem expandierten. Ein einmaliger Bauboom, der in seinem Volumen die Bautätigkeit ganzer früherer Jahrhunderte übertraf, veränderte das Landschaftsbild. In der Hauptstadt wurden 1950-1965 rund 400 Häuser abgebrochen und 780 neu erstellt. Im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts verlor die Stadt St. Gallen als Folge der Abwanderung ins Grüne über 10% ihrer Einwohner. Das Toggenburg litt weiter unter dem Niedergang der Textilindustrie, während das Linthgebiet und die Umgebung von Wil am meisten zulegten, weil sie von der Nähe zum Wirtschaftsraum Zürich profitierten.

Wirtschaft und Verkehr

Um 1800 gehörte das Toggenburg zu den bedeutendsten Heimindustrieregionen. Handspinnerei und -stickerei wurde saisonal auch im Fürstenland und im unteren Rheintal betrieben. Demgegenüber lebte die Bevölkerung im oberen Rheintal sowie im Sarganser- und Gasterland von der Landwirtschaft. Nach 1865 setzte mit der Mechanisierung der Stickerei ein rasanter Aufschwung ein, der vor allem das Fürstenland, untere Toggenburg und untere Rheintal erfasste. 1910 arbeiteten 61% der Beschäftigten im 2. Sektor, davon rund zwei Drittel in der Textilindustrie. Die darauffolgende Krise der Stickerei vernichtete bis 1941 rund 30'000 Arbeitsplätze. Erst nach 1945 erholte sich St. Gallen langsam von der schweren Depression. Bis in die 1970er Jahre stand der industrielle Ausbau – hauptsächlich in der Textil- und Maschinenindustrie – im Vordergrund, dann begann verspätet die Tertiarisierung, die bis zu Beginn des 21. Jahrhunderts hinter dem Landesmittel zurückblieb.

Erwerbsstruktur des Kantons St. Gallen 1860-2000a

Jahr1. Sektor2. Sektor3. SektorbTotal
186034 38236,9%42 44145,5%16 44217,6%93 265
1870c33 96637,5%45 89950,6%10 76111,9%90 626
1880c30 84229,7%59 06956,8%14 01713,5%103 928
188828 35926,1%59 24854,5%21 03719,4%108 644
190028 70123,0%72 51458,2%23 37418,8%124 589
191026 61617,4%93 68061,3%32 58321,3%152 879
192029 68021,1%73 87452,6%36 92626,3%140 480
193025 86819,4%67 10050,2%40 58330,4%133 551
194126 84820,3%63 03247,6%42 47732,1%132 357
195022 84516,7%70 15051,2%43 91932,1%136 914
196018 38312,2%84 33656,0%47 92231,8%150 641
197015 9179,0%94 00553,2%66 86137,8%176 783
198013 0347,1%85 12646,5%84 89046,4%183 050
199010 1564,7%82 80538,5%122 22356,8%215 184
2000d8 4163,6%69 93829,9%155 63766,5%233 991

a bis 1960 ohne Teilzeitangestellte

b Residualgrösse einschliesslich "unbekannt"

c ortsanwesende Bevölkerung

d Die Beschäftigtenzahlen der Volkszählung 2000 sind wegen der grossen Zahl "ohne Angabe" (31 037) nur begrenzt mit den vorhergehenden Daten vergleichbar.

Erwerbsstruktur des Kantons St. Gallen 1860-2000 -  Historische Statistik der Schweiz; eidgenössische Volkszählungen

Landwirtschaft

Um 1800 bestanden zwei Landwirtschaftszonen: In den Bezirken Sargans, Werdenberg, Gaster und Obertoggenburg dominierten Alpwirtschaft und Viehzucht. Im unteren Toggenburg und der Alten Landschaft von Wil bis Rorschach herrschte der Ackerbau in der Dreizelgenwirtschaft vor. Der Übergang zur individuellen Bewirtschaftung war 1870 abgeschlossen. Der Loskauf der feudalen Bodenlasten wurde nach 1804 umgesetzt. Die öffentlichen Weiderechte wurden 1807 aufgehoben und der Ertrag durch vermehrte Düngung und die Fruchtfolge von Kartoffeln, Sommerkorn, Klee, Korn und Hafer erhöht. Im Rheintal dienten um 1850 zwei Drittel der Ackerfläche dem Maisanbau.

"Türggen-Hülscheten" im St. Galler Rheintal. Xylographie nach einer Zeichnung von Emil Rittmeyer aus Walter Senns Charakterbilder schweizerischen Landes und Lebens aus Gegenwart und Vergangenheit, 1884 (Kantonsbibliothek Vadiana St. Gallen).
"Türggen-Hülscheten" im St. Galler Rheintal. Xylographie nach einer Zeichnung von Emil Rittmeyer aus Walter Senns Charakterbilder schweizerischen Landes und Lebens aus Gegenwart und Vergangenheit, 1884 (Kantonsbibliothek Vadiana St. Gallen). […]

Mit der Integration in den Weltmarkt verschwand der schon vorher rückläufige Getreidebau fast vollends. 1905 waren nur noch 2% des bewirtschafteten Bodens Ackerland. Der Rindviehbestand verdoppelte sich 1945-1975 und erhöhte sich bis 1980 auf über 200'000 Tiere. Auch die Milchwirtschaft und die Käsereien gewannen an Bedeutung. St. Gallen blieb ein Gras- und Viehwirtschaftsgebiet. Um 1900 begann die Mechanisierung: 15% der Höfe verwendeten von Pferden gezogene Mähmaschinen und Heuwender. Nach dem Siegeszug des Traktors übernahmen bis 1975 auch in Hanglagen die sogenannten Ladetransporter die schwere körperliche Arbeit.

