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Judenstempel

Der Judenstempel diente der von den deutschen Behörden im Oktober 1938 nach Verhandlungen mit der Schweiz in diskriminierender Absicht eingeführten Markierung der Pässe von deutschen Juden. Nach dem Anschluss Österreichs im März 1938 schwoll die Zahl der Flüchtlinge, vor allem der jüdischen, aus dem Reich in die Schweiz und in andere Länder an, was in der Schweiz die Vorbehalte gegenüber ihnen verstärkte. Am 1. April 1938 führte der Bundesrat die Visumspflicht für österreichische Pässe ein. Nachdem die Konferenz von Evian im Juli 1938 keine internationale Lösung der Flüchtlingsfrage gebracht hatte, wollte die Schweiz nur noch Emigranten einreisen lassen, wenn sie die nötigen Papiere zur Weiterreise besassen. Die deutschen Behörden weigerten sich aber, in den deutschen Pässen zu vermerken, wer als Emigrant nicht mehr nach Deutschland zurückreisen durfte, da sie ihre Beraubungs- und Vertreibungspolitik nicht behindern wollten.

Als per 15. August die österreichischen Staatsangehörigen deutsche Pässe erhielten, kündigte die Schweiz am 30. August vorsorglich den Niederlassungsvertrag von 1926 mit Deutschland und beschloss auf Vorschlag des Chefs der Eidgenössischen Fremdenpolizei, Heinrich Rothmund, die Visumspflicht für alle deutschen Staatsangehörigen ab 1. Oktober einzuführen. Die deutschen Behörden befürchteten, dass andere Staaten dem Schweizer Vorbild folgen könnten und damit der Reiseverkehr mit dem Ausland eingeschränkt würde. In Verhandlungen am 2. September in Bern und vom 27. bis 29. Septemberin Berlin schlugen sie vor, nur die Pässe der deutschen Juden zu kennzeichnen. Der schweizerische Delegationsleiter Rothmund äusserte gegenüber dem Bundesrat rechtliche und ethische Bedenken gegen Massnahmen, die ausschliesslich gegen Juden gerichtet waren. Aus wirtschaftlichen und aussenpolitischen Gründen akzeptierte der Bundesrat jedoch am 4. Oktober den deutschen Vorschlag und widerrief die Einführung der Visumspflicht, worauf Deutschland sofort zur Kennzeichnung der jüdischen Pässe schritt. Weitere Länder wie Schweden übernahmen die schweizerisch-deutsche Regelung. Die aus Reziprozitätsgründen im Protokoll vorgesehene Kennzeichnung der Pässe schweizerischen Juden wurde von der Schweiz nie umgesetzt.

Reisepass eines 1916 in Budapest geborenen deutschen Studenten, ausgestellt am 24. Februar 1939 vom deutschen Generalkonsulat in Zürich (Archiv für Zeitgeschichte, ETH Zürich, NL Wilhelm Frank / 2.1).
Reisepass eines 1916 in Budapest geborenen deutschen Studenten, ausgestellt am 24. Februar 1939 vom deutschen Generalkonsulat in Zürich (Archiv für Zeitgeschichte, ETH Zürich, NL Wilhelm Frank / 2.1).

Der Judenstempel wurde nach dem Krieg zur Chiffre für die schweizerische Flüchtlingspolitik. 1954 warf der «Der Schweizerische Beobachter» Rothmund vor, er habe den Judenstempel erfunden. Daraufhin beauftragte der Bundesrat Carl Ludwig, die Flüchtlingspolitik der Schweiz zu untersuchen. In der Debatte um die Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg Ende der 1990er Jahre war der Judenstempel erneut ein kontrovers diskutiertes Thema. Die Bemühungen um Klärung der historischen Sachlage zeigten, dass der Judenstempel zwar von deutscher Seite vorgeschlagen und eingeführt wurde, der Bundesrat jedoch mit der Annahme der antisemitisch motivierten, bilateralen Vereinbarung eine Mitverantwortung trug (Antisemitismus).

Quellen und Literatur

  • DDS 12
  • D. Bourgeois, «La porte se ferme: la Suisse et le problème de l'immigration juive en 1938», in Relations internationales 54, 1988, 181-204
  • J.-M. Kernen, «L'origine du tampon "J": une histoire de neutres», in SZG 50, 2000, 45-71
  • G. Kreis, Die Rückkehr des J-Stempels, 2000
  • Veröff. UEK 17, 97-113
Weblinks

Zitiervorschlag

Marco Jorio: "Judenstempel", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 10.03.2015. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/049159/2015-03-10/, konsultiert am 28.03.2024.