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Körpergeschichte

Der menschliche Körper war in der klassischen Historiografie (Geschichte) ab dem 19. Jahrhundert kein Thema, sondern eine zugleich vollständig implizite als auch ahistorisch vorgestellte Voraussetzung der handelnden Subjekte. In der älteren deutschen Kulturgeschichte und in jener der französischen Schule der Annales erschien er zwar zuweilen im Zusammenhang mit der Geschichte von Geburt, Krankheit, Sterben und Tod sowie der Ernährung und der Sexualität. Aber erst seit den 1980er Jahren, im Zuge der «anti-essentialistischen» feministischen Theorie (Geschlechtergeschichte), des französischen Poststrukturalismus und der neohistoristischen Kulturgeschichte, geriet der Körper selbst unter Historizitätsverdacht: Er erschien nicht länger als vor jeder Geschichte gegeben, sondern auch abgesehen von seiner biologischen Evolution als Produkt der historischen Entwicklung.

Diese Wende manifestierte sich in der Geschichtsschreibung in dreifacher Weise. Erstens fand der Körper als ein seit dem Hochmittelalter nachweisbarer privilegierter metaphorischer Bedeutungsträger für politische und gesellschaftliche Verhältnisse Beachtung. Dabei erwies sich, wie sehr die Ordnung der Gesellschaften der frühen Neuzeit und des Ancien Régime in statischen Bildern des Körpers – wie im Bild des Gekreuzigten oder in der in öffentlichen Sektionen sichtbar gemachten anatomischen Ordnung des Körpers – repräsentiert wurden. In der Moderne dagegen wurden sprachliche und visuelle Bilder von leistungsfähigen und gesunden, oder aber von kranken und «degenerierten», dabei jeder Transzendenz beraubten Körpern zu politischen Leitmetaphern. Deutlich wurde überdies, wie sehr vor allem in der Moderne Herrschaftsverhältnisse und insbesondere das Verhältnis von Regierenden zur «Masse» durchgängig nach dem Muster einer geschlechtsstereotypischen Polarisierung (Geschlechterrollen) imaginiert wurden.

Zweitens führte vor allem die feministische Forschung und die (sozial-)konstruktivistische Wissenschaftsgeschichte den Nachweis, dass naturwissenschaftliche Aussagen über die Biologie des Körpers und speziell über Eigenarten und Differenz der Geschlechter von historisch wandelbaren Aussage- und Repräsentationssystemen abhingen. Dabei gerieten Annahmen über «die» Natur des Menschen noch «vor» jeder Geschichte als Leerformeln unter Ideologieverdacht. Damit lösten sich insbesondere die überkommenen Vorstellungen von in der Biologie verankerten «rassischen» und sexuellen Identitäten als unhinterfragte Voraussetzungen historischer Analyse weitgehend auf. Gleichzeitig kam die Debatte in Gang, ob «hinter» den Konstruktionen von Körper und Geschlecht ein in der Moderne verdrängter authentischer, eigentlicher Körper liege, den die Körpergeschichte wieder ans Licht bringen soll, oder ob die Rede von einem Jenseits der Konstruktion und damit von einer «ursprünglichen» Erfahrung des Körpers nicht vielmehr leer sei.

Drittens hat die Historisierung des Körpers zur Frage geführt, wie Körper in der Geschichte nicht nur unterschiedlich repräsentiert, sondern im Rahmen bestimmter Macht- bzw. Wissensdispositive als je verschiedene hervorgebracht, ja hergestellt wurden. Vor allem im Anschluss an die Arbeiten des Philosophen Michel Foucault fragt die Körpergeschichte auf dieser Ebene nach den Formungen des individuellen Körpers durch eine nicht als repressiv, sondern als produktiv gedachte Macht etwa in Disziplinaranstalten, aber auch zum Beispiel im Hygienediskurs (Hygiene) und dessen Praktiken (Sozialdisziplinierung). Damit verknüpft werden Fragen der sogenannten Biopolitik, d.h. der Regulierung von Bevölkerungen unter dem in der Moderne neuen biologistischen Zeichen des sogenannten Volkskörpers mit seinen rassistischen und eugenischen Implikationen (Eugenik). Die Forschung zur Körpergeschichte in der Schweiz ab den 1990er Jahren fokussierte sich hauptsächlich auf die Geschichte der eugenischen und rassistischen Differenzdiskurse im frühen 20. Jahrhundert, auf die Geschichte der Geschlechterdifferenz und die Geschichte der Hygiene.

Quellen und Literatur

  • M. Foucault, Überwachen und Strafen, 1976 (franz. 1975)
  • M. Foucault, Der Wille zum Wissen, 1977 (franz. 1976)
  • E. Fischer-Homberger, Krankheit Frau und andere Arbeiten zur Medizingesch., 1979
  • G. Heller, "Propre en ordre", 1979
  • T.W. Laqueur, Making Sex, 1990
  • A. de Baecque, Le corps de l'histoire: métaphores et politique (1770-1800), 1993
  • P. Sarasin, Reizbare Maschinen, 2001
  • Quel corps?: eine Frage der Repräsentation, hg. von H. Belting et al., 2002
  • T. Huonker, Diagnose: "moralisch defekt", 2003
  • Histoire du corps, hg. von A. Corbin et al., 3 Bde., 2005-06
Weblinks

Zitiervorschlag

Philipp Sarasin: "Körpergeschichte", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 19.02.2015. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/048380/2015-02-19/, konsultiert am 12.04.2024.