Hatte um 1850 die Hälfte der Bevölkerung von der Landwirtschaft gelebt, sank die Zahl der Beschäftigten im 1. Sektor bis 1900 auf 23%. Dieser Anteil blieb bis zur Hochkonjunktur der Nachkriegszeit konstant, dann brach er ein: Von den 17'156 sankt-gallischen Betrieben von 1939 war 1996 nur noch ein Drittel übrig. Im drittgrössten Landwirtschaftskanton nach Bern und Luzern lebten 2000 noch 4% der Bevölkerung in einem landwirtschaftlichen Haushalt, und der Anteil des Agrarsektors am kantonalen Volkseinkommen sank unter 2%. 1975 brachte der flächenmässig im Vergleich zu 1945 nun im Durchschnitt doppelt so grosse Landwirtschaftsbetrieb eine dreifache Milchmenge und eine fast vierfache Ackerproduktion in den Handel, wobei seither Einmann- oder Ehepaarbetriebe die Regel sind. Nachdem Umweltschäden eingetreten waren, sah das kantonale Gesetz über die Abgeltung ökologischer Leistungen (1991) Ausgleichszahlungen vor, über die bis 1994 5400 Verträge zustande kamen. 1988 stellten fünf Pilotbetriebe auf die Integrierte Produktion um, 1998 hatten bereits 82% der Höfe die Anerkennung für integrierte oder biologische Produktion erhalten.

Industrie, Handwerk und Gewerbe

Musterbuch aus der heimindustriellen Buntweberei von Josua Looser im toggenburgischen Kappel, um 1820 (Toggenburger Museum, Lichtensteig).
Musterbuch aus der heimindustriellen Buntweberei von Josua Looser im toggenburgischen Kappel, um 1820 (Toggenburger Museum, Lichtensteig). […]

Um 1800 lebte rund ein Fünftel der Bevölkerung von der Textilindustrie, deren Handelszentrum St. Gallen war. 1801 wurde im ehemaligen Kloster St. Gallen die erste mechanische Spinnerei der Schweiz eingerichtet. Die frühen Betriebe verlagerten sich nach 1816 an die Flüsse und Bäche, um die Wasserkraft zu nutzen. Nach englischem Vorbild bauten die Unternehmer im Gaster, Toggenburg und Fürstenland moderne Fabriken, darunter als Musterbetrieb die Spinnerei am Uznaberg (1833-1836). Obwohl sich die Spindelzahl 1814-1853 verdoppelte, standen nur 15% der schweizerischen Spindeln in St. Gallen (45% im Kanton Zürich). Mit der Mechanisierung der Spinnerei gewann die Weberei an Bedeutung. Ab 1835 entwickelte sich die Toggenburger Buntweberei, die vor allem Kleiderstoffe für das Osmanische Reich herstellte, zu einer der wichtigsten Exportindustrien der Schweiz. Rund 60 Fabrikationsfirmen von Wildhaus bis Mörschwil beschäftigten über 15'000 Personen. In der Heim- und Fabrikindustrie arbeitete um 1860 rund ein Viertel der Beschäftigten. Der Industrialisierungsgrad entsprach dem schweizerischen Durchschnitt.

Zwischen 1865 und 1914 verdoppelte sich aufgrund der Mechanisierung der Stickerei die Zahl der Berufstätigen im 2. Sektor. In den Boomjahren 1865-1876 nahmen zahlreiche Fabriken ihren Betrieb auf; die Stickerei wurde zum wichtigsten Exportzweig der Schweiz. Zunächst ersetzte die Handstickmaschine die reine Handarbeit, wobei sich die Zahl der Maschinen von 650 (1865) auf 10'630 (1890) erhöhte. Danach folgte die Umstellung auf die Schifflistickerei mit Motorenantrieb, die auf der technischen Erfindung des Oberuzwiler Webereileiters Isaak Gröbli beruhte. Schliesslich verwendete man durch Lochkarten gesteuerte Automaten. Von den Handstickmaschinen standen 1910 rund 80% bei Einzelstickern. Erst mit dem Übergang zur Schiffli- und Automatenstickerei entstanden Grossbetriebe wie die Feldmühle AG in Rorschach, die 1905 über 1000 Menschen beschäftigte. Im Gegensatz zum Kanton Zürich verharrte St. Gallen in einer für Entwicklungsgebiete typischen Industrieproduktion mit wenig Kapital und vielen unqualifizierten Arbeitskräften. Nur 5% der Beschäftigten im 2. Sektor arbeiteten 1910 in der kapitalintensiven Maschinenindustrie mit hoher Bruttowertschöpfung.

Schifflistickmaschine. Aquarellierte Bleistiftzeichnung im Poesiealbum für Susette Schällibaum aus Ebnat-Kappel, von Anna Barbara (Babeli) Giezendanner, 1891 (Toggenburger Museum, Lichtensteig).
Schifflistickmaschine. Aquarellierte Bleistiftzeichnung im Poesiealbum für Susette Schällibaum aus Ebnat-Kappel, von Anna Barbara (Babeli) Giezendanner, 1891 (Toggenburger Museum, Lichtensteig). […]

Die industrielle Umwälzung wirkte sich nachteilig auf das traditionelle Handwerk aus. Die Schuhmacher zum Beispiel verlegten sich auf die Flickarbeit und den Handel mit gefertigten Schuhen. Ihre Zahl schrumpfte 1870-1910 um 60%. Im Kleider- und Haushaltwarenhandel ersetzten Warenhäuser handwerkliche Massarbeit und Kleinverkauf. Insgesamt profitierte das Gewerbe jedoch vom Wachstum der exportorientierten Textilindustrie, auch wenn der Anteil der Selbstständigen an den Beschäftigten in Gewerbe und Handel zwischen 1888 und 1910 zurückging.

