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Soziale Bewegungen

Soziale Bewegungen sind Netzwerke von Gruppen und Personen, die durch kollektive Aktionen gegen herrschende Zustände antreten mit der Absicht, einen sozialen Wandel herbeizuführen. Auch wenn soziale Bewegungen mitunter Organisationen einschliessen, haben sie keine formellen Mitglieder. Aufgrund ihres geringen Organisationsgrades können sie sich selbst nur in begrenztem Umfang kontrollieren und strategisch handeln. Folglich initiieren oder verhindern sie eher Entwicklungen, als dass sie Neuerungen durchsetzen. Im Idealfall durchlaufen soziale Bewegungen mehrere Phasen: von der Lancierung eines neuen Konflikts und der Herausbildung charismatischer Anführer, über die Thematisierung in der Öffentlichkeit, der Ausarbeitung von Alternativen und Etablierung des Anliegens, bis zum Übergang zu festen Organisationen oder zur Auflösung der eigenen Bewegung angesichts ihres Erfolgs. Die hohe Motivation der beteiligten Personen zeichnet soziale Bewegungen besonders aus.

Mit dem Bundesstaat von 1848 und dem Durchbruch der bürgerlichen Gesellschaft entstanden ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts soziale Bewegungen, die sich vor allem vor dem Hintergrund sozialer Konflikte zwischen grösseren sozialen Gruppen herausbildeten. In den 1860er Jahren kämpften in der demokratischen Bewegung das kleinstädtische und ländliche Bürgertum, ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in der Arbeiterbewegung die Arbeiter gegen die Interessen des Grossbürgertums um politische Einfluss und die Besserstellung ihrer Lebensverhältnisse. In den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhundert setzte sich auch die Frauenbewegung vernehmbarer für die soziale, politische und zivilrechtliche Besserstellung der Frauen ein. Ebenfalls zu den alten sozialen Bewegungen zählt die ab den 1920er Jahren aktive Bauernheimatbewegung.

Pfingstmarsch gegen die Lagerung radioaktiver Abfälle in Lucens, 1978 (Schweizerisches Nationalmuseum, Actualités suisses Lausanne).
Pfingstmarsch gegen die Lagerung radioaktiver Abfälle in Lucens, 1978 (Schweizerisches Nationalmuseum, Actualités suisses Lausanne). […]

Wirtschaftlicher Aufschwung und politische Stabilität im Zeichen des Kalten Krieges bildeten in den 1950er und 1960er Jahren den gesellschaftlichen Rahmen für die Entstehung der ersten sogenannten neuen sozialen Bewegungen wie die Antiatombewegung mit ihrem Kampf gegen die Atombewaffnung der Schweizer Armee, die Friedensbewegung (Pazifismus) und die Umweltschutzbewegung, die sich vor allem in der Opposition gegen Wasserkraftwerke formierte (Ökologische Bewegung). Auch die Überfremdungsbewegung (Fremdenfeindlichkeit) erhielt angesichts des Unbehagens vor der beschleunigten Modernisierung Auftrieb. In der Jurafrage weitete sich der Widerstand der Jurassier gegen den Kanton Bern ebenfalls zu einer sozialen Bewegung aus. Im Zug der Achtundsechziger-Bewegung (Jugendunruhen) trugen unterschiedlichste soziale Bewegungen neue Themen in die politische Debatte. Die neue Frauenbewegung, allen voran die Frauenbefreiungsbewegung, focht gegen die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung und für das Selbstbestimmungsrecht über den eigenen Körper, die Dritte-Welt-Bewegung (Dritte Welt) machte auf das Nord-Süd-Gefälle aufmerksam, die Anti-AKW-Bewegung trat gegen den Bau von Kernkraftwerken an.

Zentrale Elemente aller neuen sozialen Bewegungen waren die Forderung nach Mitbestimmung und der Gebrauch neuer politischer Protestformen. Die Palette reichte dabei von lustvoll inszenierten Demonstrationen, über spektakuläre Massenproteste, bis hin zu kalkulierten Gewaltakten. Eine wichtige Rolle für den Erfolg der Bewegungen spielten die Massenmedien, vor allem das Fernsehen, welche die neuen Themen einer breiten Bevölkerung bewusst machten. Allerdings bereitete die Rezession in den 1970er Jahren der Aufbruchstimmung vieler sozialen Bewegungen ein jähes Ende. Wer bis zu diesem Zeitpunkt seine Anliegen nicht einbringen und umsetzen konnte, blieb mit seinen Forderungen auf der Strecke. Zwar gingen von den Jugendunruhen zu Beginn der 1980er Jahre einige Impulse für die Jugendpolitik aus, da aber deren Protagonisten keinen politischen Dialog führten, fand auch keine Mobilisierung wie noch 1968 statt. In den letzten Jahrzehnten rief vor allem die Kritik an der Globalisierung auch in der Schweiz eine Protestbewegung hervor.

Quellen und Literatur

  • Neue soziale Bewegungen – und ihre gesellschaftl. Wirkungen, hg. von M. Dahinden, 1987
  • H. Kriesi, «Öffentlichkeit und soziale Bewegungen in der Schweiz - ein Musterfall?», in Lebensverhältnisse und soziale Konflikte im neuen Europa, hg. von B. Schäfers, 1993, 576-585
  • M. Giugni, Entre stratégie et opportunité, 1995
  • M. Giugni, F. Passy, Histoires de mobilisation politique en Suisse, 1997
Weblinks

Zitiervorschlag

Manuela Ziegler: "Soziale Bewegungen", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 07.11.2012. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/043688/2012-11-07/, konsultiert am 19.03.2024.