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Volksrechte

Als Volksrechte werden diejenigen Rechte bezeichnet, die den Bürgerinnen und Bürgern ermöglichen, in politischen Sachfragen abschliessend mitzubestimmen (Abstimmungen). Sie sind Teil der politischen Rechte und bilden den Kern der direkten Demokratie. Die Volksrechte gewähren dem Volk die Möglichkeit, einerseits selbst Vorschläge zur Revision von Verfassungs- und Gesetzesbestimmungen zu machen (Volksinitiative), andererseits über Parlamentsbeschlüsse im Nachhinein abzustimmen (Referendum). Sie erweitern somit die indirekte, sich auf die Wahl von Personen beschränkende Demokratie. Die direkte Demokratie ist kein Gegensatz zur indirekten Demokratie, enthält doch jede direkte Demokratie moderner Prägung auch ein Parlament als entscheidende, wenn auch nicht immer abschliessend entscheidende legislative Institution.

Die Volksrechte sind ein Ensemble, das je nach Staatsebene (Gemeinde, Kanton, Bund) und regionalen Traditionen unterschiedlich dicht und fein ausgebildet ist. Auf eidgenössischer Ebene umfassen die Volksrechte das obligatorische Verfassungsreferendum (seit 1848), das fakultative Gesetzesreferendum (seit 1874), die Verfassungsinitiative (seit 1891), das Staatsvertragsreferendum (seit 1921, erweitert 1977, 2003) sowie die in ihrer Bedeutung umstrittene und wieder abgeschaffte allgemeine Volksinitiative (2003-2009). In allen Kantonen wurden überdies die Gesetzesinitiative und eine Form des Finanzreferendums eingeführt, einzelne Kantone kennen auch noch das obligatorische Gesetzesreferendum. Im Zuge des Ausbaus der Volksrechte im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts kamen das konstruktive Referendum (Kanton Bern, Nidwalden) hinzu, ebenso die Volksmotion (Kanton Solothurn). Im Kanton Zürich besteht seit 1869 auch die Einzelinitiative (das Recht eines einzelnen Stimmbürgers, eine Initiative einzureichen). Umfang und Ausgestaltung der Volksrechte, namentlich die für eine Volksinitiative oder ein Referendum benötigten Unterschriftenzahlen, werden in den Verfassungen (Bundesverfassung, Kantonsverfassungen) geregelt und können folglich immer nur mit der Zustimmung der Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger verändert werden.

In den Wissenschaften werden Bedeutung und Charakter der Volksrechte ebenso unterschiedlich bewertet wie in der Politik. So gibt es beispielsweise in der Ökonomie eine heftige Kontroverse. Während die Zürcher und die St. Galler Schule betonen, dass direktdemokratische Gemeinwesen mit den öffentlichen Geldern haushälterischer umgehen als indirektdemokratische, sieht die Basler Schule in den Volksrechten Hemmnisse für den Fortschritt und eine kohärente Politik. Ähnliche Differenzen gibt es unter Politikwissenschaftlern und Staatsrechtlern.

Auswirkungen auf die politische Kultur

Die Volksrechte stellen keine rein schweizerische Errungenschaft dar. Zwar können einzelne Aspekte der Volksrechte auf alteidgenössische Traditionen wie die Landsgemeinde oder das Bündner Gemeindereferendum zurückgeführt werden. Doch verdanken die modernen Volksrechte den Erfahrungen der britischen Kolonien in Nordamerika vor bzw. den amerikanischen Staaten nach der Amerikanischen Revolution (1763-1789) sowie den ersten, nie in Kraft getretenen Verfassungen der Französischen Revolution von 1793 und 1794 mindestens ebenso viel. In der Schweiz gelangten die Volksrechte im Wesentlichen mit der demokratischen Bewegung ab den 1860er Jahren zum Durchbruch, einzelne wurden in den Kantonen schon in der Regeneration (Gesetzesveto in St. Gallen 1831, Basel-Landschaft ab 1832) oder durch die gegen die Regeneration gerichteten Volksbewegungen 1839-1841 (Gesetzesveto in Luzern 1841) Volksrechte eingeführt.

