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Piemont

Italienische Region, die an die Kantone Tessin und Wallis grenzt. Vom Spätmittelalter an dehnte das Herzogtum Savoyen seine Kontrolle schrittweise auf das ganze piemontesische Gebiet aus, zu dem in historisch-geografischer Hinsicht auch das Aostatal zählte. Nach dem Frieden von Utrecht 1713 erwarb das Piemont Alessandria, die Lomellina und das Valsesia sowie mit dem Wormser Vertrag von 1743 das Val d' Ossola. Bis 1748 (Vertrag von Aachen) kam das gesamte Westufer des Lago Maggiore zum Piemont; die Grenze zur Lombardei verlief dem Ticino entlang. Nach der französischen Besetzung unter Napoleon wurde der savoyische Staat mit dem Wiener Kongress und der Annexion der Republik Genua wieder gestärkt; ab 1848 wurde die Region Piemont zur treibenden Kraft im italienischen Risorgimento. Von 1720 bis zur Bildung des Königreichs Italien 1861 gehörte das Piemont zum Königreich Sardinien.

Wirtschaftliche Beziehungen

Ansicht der Brücke von Crevola und des Tals von Domodossola. Kolorierte Aquatinta nach einer Zeichnung von Gabriel Lory (Fils) für den mit Stichen illustrierten Reisebericht Voyage pittoresque de Genève à Milan par le Simplon, der 1811 bei Pierre Didot in Paris erschienen ist (Schweizerische Nationalbibliothek, Bern, Sammlung Gugelmann, GS-GUGE-125-134).
Ansicht der Brücke von Crevola und des Tals von Domodossola. Kolorierte Aquatinta nach einer Zeichnung von Gabriel Lory (Fils) für den mit Stichen illustrierten Reisebericht Voyage pittoresque de Genève à Milan par le Simplon, der 1811 bei Pierre Didot in Paris erschienen ist (Schweizerische Nationalbibliothek, Bern, Sammlung Gugelmann, GS-GUGE-125-134). […]

Die Wirtschafts- und Handelsbeziehungen zwischen dem Piemont und der späteren Eidgenossenschaft begannen schon früh. Vom 12. Jahrhundert an waren sogenannte casane (Banken für Leihgeschäfte gegen Zinsen) aus Chieri und Asti in verschiedenen Schweizer Städten wie Vevey oder Basel präsent, was zeigt, dass die piemontesischen Bankiers (meist Lombarden genannt) an diesem Markt interessiert waren. Aus dem Piemont wurde vor allem Korn und Wein in die eidgenössischen Gebiete, insbesondere ins Wallis und in die ennetbirgischen Vogteien geliefert; umgekehrt importierte Piemont hauptsächlich Vieh, Käse und Holz. Die wichtigsten Transportwege zwischen Piemont und der Eidgenossenschaft führten über den Grossen St. Bernhard, den Simplonpass und folgten dem Langensee und dem Fluss Tessin.

Zwischen dem Piemont und der Eidgenossenschaft sind starke Wanderungsbewegungen nachzuweisen. Schon im 12. und 13. Jahrhundert gelangten Walser aus dem Wallis ins Aostatal, ins Val d'Ossola und ins Valsesia. In jüngerer Zeit kamen Baumeister, Maurer und Steinmetze aus Alagna (Valsesia) in Schweizer Städte, während aus dem Biellese Weber, Schreiner, Holzfäller und Köhler auswanderten (manchmal ganze Dörfer, wie aus den Quellen Ende des 18. Jahrhunderts hervorgeht). Aus dem Tessin zogen unter anderen Chocolatiers des Bleniotals ins Piemont, wo sie im 18. Jahrhundert den savoyischen Hof belieferten. Stukkateure, Baumeister und ausgebildete Architekten aus dem Gebiet des Luganersees (Maestranze) arbeiteten in Turin, ab 1536 Hauptstadt des Herzogtums, und den wichtigsten Zentren des Piemonts an zahlreichen bedeutenden Bauwerken zum Ruhme der savoyischen Dynastie. 1636 erhielten die Schweizer das Recht, eine Korporation (universitas) zu bilden, die Gesellschaft der heiligen Anna, die in der Turiner Kirche San Francesco eine eigene Kapelle "dei Luganesi" besass. Dazu kam die Auswanderung im Solddienst. Mit verschiedenen eidgenössischen Orten wurden zahlreiche Kapitulationen abgeschlossen; 1579-1798 bestand die persönliche Wache des Herzogs von Savoyen aus Schweizern.

Der Eröffnung der Simplonstrasse 1805 und des Eisenbahntunnels 1906, mit dem auch der internationale Bahnhof Domodossola entstand, führten zu einer starken Zunahme des Handelsaustauschs. Eher dem Tourismus diente der 1964 eröffnete Tunnel durch den Grossen St. Bernhard, der als erster transalpiner Strassentunnel Europas zu gleichen Teilen von einer schweizerischen und einer italienischen Gesellschaft mit Beteiligung der Fiat finanziert wurde. Mit der Neat und der Eröffnung des Lötschberg-Basistunnels im Juni 2007 verkürzte sich die Reisezeit zwischen dem Piemont und dem schweizerischen Mittelland beträchtlich.

