MichelineCalmy-Rey

8.7.1945 Sitten, katholisch, von Chermignon. Unternehmerin, Genfer Staatsrätin, sozialdemokratische Bundesrätin.

Bundespräsidentin Micheline Calmy-Rey während der Dreharbeiten für die Fernsehrede zum 1. August auf der Rütliwiese. Fotografie vom 21. Juli 2007 (KEYSTONE / Urs Flüeler, Bild 41174000).
Bundespräsidentin Micheline Calmy-Rey während der Dreharbeiten für die Fernsehrede zum 1. August auf der Rütliwiese. Fotografie vom 21. Juli 2007 (KEYSTONE / Urs Flüeler, Bild 41174000). […]

Micheline Rey wuchs als älteste von drei Töchtern des Lehrers Charles Rey und der Hausfrau Adeline geborene Fournier im Kanton Wallis auf. Ihr Vater arbeitete später als Kondukteur und Zugchef bei den Schweizerischen Bundesbahnen (SBB), war Gewerkschafter und Gemeinderat in Saint-Maurice und hatte die örtliche Sozialdemokratische Partei (SP) mitgegründet. Ihre Schwester Eliane Rey war liberale Gemeinderätin und später Stadträtin von Lausanne sowie Mitglied der Finanzkontrolle des Kantons Waadt. Micheline Rey heiratete 1966 den in Bukarest geborenen, jüdischstämmigen André Calmy, der 1952 nach Genf gekommen war. Das Paar hat zwei Kinder.

Nach bestandener Handelsmatura 1964 in Sitten studierte Micheline Calmy-Rey Politikwissenschaften am Institut universitaire de hautes études internationales in Genf (1968 Lizenziat). Ende der 1970er Jahre bis 1997 leitete sie mit ihrem Mann das im Buchvertrieb tätige Unternehmen Careco SA in Lancy. 1979 trat sie der SP Genf bei, die sie 1986-1990 und 1993-1997 präsidierte, und sass für diese 1981-1997 im Grossen Rat, 1992-1993 als Präsidentin. Eine erste Kandidatur für die Genfer Kantonsregierung scheiterte 1993; nach einer rein bürgerlich besetzten Legislaturperiode gelang ihr 1997 als zweite Frau überhaupt die Wahl in den Staatsrat, den sie nach ihrer Wiederwahl 2001 bis 2002 präsidierte. Als Vorsteherin des Finanzdepartements setzte sie sich für die Modernisierung der staatlichen Verwaltungsinstrumente ein (integrierte Finanzbuchhaltung) und beaufsichtigte die Rettung der Genfer Kantonalbank, die wegen der Immobilienkrise der 1990er Jahre vom Konkurs bedroht war. 1994-1997 sass Calmy-Rey im Verwaltungsrat des Flughafens Genf.

Nachdem Ruth Dreifuss ihren Rücktritt aus dem Bundesrat bekannt gegeben hatte, nominierte die SP Micheline Calmy-Rey und die Freiburger Staatsrätin Ruth Lüthi für deren Nachfolge, während die Schweizerische Volkspartei (SVP) den SP-Sitz mit dem Zürcher Nationalrat Toni Bortoluzzi angriff. Micheline Calmy-Rey konnte sich am 4. Dezember 2002 im fünften Wahlgang mit 131 gegen 68 Stimmen bei einem absoluten Mehr von 100 Stimmen gegen ihre Parteikollegin durchsetzen und zog als vierte Frau und zweite Genfer Sozialdemokratin in den Bundesrat ein. Ihr gelang 2003 und 2007 die Wiederwahl; 2007 und 2011 amtierte sie als Bundespräsidentin.

Interview mit Bundesrätin Micheline Calmy-Rey nach der Referendumsabstimmung über den Bundesbeschluss zur Assoziierung an Schengen und an Dublin in der Hauptausgabe der Tagesschau 19:30 des Fernsehens der französischen Schweiz vom 5. Juni 2005 (Radio Télévision Suisse, Genf, Play RTS). 
Interview mit Bundesrätin Micheline Calmy-Rey nach der Referendumsabstimmung über den Bundesbeschluss zur Assoziierung an Schengen und an Dublin in der Hauptausgabe der Tagesschau 19:30 des Fernsehens der französischen Schweiz vom 5. Juni 2005 (Radio Télévision Suisse, Genf, Play RTS). 