Während die Zahl der im schweizerischen Industriesektor Beschäftigten zwischen 1910 und 1941 um einen Viertel anstieg, sank sie in St. Gallen in derselben Periode um mehr als einen Drittel. Der Erste Weltkrieg, internationale Konkurrenz und neue Modetrends hatten zum Niedergang der Stickerei geführt. Die Exporte verminderten sich von 200 Mio. Franken 1913 auf 12 Mio. Franken 1935. Insbesondere das Rheintal, Fürstenland und Toggenburg litten unter der Krise, während im weniger industrialisierten Südteil das Gewerbe seine Arbeitskräfte halten konnte. Von den rund 45'000 Arbeitsplätzen in der Stickerei um 1910 waren dreissig Jahre später noch 3302 übrig. 1923-1943 legte die Stickerei-Treuhand-Genossenschaft 6688 Handstick- und 1581 Schifflistickmaschinen sowie 1101 Automaten still. Die Industriekrise wirkte sich auf das Handwerk und Gewerbe unterschiedlich aus: Das Baugewerbe sowie Betriebe der Nahrungsmittelverarbeitung, der Bekleidungsbranche und der Wagnerei spürten sie massiv. Umsatzeinbussen verzeichnete auch der Detailhandel.

Der Wirtschaftsboom der Nachkriegszeit erfasste St. Gallen leicht verzögert. Das durchschnittliche nominale Volkseinkommen pro Kopf wuchs 1950-2000 um den Faktor neun, blieb aber immer rund 15% unter dem schweizerischen Mittel. In der entsprechenden Rangliste der Kantone bewegte sich St. Gallen zwischen der 16. und 18. Stelle. Bis 1970 legte der 2. Sektor dank der Textilbranche, der Metallverarbeitung und des Maschinenbaus an Bedeutung zu, dann mündete die Konjunktur in eine weltweite Krise. Die jährlichen Bauinvestitionen, die sich zwischen 1955 und 1973 nominal verneunfacht hatten, schrumpften bis 1977 um rund 600 Mio. Franken auf 1,8 Mrd. Franken. Nach einer nochmaligen Steigerung stagnierte das Auftragsvolumen ab 1989 auf einem hohen Niveau von rund 2,8 Mrd. Franken jährlich. Trotz doppelt so hohen Investitionen beschäftigte das Baugewerbe 2009 eine kleinere Zahl an Arbeitern als 30 Jahre zuvor. In der Textil- und Bekleidungsindustrie, die unter den Druck der Konkurrenz aus Billiglohnländern geriet, sank die Zahl der Arbeitskräfte zwischen 1965 und 2008 von 26'728 auf 2750 Personen. Renommierte Textilfirmen verschwanden oder verlagerten Teile ihrer Produktion nach Osteuropa und China. Mittels Modernisierung des Maschinenparks und Beschleunigung der Produktionsabläufe wurden die Betriebe rationalisiert. Die Alcan Rorschach AG zum Beispiel erarbeitete im Vergleich zu 1974 mit einem um 40% gesenkten Personalbestand 1998 einen doppelt so hohen Umsatz.

Dienstleistungen

Im 3. Sektor fanden um 1870 12% aller Berufstätigen ein Einkommen. Diese Quote stieg kontinuierlich, blieb jedoch stets unter dem Landesmittel. 1980 machte sie 45% aus und erst 1990 übertraf sie diejenige des 2. Sektors. 2009 lag der Wert bei 60%.

Skilift Tannenbodenalp-Chrüz, Flumserberg. Fotografie, um 1948 (Foto Steinemann, Flumserberg).
Skilift Tannenbodenalp-Chrüz, Flumserberg. Fotografie, um 1948 (Foto Steinemann, Flumserberg). […]

Nach Anfängen in den Bade- und Luftkurorten Ragaz (1869) und Amden (ab 1901) wandelte sich der Tourismus im oberen Toggenburg und in der Region Sarganserland-Walensee zum Haupterwerbszweig. 1945 begann im Sarganserland der Skiliftbau; bis 1967 entstanden dort 28 touristische Beförderungseinrichtungen, 1984 waren es mehr als 50. Parahotellerie, die Unterkunft im eigenen Ferienhaus und der aufkommende Tagestourismus ergänzten die traditionellen Angebote. Bis zum Beginn der 1970er Jahre nahmen die Übernachtungen kantonsweit ständig zu, dann folgte ein Einbruch. Nach einer kurzen Erholung in den 1980er Jahren führten internationale Konkurrenz und Kostendruck zu einem neuerlichen Rückgang der Logiernächte, die sich in den 1990er Jahren bei rund einer Million Übernachtungen pro Jahr einpendelten. Kantonsweit bot der Tourismus 2007 rund 4% aller Arbeitsplätze an und erbrachte rund 3% der kantonalen Wertschöpfung.

Im Bankwesen wurden nach ersten Privatbanken wie der 1741 gegründeten Speditionsfirma Zyli (später Wegelin & Co.) bis 1866 22 Sparkassen eröffnet, sodass 1890 auf jede zweite Person in St. Gallen ein Sparheft kam. Als private Aktienbank für Notenausgabe nahm 1837 die Bank in St. Gallen ihren Betrieb auf, bis sie 1907 mit der Schweizerischen Kreditanstalt fusionierte. Während nach dem Vorbild des französischen Crédit Mobilier 1856 als erste Grossbank die Deutsch-Schweizerische Creditbank in St. Gallen tätig wurde, gründeten Landwirtschaft und Gewerbe eine Reihe von Lokalbanken, so 1854 die St. Gallische Creditanstalt mit Sitz in St. Gallen, in Lichtensteig 1863 die Toggenburger Bank, die sich 1912 mit der 1863 gegründeten Bank in Winterthur zur Schweizerischen Bankgesellschaft zusammenschloss, sowie in Uznach 1848 und Rapperswil 1865 eine Leihbank. Die 1868 geschaffene Kantonalbank war die wichtigste Hypothekarbank. Aufgrund der Kapitalknappheit auf dem Land gründeten 1901-1913 dörfliche Honoratioren zahlreiche Genossenschaftsbanken. 1920 eröffnete der Verband Schweizerischer Darlehenskassen (Raiffeisenkassen) in St. Gallen eine eigene Zentralkasse, 1936 verlegte er seinen Zentralsitz nach St. Gallen. Die christlichsoziale Arbeiterbewegung kopierte das System Raiffeisen, und 1905 schlossen sich deren Kassen zur Genossenschaftsbank St. Gallen zusammen.