Seit Mitte des 19. Jahrhunderts liessen sich zahlreiche Schweizer Unternehmer vor allem der Baumwollindustrie im Piemont nieder. Ihre Expansion trug nicht unwesentlich zur Entwicklung der piemontesischen Wirtschaft bei. Zu den wichtigsten Firmen in diesem Sektor gehörten Wild & Abegg (1906-1965 Cotonificio Val di Susa), die später zur bedeutendsten Textilfabrik des Piemont wurde (in der Zwischenkriegszeit ca. 3500 Arbeiter), sowie die Buntweberei und Färberei Cotonificio N. Leumann in Collegno. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts war die Schweiz zudem im Bankensektor stark vertreten, unter anderem mit den Bankhäusern Defernex, Geisser, Deslex, Long und Mestrezat. Auch die 1878 gegründete Brauerei Boringhieri in Turin hatte Schweizer Wurzeln. Giacomo Boringhieri, Erbe des Gründers, war 1933 Schweizer Konsul in Turin; sein Sohn Paolo gründete 1957 das bekannte Verlagshaus Bollati Boringhieri.

Die Auswanderung in die Schweiz ging auch nach der italienischen Einigung ungebrochen weiter. Zwischen 1876 und 1913 kamen über 220'000 Piemontesen auf der Suche nach Arbeit in die Schweiz. In der Zwischenkriegszeit nahm der Zustrom etwas ab, doch nach 1945 stiegen die Zahlen wieder an; prozentual ging jedoch der Anteil der Piemontesen an der italienischen Auswanderung nach dem Zweiten Weltkrieg zurück. 2005 waren über 3700 Grenzgänger aus der Provinz Verbano-Cusio-Ossola im Tessin tätig, über 500 zudem im Wallis.

Politische und kulturelle Beziehungen

Trotz des Friedens von Latinasca 1267 und verschiedenen späteren Abkommen kam es im 13. und 14. Jahrhundert immer wieder zu Konflikten zwischen den Bischöfen von Sitten und Novara über die Kontrolle der Alpenpässe vom Wallis ins Val d'Ossola. Die Expansionsabsichten der Eidgenossen, insbesondere der Walliser, blieben aber erfolglos. 1487 schlugen Milizen Ludovico Sforzas die Truppen Josts von Silenen, des Bischofs von Sitten. Nach der Schlacht von Marignano 1515 wurden die Eroberungspläne endgültig begraben.

Enge Kontakte bestanden zwischen den Waldensern des Piemonts und den reformierten Orten, die häufig als Vermittler zwischen ihren Glaubensbrüdern und den Landesherren auftraten. Nach der Aufhebung des Edikts von Nantes 1685 und auf Druck Frankreichs verbot der Herzog von Savoyen den reformierten Kultus 1686. Ein Jahr später wies er die Waldenser aus, von denen rund 3000 an das schweizerische Ufer des Genfersees flüchteten. Unter der Führung von Henri Arnaud kehrten einige Hundert 1689 in ihre Täler zurück. Diese Heimkehr ging als glorieuse rentrée in die Geschichte ein.

Im Risorgimento spielte die Schweiz eine wichtige Rolle für Politiker des Piemonts: Viele von ihnen flohen bei den Aufständen von 1821, 1833-1834 und 1848 über die Grenze. So verbrachte Giuseppe Mazzini insgesamt mehrere Jahre in der Schweiz, von wo aus er unter anderem 1834 den erfolglosen Savoyerzug organisierte. Camillo Cavour, der ab 1852 an der Spitze der piemontesischen Regierung stand, hielt sich 1827 und 1829 in Genf auf; seine Mutter Adèle de Sellon war Genferin.

Nach der Kriegserklärung an Österreich und dem lombardischen Aufstand im März 1848 bot das Königreich Sardinien der Schweiz ein Bündnis an. Die Mehrheit der Tagsatzung lehnte dieses Gesuch jedoch ab, weil sie das fragile Gleichgewicht der Eidgenossenschaft nach dem Ende des Sonderbundskriegs nicht gefährden und die Neutralität nicht verletzen wollte. Mitte April und Anfang Juli 1848 kontaktierten die Piemontesen General Guillaume-Henri Dufour und trugen ihm den Oberbefehl gegen die Österreicher an. Dufour beschränkte sich jedoch auf zwei Eingaben vom 25. Juli und 2. August an den savoyischen Kriegsminister Giacinto Provana di Collegno.

Auch auf kultureller Ebene bestanden Beziehungen. Vincenzo Vela war 1856-1867 Professor für Bildhauerkunst an der Accademia Albertina in Turin. Zahlreiche Schweizer studierten an der Universität Turin vor allem Jurisprudenz. Nach dem Waffenstillstand zwischen der Regierung Badoglio und den Alliierten 1943 wurde die Schweiz erneut zum Zufluchtsort für Piemontesen, so auch für den späteren italienischen Staatspräsidenten Luigi Einaudi. Nach dem Sturz der kurzlebigen Partisanenrepublik Ossola (September-Oktober 1944) kamen wieder viele Flüchtlinge ins Wallis und ins Tessin. Ab 1990 bzw. 1995 wurde im Rahmen des transeuropäischen Förderprogramms Interreg sowie der Arbeitsgemeinschaft Regio Insubrica die grenzüberschreitende Zusammenarbeit zwischen dem Piemont und der Schweiz intensiviert.

Quellen und Literatur

  • G. Bonnant, Svizzeri in Italia, 1848-1972, 1972
  • V. Castronovo, Il Piemonte, 1977, 63-79, 137-146
  • R. Ceschi, Storia della Svizzera italiana dal Cinquecento al Settecento, 2000
  • I Savoia, hg. von W. Barberis, 2007
  • F. Chiapparino, R. Romano, Il cioccolato, 2007, 15-22
Weblinks
Normdateien
GND

Zitiervorschlag

Roberto Leggero; Martin Kuder: "Piemont", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 07.05.2015, übersetzt aus dem Italienischen. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/007097/2015-05-07/, konsultiert am 28.03.2024.