Bei Amtsantritt übernahm Calmy-Rey das Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) und beerbte damit Joseph Deiss. Ihre gegenüber der Europäischen Gemeinschaft (EG; Europäische Union, EU) verfolgte Annäherungspolitik mündete im Oktober 2004 in der Unterzeichnung der Bilateralen II. Nur gegen die Abkommen von Schengen und Dublin wurde das fakultative Referendum ergriffen, das der Bundesrat dank der von Calmy-Rey geführten Kampagne bei der Volksabstimmung 2005 jedoch für sich entscheiden konnte. Ebenso gewann sie die Abstimmungen über die Ausdehnung des Personenfreizügigkeitsabkommens auf die neuen Mitgliedstaaten der EG (2005, 2009) und das Bundesgesetz über die Zusammenarbeit mit den Staaten Osteuropas (Kohäsionsmilliarde, 2006). Darüber hinaus entwickelte sie die Grundsätze einer öffentlichen Diplomatie und aktiven Neutralität, in deren Rahmen sich die Schweiz klarer für Frieden und Menschenrechte positionierte und ihre Sichtbarkeit auf der internationalen Bühne verstärkte (Aussenpolitik), was vom bürgerlichen Lager kritisiert wurde. Sie trug zur Schaffung des UNO-Menschenrechtsrats 2006 mit Sitz in Genf bei und gab den Anstoss für ein Beitrittsgesuch der Schweiz zum UNO-Sicherheitsrat. Im Einsatz für die Gleichstellung förderte Calmy-Rey unter anderem die diplomatischen Karrieren von Frauen. An der sogenannten Genfer Initiative, einem im Dezember 2003 unterzeichneten, jedoch nicht umgesetzten, alternativen Friedensplan zur Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts, arbeitete sie massgeblich mit. Als Hannibal Gaddafi, Sohn des libyschen Machthabers Muammar al-Gaddafi, 2008 in Genf verhaftet wurde, sah sich Calmy-Rey in einen Streit mit Libyen verwickelt, der dazu führte, dass die Schweizer Max Göldi und Rachid Hamdani von der libyschen Regierung als Geiseln genommen und erst 2010 wieder freigelassen wurden. Ebenfalls 2008 unterzeichnete sie anlässlich eines Besuchs im Iran einen Gasvertrag, was angesichts der Krise um das iranische Atomprogramm zu heftiger Kritik aus dem In- und Ausland führte. Während ihrer Amtszeit setzte sie sich zudem für weitere wichtige internationale Dossiers ein, wie den Dialog zwischen Nord- und Südkorea 2003, den Konflikt zwischen Israel und der libanesischen Hisbollah 2008, die Beziehungen zwischen der Türkei und Armenien 2009 sowie die Anerkennung der Unabhängigkeit des Kosovo im gleichen Jahr. Sie amtierte als Vorsitzende des Ministerkomitees des Europarats von November 2009 bis Mai 2010 und der Ministerkonferenz der Frankofonie 2010-2011.

Micheline Calmy-Rey verkündete im September 2011 ihren Rücktritt aus dem Bundesrat. 2012 wurde sie Gastprofessorin am Global Studies Institute der Universität Genf, wo sie Global Governance und Schweizer Aussenpolitik unterrichtet. Die International University in Geneva verlieh ihr 2012 die Ehrendoktorwürde. Calmy-Rey präsidierte 2012-2016 die Martin-Ennals-Stiftung sowie seit 2020 die Gobat-Stiftung für den Frieden und gehört seit 2019 dem Stiftungsrat der Geneva Science and Diplomacy Anticipator an.

Alt Bundesrätin Micheline Calmy-Rey gibt in der Hauptausgabe der Tagesschau 19:30 des Fernsehens der französischen Schweiz vom 8. Juni 2022 Auskunft über die Vorgeschichte und ihre Haltung zum Beitritt der Schweiz zum UNO-Sicherheitsrat, den sie während ihrer Amtszeit angestossen hatte (Radio Télévision Suisse, Genf, Play RTS).
Alt Bundesrätin Micheline Calmy-Rey gibt in der Hauptausgabe der Tagesschau 19:30 des Fernsehens der französischen Schweiz vom 8. Juni 2022 Auskunft über die Vorgeschichte und ihre Haltung zum Beitritt der Schweiz zum UNO-Sicherheitsrat, den sie während ihrer Amtszeit angestossen hatte (Radio Télévision Suisse, Genf, Play RTS).

Quellen und Literatur

  • Calmy-Rey, Micheline: Die Schweiz, die ich uns wünsche, 2014 (französisch 2014).
  • Calmy-Rey, Micheline; Rauch, Svenja: «The art and science of negotiation. De-politicizing and technicizing negotiations», in: Kireyev, Alexei; Osakwe, Chiedu (Hg.): Trade Multilateralism in the Twenty-First Century. Building the Upper Floors of the Trading System through WTO Accessions, 2017, S. 55-69.
  • Calmy-Rey, Micheline: Pour une neutralité active. De la Suisse à l’Europe, 2021 (Le savoir suisse, 151).
Weblinks
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VIAF

Zitiervorschlag

Paulos Asfaha: "Calmy-Rey, Micheline", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 12.01.2023, übersetzt aus dem Französischen. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/045202/2023-01-12/, konsultiert am 29.03.2024.