Im 20. Jahrhundert expandierte das Bankenwesen, bis es nach 1980 unter Rationalisierungsdruck geriet. Bis 2000 halbierte sich die Zahl der regionalen Spar- und Leihkassen. Übernahmen wie diejenige der Sparad, der renommierten Bank der Katholischen Administration, durch die Kantonalbank 1994 beschleunigten den Konzentrationsprozess. Trotzdem stellte die Branche 1985-1998 20% mehr Leute an. St. Gallen wurde zum Bankenzentrum: Der Schweizerische Verband der Raiffeisenkassen mit einer Bilanzsumme von 131,57 Mrd. Franken 2008 baute seinen Zentralsitz erheblich aus, aber auch ausländische Banken wie die Hypo Landesbank Vorarlberg (seit 1997) richteten hier Filialen ein.

In der Versicherungsbranche entstand neben den kantonalen Institutionen wie der 1807 errichteten Gebäudeversicherung 1858 die private Gesellschaft Helvetia Versicherungen, die ab 1861 eine getrennt agierende Feuerversicherung aufbaute. Ab 1863 beteiligte sich die Helvetia an der Schweizerischen Rückversicherungsanstalt.

Der Handel, vor allem der Lebensmittel- und Detailhandel, durchlief ab Mitte der 1960er Jahre einen Strukturwandel. Entlang der neu gebauten Strassen wurden Einkaufszentren eröffnet, unter anderem 1974 der Rheinpark in St. Margrethen, das damals grösste Einkaufszentrum der Ostschweiz. Die Entwicklung hin zu Verkaufs- und Vergnügungsstätten, die mit dem Auto leicht erreichbar sind, bei gleichzeitiger Ausdünnung der Versorgungsstruktur in den Innenstädten und Dörfern hält mit der Errichtung von Fachmärkten und grossen Multiplexkinos an.

Verkehr

Mit der Kantonsgründung 1803 erhielt der Staat die Oberaufsicht über die Strassen, während Bau und Unterhalt Sache der Gemeinden blieben. Die Regierung konzentrierte sich zunächst auf den Ausbau der Fürstenlandstrasse (1808-1811 Kräzerenbrücke über die Sitter). 1821-1822 folgte die Schollbergstrasse, 1824-1828 die Erweiterung der Rheintalstrasse und 1828-1830 die Passstrasse von Gams nach Wildhaus. 1835 umfasste das kantonale Hauptstrassennetz zwölf Strassenzüge von rund 300 km Länge.

Nach einer ersten Zentralisierung während der Helvetik lag die Posthoheit ab 1803 wieder bei den Kantonen. Wie vor der Revolution besorgte das Kaufmännische Directorium – nun für das gesamte Kantonsgebiet – im Auftrag des Staats die Post. Um 1820 wurden regelmässige Eilwagen zur Beförderung von Gütern und Personen eingesetzt.

Arbeiter brechen Steine für den Weissenbachviadukt zwischen Herisau und Degersheim. Fotografie vom 30. September 1908 (Staatsarchiv St. Gallen, BTN 1/1.1-397).
Arbeiter brechen Steine für den Weissenbachviadukt zwischen Herisau und Degersheim. Fotografie vom 30. September 1908 (Staatsarchiv St. Gallen, BTN 1/1.1-397). […]

1824 nahm das mit Dampf angetriebene Postschiff Wilhelm auf dem Bodensee seinen Betrieb auf. Bis 1839 kamen fünf Boote hinzu. Auf dem Zürichsee kreuzte ab 1835 das Dampfschiff Minerva, auf dem Walensee fuhr 1837 das erste Dampfschiff. Die Industrialisierung des Verkehrs erlebte – mit einiger Verspätung – ihren Höhepunkt mit dem Eisenbahnbau. Nach langen Diskussionen wurde 1853 die Strecke Rorschach-Wil in Angriff genommen und 1856 eröffnet. Mit der Fertigstellung der Toggenburger Bahn von Wil nach Ebnat 1870 endete die erste Phase. Um die Stickereifabriken im Toggenburg direkt mit der Handelsmetropole St. Gallen zu verbinden, wurde unter Führung des Degersheimer Unternehmers Isidor Grauer-Frey bis 1910 die Bodensee-Toggenburg-Bahn (seit 2001 Schweizerische Südostbahn) von Romanshorn nach Wattwil gebaut, mit Anschluss an Rapperswil durch den Rickentunnel von 1910. Im Nahverkehr wurde 1897 die erste elektrische Strassenbahn Altstätten-Heerbrugg-Berneck eingeweiht. Die ersten Tramwagen fuhren in St. Gallen.

In der Nachkriegszeit setzte sich der Privatverkehr durch: Wurden 1945 921 Personenwagen gezählt, waren es 2008 232'637. 2008 fielen auf 1000 Personen 493 Autos (im schweizerischen Mittel auf 1000 Personen 517 Autos). Mit dem Anwachsen des Individualverkehrs kam es zum umfassenden Ausbau des Strassennetzes, was sich in den 1950er Jahren mit der Hoffnung auf verbesserte Standortbedingungen verband. Bereits vor Inkrafttreten des Bundesgesetzes über die Nationalstrassen 1960 begann St. Gallen mit dem Bau erster Autobahnabschnitte. 1962 standen die Teilstrecken Mels/Heiligkreuz-Sargans und Sargans-Bad Ragaz bereit. In Etappen folgten die Autobahnen Wil-St. Margrethen (A1) und St. Margrethen-Bad Ragaz (A13) sowie die in St. Gallen liegenden Abschnitte der A3, darunter der Zubringer Schmerikon und die Strecke Murg-Sargans.