Auf eidgenössischer Ebene, in fast allen Kantonen und vielen Gemeinden (knapp einem Fünftel) werden die Volksrechte an der Urne ausgeübt, zu Beginn des 21. Jahrhunderts immer mehr auf dem Korrespondenzweg (in den Städten zu fast 80%). Das Urnensystem stellt eine besondere Qualität der modernen direkten Demokratie dar, weil bei ihm das Stimmgeheimnis gewahrt wird. Die nur in kleinräumigen Verhältnissen praktikable Versammlungsdemokratie mit offener Abstimmung hat sich in den Kantonen Appenzell Innerrhoden und Glarus sowie in der Mehrheit der Gemeinden (besonders in kleineren Gemeinden der Deutschschweiz) und einigen überkommunalen Körperschaften (Bezirksgemeinden im Kanton Schwyz) erhalten.

Die Volksrechte haben, zusammen mit dem Föderalismus, die politische Kultur der Schweiz bis hin zu ihrem Regierungssystem (Bundesrat, Zauberformel) geprägt. Bürgerinnen und Bürger einer direkten Demokratie sind nicht nur passiv Betroffene, Objekte oder Konsumenten der Politik, sondern auch aktive Subjekte, deren Produzenten. Sie sind alle auch politische Akteure und wollen von den gewählten Politikerinnen und Politikern entsprechend behandelt werden. In einer direkten Demokratie mit mehreren Sachabstimmungen pro Jahr muss denn auch viel mehr diskutiert werden als in einer indirekten Demokratie, in der bloss alle vier Jahre gewählt wird. Im Vordergrund stehen nicht Personen und ihre Parteien und deren umfassende Programme, sondern die politische sachbezogene Diskussion. Entsprechend sind viele Bürgerinnen und Bürger besser informiert über politische Angelegenheiten. Gesellschaftliche Lernprozesse können von allen, nicht nur von den Regierungen und Parlamentariern angestossen werden. Gewiss sind auch direkte Demokratien nicht frei von Politikverdrossenheit (Stimm- und Wahlbeteiligung), Demagogie oder Populismus; entscheidend auch für die weltweit zunehmende Verbreitung der Volksrechte in den letzten drei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts dürfte aber sein, dass in einer direkten Demokratie die entsprechenden Gefahren kleiner sind und mehr Bürgerinnen und Bürger sich direkt dagegen wehren können.

Qualität der direkten Demokratie

Die Qualität einer mit Volksrechten ausgestatteten Demokratie hängt davon ab, wie die Schnittstelle zwischen direkter und indirekter Demokratie, d.h. das Zusammenspiel von Parlament, Regierung und der sich mittels der Volksrechte ausdrückenden aktiven Bürgerinnen und Bürger gestaltet ist. Dabei ist entscheidend, wer eine Volksabstimmung auslösen darf: eine bestimmte Anzahl von Bürgerinnen und Bürgern, die Mehrheit eines Parlamentes oder der Staatspräsident. In letzterem Fall – wie vor allem in Frankreich und in einigen der jüngeren Demokratien Osteuropas, in denen das Volksrecht «Volksabstimmung» von der Zustimmung einer gewählten Instanz abhängig ist – sollte nicht von einer direkten, sondern von einer plebiszitären Demokratie gesprochen werden. In ihr haben Volksentscheide oft den Charakter von ad hoc ausgelösten Plebisziten und sind meist nicht frei von politischen Manipulationen im Interesse der regierenden Parteien oder Personen.

Fast ebenso wichtig für die Güte der Volksrechte ist die Regelung, wie ein rechtskräftiger Entscheid zustande kommt. In der Schweiz entscheidet immer die Mehrheit der Stimmenden; bei Verfassungsrevisionen auf Bundesebene muss zum Volksmehr aus föderalistischer Rücksicht noch die Mehrheit der Kantone (Ständemehr) hinzukommen, wobei auch dort die Mehrheit der Stimmenden entscheidet, in welchem Lager sich ihr Kanton befindet. Demgegenüber haben sich in Staaten, deren Eliten mehr Distanz zum Volk haben, spezielle Mehrheitserfordernisse eingebürgert, welche Funktion und Wirkung der direktdemokratischen Instrumente beeinträchtigen. So ist in den Volksabstimmungen in Italien, in einigen deutschen Bundesländern und osteuropäischen Demokratien ein Mehrheitsbeschluss nur dann rechtskräftig, wenn er von einer Mehrheit der Stimmberechtigten und nicht nur von einer Mehrheit der Stimmenden getragen wird. Weil die Gegner einer Revision mit der Parole der Nichtbeteiligung operieren können, wirken solche Verfahren oft konfliktverschärfend, statt dass sie zur Versachlichung der politischen Auseinandersetzung beitragen. In der Schweiz haben die Volksrechte, besonders das Referendum, die Entwicklung einer intensiven, aber zivilisierten Konfliktkultur gefördert (Konkordanzdemokratie).