Gesellschaft

An der Spitze der Gesellschaft formierte sich bis 1914 eine ökonomisch und konfessionell heterogene, bürgerliche Oberschicht, die sich aus rund 5% der Erwerbstätigen zusammensetzte. Mit fliessenden Grenzen nach oben gehörten gut 20% zum alten Mittelstand aus Handwerkern, Gewerbetreibenden und Bauern. Der sogenannte neue Mittelstand aus Angestellten und Beamten umfasste etwa 10%. Das untere Ende der Sozialpyramide bildeten die 65% lohnabhängigen Arbeiter.

Vorangetrieben wurde die Industrialisierung von einem städtischen und ländlichen Fabrikantentum, deren Mitglieder sich meistens aus der Mittel- und Oberschicht rekrutierten. Der Aufstieg des kleinen Mannes zum Industriellen, wie ihn Matthias Näf schaffte, blieb die Ausnahme. Vorerst lebten die ländlichen Fabrikanten deutlich von den alteingesessenen städtischen Kaufleuten getrennt. Dank gemeinsamer Ausbildung, militärischer Laufbahn und Beziehungen in den Verwaltungsräten wuchsen sie jedoch Ende des 19. Jahrhunderts zu einer Gruppe zusammen, die als Teil des gehobenen Bürgertums die politischen Geschicke prägte.

Nicht Besitz, sondern Bildung ebnete Ärzten, Pfarrern, Juristen, Hochschullehrern und Ingenieuren den Weg in die Elite. 1870 zählte diese Gruppe ca. 2000 Personen, was 3% der Erwerbstätigen entsprach. Ein markanter Aufstieg gelang den Medizinern, die sich 1862 im Ärzteverein organisierten, die universitäre Berufsbildung durchsetzten und 1886 alle anderen Heilpraktiken unter Strafe stellen liessen. Die überwiegend an deutschen Universitäten geschulten Juristen erhielten durch den Aufbau des liberalen Rechtsstaats glänzende Karrierechancen. Unter den 35 zwischen 1848 und 1870 in den National- und Ständerat gewählten Vertretern befanden sich 18 Juristen.

Vom traditionellen Handwerk und Gewerbe lebten um 1800 auf der Landschaft rund 20%, in den Städten etwa 50% der Haushalte. Die durch die liberale Konkurrenzwirtschaft und Industrialisierung gefährdeten Gewerbetreibenden schlossen sich nach 1851 in regionalen Handwerkervereinen zusammen, um den Aufbau einer Fachausbildung und die Schaffung von Handwerkerbanken durchzusetzen.

Trotz der Industrialisierung blieb St. Gallen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine Agrargesellschaft. 1850 versorgten sich im kantonalen Mittel noch 70% aller Familien zum Teil vom eigenen Boden. Die Masse der Kleinbauern – je nach Region 40-80% der Haushalte – stand in einem harten Überlebenskampf. Jede Missernte und jede Verdiensteinbusse drohte die Familien in die Armengenössigkeit zu stürzen. Das Wirtschaftswachstum hob den Lebensstandard der Unterschichten, verschärfte aber die sozialen Gegensätze. Um 1910 lebten im Kanton über 100'000 Arbeiter, rund doppelt so viele wie fünfzig Jahre zuvor. Allerdings hatte sich die Struktur der Arbeiterschaft verändert: Rund ein Drittel der Lohnabhängigen ging 1910 in die Fabrik, um 1870 waren es erst 10% gewesen. Ein Fünftel stickte und fädelte zu Hause. Im Vergleich zur gesamten Schweiz zählte St. Gallen doppelt so viele Heimarbeiter. Die Angestellten und Beamten entwickelten sich erst nach 1880 zu einer eigenständigen sozialen Kategorie. Sie unterschieden sich von den Arbeitern durch einen sichereren Arbeitsplatz, ein festes Salär und einen bescheidenen Ferienanspruch. Nachdem bereits Vorläufer bestanden hatten, organisierte sich 1891 die grösste Gruppe im Kaufmännischen Verein. Neben der beruflichen Bildung erklärte dieser die soziale Besserstellung und Hebung des Standesbewusstseins zu seinen Zielen.

Nach 1945 bildete sich eine breite Mittelstandsgesellschaft. Während sich der Anteil der Selbstständigen halbierte, zählten 1980 zwei Fünftel der Berufstätigen zu den Angestellten. 1990 erfasste die Statistik die Arbeiter mit den unteren Angestellten neu in einer Kategorie. Die Hebung des Wohlstands und die Nivellierung in eine Angestelltengesellschaft ging mit der Auflösung der Arbeiterkultur einher. Die Klassengegensätze, die in der Zwischenkriegszeit in Lebenshaltung und Erscheinungsbild alltäglich sichtbar gewesen waren, flachten unter dem Einfluss eines gesteigerten Konsums ab. Aus den betrieblichen Arbeiterkommissionen, die am Kriegsende die Belange der Lohnabhängigen verfochten hatten, wurden Mitarbeitervertretungen, die den Profit des Unternehmens zu ihrem Ziel erklärten.

Die gesellschaftliche Stellung der Frau änderte sich im nationalen Vergleich nur langsam. Der Anteil der Frauen an den Erwerbstätigen stieg von 30,9% 1950 auf 42,8% 2000, wobei ein grosser Teil der Frauen Teilzeitstellen innehatte. Gemäss der Lohnstatistik von 2008 waren die Unterschiede zwischen Frauen- und Männerlöhnen im schweizerischen Vergleich gross, und die ungelernten Frauen erhielten die tiefsten Löhne. Der Zugang der Frauen zur Verwaltungsarbeit wurde erleichtert. 1998 besetzten sie beim Staatspersonal gleich viele Stellen wie die Männer, doch die Übervertretung der Männer in Führungspositionen bestand fort. 1996 wurden mit Kathrin Hilber und Rita Roos die ersten beiden Frauen in den Regierungsrat gewählt.

Kulturelles und religiöses Leben

Dank den bürgerlichen Freiheitsrechten entstand zu Beginn des 19. Jahrhunderts eine reiche, männerbestimmte Vereinskultur: Getragen von patriotischem Geist schlossen sich als Teil der nationalen Bewegung 1833 die Schützen zum St. Gallischen Kantonalschützenverein, 1866 die Sänger und 1867 die Turner zum Kantonalverband zusammen. Bis nach dem Zweiten Weltkrieg waren die Vereine die Hauptträger des kulturellen und sportlichen Lebens, oft fest verankert in den jeweiligen sozialen und weltanschaulichen Lagern. Das organisatorisch gefestigte katholische Milieu zählte in der Diözese St. Gallen eine Vielzahl von Vereinen, die 1940 über 120'000 Mitglieder einbanden. Parallel zur Aufweichung des katholischen Milieus lösten sich ab den 1950er Jahren die kulturellen Aktivitäten aus dem kirchlichen Bezug und dienten nun der reinen Freizeitbeschäftigung. So sah 1987 der Ostschweizerische Katholische Turn- und Sportverband seine Hauptaufgabe darin, Sport für alle anzubieten.

Raiffeisenplatz St. Gallen. Gestaltung einer Stadtlounge von Pipilotti Rist und Carlos Martinez, 2005 (Fotografie Patrick Füglistaller).
Raiffeisenplatz St. Gallen. Gestaltung einer Stadtlounge von Pipilotti Rist und Carlos Martinez, 2005 (Fotografie Patrick Füglistaller). […]

Bis zum Zweiten Weltkrieg beschränkte sich die öffentliche Unterstützung der Kultur auf Beiträge an die etablierten Kulturinstitute wie das Stadttheater oder den Konzertverein in St. Gallen sowie auf den Ankauf von Werken sankt-gallischer Kunstschaffender. Nach der Ausrichtung von Förderpreisen durch Gemeinden und Private wurde 1985 eine kantonale Kulturstiftung errichtet, die alljährlich im Frühling und Herbst Förderungs- und Anerkennungspreise vergibt. 1995 erhielt St. Gallen als letzter Schweizer Kanton ein Kulturförderungsgesetz.

Nach der Aufhebung der Fürstabtei 1805 entstand 1847 nach langen Auseinandersetzungen das Bistum St. Gallen. Vor dem Hintergrund der antimodernistischen Haltung der Kirche entwickelte sich der St. Galler Katholizismus nach 1850 zu einer starken, konservativen Kraft, welche die Werte der katholischen Kirche loyal vertrat. Allerdings vermieden die drei Bischöfe Carl Johann Greith (1862-1882), Augustin Egger (1882-1906) und Ferdinand Rüegg (1906-1913) die offene Konfrontation mit dem Staat und lehnten extrem ultramontane Positionen ab.

Aus der Ablehnung des Dogmas über den päpstlichen Primat und die päpstliche Unfehlbarkeit 1871 entwickelten sich in Rapperswil, Schänis, Weesen, Walenstadt, Ragaz, Flawil, Lichtensteig und in der Stadt St. Gallen christkatholische Oppositionsbewegungen. Eine dauerhafte Gemeindebildung gelang jedoch nur in der Hauptstadt. 1899 erlangten die Christkatholiken mittels einer Klage ans Bundesgericht die öffentlich-rechtliche Gleichstellung als dritte Landeskirche.

Trotz organisatorischer Stärke und einer alle Lebensbereiche regelnden kirchlichen Alltagskultur löste sich in den 1950er Jahren der Milieukatholizismus langsam auf. Eine neue Epoche der Kirchengeschichte setzte mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962-1965) ein. Bischof Joseph Hasler (1957-1976) stand den Reformen aufgeschlossen gegenüber. Mit der Synode 72 wurden die Konzilsbeschlüsse im Bistum St. Gallen breit abgestützt. Zu den bedeutendsten Folgen gehörte der Durchbruch in der Ökumene. 1972 wurde im Bistum St. Gallen die Arbeitsgemeinschaft christlicher Kirchen gebildet.

An der Spitze der evangelischen Kantonalkirche von 1803 standen die Synode und der Kirchenrat. In der Synode versammelte sich einmal im Jahr die Geistlichkeit, um kirchliche Angelegenheiten zu beraten. Da sich die evangelisch-reformierte Landeskirche dem wissenschaftlichen Zeitgeist anpasste, formierten sich eine Reihe freikirchlicher Bewegungen. 1864 entstand die pietistisch-orthodoxe Evangelische Gesellschaft, 1871 folgte die Methodistenkirche, 1891 die Heilsarmee. Ab 1906 entfaltete der religiös-soziale Kreis, der sozialistische und pazifistische Postulate aufnahm, eine rege Aktivität. Seit der Nachkriegszeit nimmt die Zahl der passiven Kirchenmitglieder in den beiden grossen Landeskirchen erheblich zu.