Ausstrahlung der Schweiz

In keinem Land sind die Volksrechte so früh, so umfassend und in einer alle Ebenen der Politik prägenden Form ausgestaltet worden wie in der Schweiz. Propagiert und verwirklicht wurden sie nicht von den regierenden Mehrheiten, sondern von unterschiedlichen Oppositionsbewegungen, die sich in den herrschenden Institutionen untervertreten fühlten. Diese Präsenz der Volksrechte in der Schweiz und deren Verankerung in der Bevölkerung strahlte schon früh auch auf andere Staaten aus. So bezogen sich die nordamerikanischen Populisten und Progressiven zwischen 1890 und 1914 immer wieder auf das schweizerische Vorbild, als sie in 20 Bundesstaaten vor allem im Westen der USA Initiativ- und Referendumsrechte erkämpften (Direct Legislation by the people). Anfang des 20. Jahrhunderts wurden schweizerische Erfahrungen mit den Volksrechten auch in Australien und im Norden Europas, in der Zwischenkriegszeit in den baltischen Staaten, in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auch in Uruguay aufgenommen. Nach dem Zweiten Weltkrieg bezogen sich die beiden Väter der neuen bayerischen Landesverfassung, Wilhelm Hoegner und Hans Nawiasky, explizit auf ihre Erfahrungen im schweizerischen Exil, als sie auf Landesebene das Volksinitiativrecht verankerten. Als in den 1990er Jahren junge Bayern dieses Landesrecht nutzten, um endlich auch auf kommunaler Ebene Bayerns die direkte Demokratie einzurichten, wurden sie wiederum von zahlreichen Schweizern unterstützt. Dies gilt auch für den erstmaligen Versuch, ein Volksrecht auf supranationaler Ebene zu verankern: Ohne inspirierende Arbeiten verschiedener Schweizer wäre es nicht zu jenem Artikel 46 im Entwurf für einen europäischen Verfassungsvertrag des Europäischen Konvents gekommen, der einer Million Europäerinnen und Europäern künftig das Recht gibt, die europäische Gesetzgebung ebenso zu beeinflussen wie das Europäische Parlament. Doch nicht überall, wo es die Volksrechte gibt, herrscht die gleiche direktdemokratische Kultur. So sind die Volksrechte in 25 US-Bundesstaaten heute weit antiparlamentarischer und gleichsam konfrontativer ausgestaltet als in der Schweiz. Das Parlament hat fast keine Gelegenheit zur Debatte über die Initiative oder für einen Gegenvorschlag (sogenannte direkte Initiative, weil sie mehr oder weniger direkt zur Volksabstimmung gelangt); entsprechend lähmen sich direkte und indirekte Demokratie mehr als dass sie einander befruchten und ergänzen. Hingegen müssen in Kalifornien – im Unterschied zur Schweiz – die für Volksinitiativen und Referenden eingesetzten finanziellen Mittel offen gelegt werden, was der Transparenz und Fairness förderlich ist.

Quellen und Literatur

  • S. Möckli, Direkte Demokratie, 1994
  • A. Auer, Die Ursprünge der schweiz. direkten Demokratie, 1996
  • Wieviel direkte Demokratie verträgt die Schweiz?, hg. von S. Borner, H. Rentsch, 1997
  • M. Schaffner, «Direkte Demokratie», in Eine kl. Gesch. der Schweiz, hg. von M. Hettling et al., 1998, 189-226
  • A. Trechsel, Feuerwerk Volksrechte, 2000
  • E. Grisel, «Les droits populaires au niveau cantonal», in Verfassungsrecht der Schweiz, hg. von D. Thürer et al., 2001, 397-411
  • O. Mazzoleni, B. Wernli, Cittadini e politica, 2002
  • T. Schiller, Direkte Demokratie: Eine Einführung, 2002
  • A. Gross, Die unvollendete Demokratie, 2004
  • A. Kölz, Neuere schweiz. Verfassungsgesch. 2, 2004.
Weblinks

Zitiervorschlag

Andreas Gross: "Volksrechte", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 27.12.2014. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/048664/2014-12-27/, konsultiert am 19.03.2024.