Sidney Dreifuss, Leiter der jüdischen Flüchtlingshilfe, in seinem Büro an der Teufenerstrasse 10 in St. Gallen. Fotografie, um 1938 (Privatsammlung).
Sidney Dreifuss, Leiter der jüdischen Flüchtlingshilfe, in seinem Büro an der Teufenerstrasse 10 in St. Gallen. Fotografie, um 1938 (Privatsammlung). […]

Nach der Erteilung der Niederlassungsbewilligung gründeten die Juden 1863 in der Stadt St. Gallen eine eigene Gemeinde. Als Versammlungsort dient seit 1881 die Synagoge. Schwer lasteten die Zwischenkriegs- und Kriegsjahre auf der Israelitischen Gemeinde, die sich mit einer antisemitischen Stimmung konfrontiert sah. Als 1938 der Flüchtlingsstrom aus Österreich einsetzte, wurde die Jüdische Flüchtlingshilfe St. Gallen gegründet. Für den Unterhalt und die Weiterreise der Emigranten hatten allein die jüdischen Hilfsorganisationen aufzukommen; 1942 mussten rund 550 Personen betreut werden. 1982 reichte die Gemeinde ein Gesuch um öffentlich-rechtliche Anerkennung ein. 1992 stellte der Grosse Rat die Israelitische Gemeinde rechtlich den anderen anerkannten Religionsgemeinschaften gleich.

Als Folge der Arbeits- und Asylzuwanderung im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts gewannen weitere Religionen an Bedeutung. Im Kanton St. Gallen leben grössere Gruppen von orthodoxen Christen sowie von Muslimen, deren Anteil an der Bevölkerung 2000 6% betrug und die in grösseren Ortschaften, etwa in St. Gallen und Wattwil, eigene Kulturzentren und Beträume betreiben. Die Zahl der Konfessionslosen belief sich 2000 auf knapp 10%.

Quellen und Literatur

  • Archiv für Frauen-, Geschlechter- und Sozialgeschichte Ostschweiz, St. Gallen
  • Archiv Historischer Verein Sarganserland, Sargans
  • Bischöfliches Archiv St. Gallen, St. Gallen
  • Historisches und Völkerkundemuseum St. Gallen, St. Gallen
  • Kantonsbibliothek Vadiana St. Gallen, St. Gallen
  • Museum Prestegg, Altstätten
  • Staatsarchiv St. Gallen, St. Gallen
  • Stadtarchiv Ortsbürgergemeinde St. Gallen, St. Gallen
  • Stadtarchiv Ortsgemeinde Rapperswil-Jona, Rapperswil
  • Stadtarchiv Wil, Wil
  • Stiftsarchiv St. Gallen, St. Gallen
  • Stiftsbibliothek St. Gallen, St. Gallen
  • Textilmuseum St. Gallen, St. Gallen
  • Toggenburger Museum, Lichtensteig
  • Da die einzelnen Gebiete des heutigen Kantons bis 1798 verschiedenen Herrschaften von eidgenössischen Orten angehörten, finden sich Quellen in diversen Staatsarchiven, so das Werdenberger Archiv im Landesarchiv Glarus oder das Archiv der Herrschaft Sax-Forstegg im Staatsarchiv Zürich.
  • Amtsblatt des Kantons St. Gallen, 1803-
  • Urkundenbuch der Abtei Sanct Gallen, 1863-1955
  • Sammlung Schweizerischer Rechtsquellen SG, 1903-
  • Urkundenbuch der südlichen Teile des Kantons St. Gallen 1, bearbeitet von F. Perret, 1961
  • Chartularium Sangallense, hg. von O.P. Clavadetscher, 1983-
Historiografie
  • Die St. Galler Geschichtsschreibung brachte viele Kantonsgeschichten hervor. Es scheint, als ob damit die fehlende gemeinsame Vorgeschichte kompensiert und Identitätsdefizite behoben werden sollten. Bereits kurz nach der Kantonsgründung publizierte der Benediktiner Ildefons von Arx die Geschichten des Kantons St. Gallen (3 Bde., 1810-1830). Diese erste kritische Darstellung blickt auf die Gebiete, vor allem auf die fürstäbtischen Territorien, zurück, die 1803 zum neuen Kanton zusammengefasst wurden. Die von Otto Henne-Am Rhyn verfasste Geschichte des Kantons St. Gallen von seiner Entstehung bis zur Gegenwart (1863) vertritt einen liberalen Standpunkt. Unter den schreibenden Politikern des 19. Jahrhunderts ragt Gallus Jakob Baumgartner mit seiner Geschichte des schweizerischen Freistaates und Kantons St. Gallen (3 Bde., 1868-1890) hervor. Darin widmet er sich den Umwälzungen der Jahre zwischen 1800 und 1850. Zum 100-jährigen Kantonsjubiläum erschien 1903 die vom liberalen Johannes Dierauer geschriebene Politische Geschichte des Kantons St. Gallen 1803-1903. Aus dessen Feder stammt ebenfalls die 1884 veröffentlichte Biografie des ersten Regierungspräsidenten Karl Müller-Friedberg, die auch eine Darstellung der Geschichte des Kantons 1803-1830 bietet. Aus Anlass des 150-jährigen Bestehens kam 1953 der erste Band der von Georg Thürer verfassten St. Galler Geschichte (Bd. 2, 1972) heraus. In Thürers Werk stehen die politischen Ereignisse und die Geistesgeschichte im Zentrum. 2003 erschien aus Anlass des 200-Jahr-Jubiläums die neunbändige Kantonsgeschichte Sankt-Galler Geschichte 2003, die auch Fragestellungen aus der Wirtschafts-, Sozial-, Mentalitäts- und Alltagsgeschichte aufgreift. Die Überblicksbeiträge zu den einzelnen Epochen gehen jeweils am Schluss auf den Stand der Forschung und Literatur ein und verweisen auf Forschungsdesiderate.
Reihen, Bibliografien
  • Neujahrsblatt [St. Gallen], 1861- (1880-2009 mit Bibliografie zum St. Galler Schrifttum)
  • Mitteilungen zur vaterländischen Geschichte, 1862-2007
  • Schriften des Vereins für Geschichte des Bodensees und seiner Umgebung, 1869-1999/2000
  • Rorschacher Neujahrsblatt, 1911-1999
  • Heimatkunde vom Linthgebiet, 1928-1963
  • Beiträge zur st. gallischen Geschichte, 1929-1948
  • Untertoggenburger Neujahrsblätter, 1929-1937
  • Toggenburgerblätter für Heimatkunde, 1938-1999
  • Toggenburger Kalender, 1941-1942 (Toggenburger Heimatkalender, 1943-1949)
  • Unser Rheintal, 1944-
  • Vadian-Studien, 1945-
  • Montfort, 1946-
  • Toggenburger Heimatbuch, 1950-1960
  • Oberberger Blätter, 1963-
  • J. Duft, Das Schrifttum der St. Galler Katholiken 1847-1960, 1964
  • Terra plana, 1970-
  • St. Galler Kultur und Geschichte, 1971-
  • Toggenburger Annalen, 1974-1998
  • St. Galler Linthgebiet, 1978-1987
  • Wil: das Wiler Jahrbuch, 1985-
  • M. Weishaupt, Bibliographie zur Industriegeschichte des Kantons St. Gallen, 1987
  • Werdenberger Jahrbuch, 1988-
  • A. Müller, Das Schrifttum der Landschaft Toggenburg, 1992
  • Monasterium Sancti Galli, 2000-
  • Toggenburger Jahrbuch, 2001-
Allgemeines
  • H. Wartmann, Industrie und Handel des Kantons St. Gallen, 4 Bde., 1875-1913
  • Der Kanton St. Gallen 1803-1903, 1903
  • Die Kunstdenkmäler des Kantons St. Gallen, 1-, 1951-
  • Der Kanton St. Gallen, 1974
  • St. Galler Namenbuch, 1981-
  • Sarganserland 1483-1983, 1982
  • Der Kanton St. Gallen, 1985 (31994)
  • Das Toggenburg, hg. von H. Büchler, 1992 (21993)
  • St. Gallen: Geschichte einer literarischen Kultur, hg. von W. Wunderlich, 2 Bde., 1999
  • Sankt-Galler Geschichte 2003, 9 Bde., 2003
  • D. Studer, Kunst- und Kulturführer Kanton St. Gallen, 2005
Von der Steinzeit bis zum Spätmittelalter
  • P. Staerkle, Beiträge zur spätmittelalterlichen Bildungsgeschichte St. Gallens, 1939
  • R. Sablonier, Adel im Wandel, 1979
  • E. Eugster, Adlige Territorialpolitik in der Ostschweiz, 1991
  • Wirtschaft und Herrschaft, hg. von T. Meier, R. Sablonier, 1999
  • K. Roth-Rubi et al., «Neue Sicht auf die "Walenseetürme"», in Jahrbuch der Schweizerischen Gesellschaft für Ur- und Frühgeschichte 87, 2004, 33-70
  • E. Rigert et al., «Die Epi-Rössener Siedlung von Sevelen SG-Pfäfersbüel», in Jahrbuch der Schweizerischen Gesellschaft für Ur- und Frühgeschichte 88, 2005, 41-86
  • S. Benguerel, «Zur mittel- und spätbronzezeitlichen Besiedlung von Goldach SG-Mühlegut», in Jahrbuch Archäologie Schweiz 89, 2006, 87-135
  • Neujahrsblatt [St. Gallen], 2007 (Themenheft: Bagger, Scherben und Skelette: Neues zur Archäologie im Kanton St. Gallen)
  • F. Rigendinger, Das Sarganserland im Spätmittelalter, 2007
Frühe Neuzeit bis 1798
  • H. Lüthy, Die Tätigkeit der Schweizer Kaufleute und Gewerbetreibenden in Frankreich unter Ludwig XIV. und der Regentschaft, 1943
  • S. Bucher, «Die Pest in der Ostschweiz», in Neujahrsblatt [St. Gallen], 1979, 3-58
  • A. Tanner, Das Schiffchen fliegt, die Maschine rauscht, 1985
  • D. Schindler, Werdenberg als Glarner Landvogtei, 1986
  • S. Sonderegger, Landwirtschaftliche Entwicklung in der spätmittelalterlichen Nordostschweiz, 1994
19. und 20. Jahrhundert
  • L. Pfiffner, Der Verfassungskampf und die Trennungsbewegung des Sarganserlandes im Jahre 1814, 1956
  • O. Voegtle, Der Kanton St. Gallen auf dem Weg zur Verfassung von 1890, 1969
  • Zwischen Kirche und Staat: 175 Jahre Katholischer Konfessionsteil des Kantons St. Gallen, 1813-1988, 1988
  • Stickerei-Zeit, Ausstellungskatalog St. Gallen, 1989
  • F.X. Bischof, C. Dora, Ortskirche unterwegs, 1997
  • M. Jäger, Forschungsprojekt zur Aufarbeitung der Aktenbestände des Staatsarchivs St. Gallen zur Flüchtlings- und Migrationsgeschichte der Jahre 1920 bis 1950, 2000
  • H. Witzig, Polenta und Paradeplatz, 2000
  • Blütenweiss bis rabenschwarz, hg. von M. Widmer, H. Witzig, 2003
  • M. Kaiser, Es werde St. Gallen!, 2003
  • Rheintaler Köpfe, 2004
  • J. Krummenacher, Flüchtiges Glück, 2005
  • S. Schreiber, Hirschfeld, Strauss, Malinsky: jüdisches Leben in St. Gallen 1803 bis 1933, 2006
  • B. Wickli, Politische Kultur und die "reine Demokratie", 2006
  • Grenzüberschreitungen und neue Horizonte: Beiträge zur Rechts- und Regionalgeschichte der Schweiz und des Bodensees, hg. von L. Gschwend, 2007
Weblinks
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Zitiervorschlag

Wolfgang Göldi; Regula Steinhauser-Zimmermann; Alfred Zangger; Max Baumann; Max Lemmenmeier: "St. Gallen (Kanton)", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 11.05.2017. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/007390/2017-05-11/, konsultiert am 16.04.2024.