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Wirtschaftliche Landesversorgung

Die wirtschaftliche Landesversorgung als staatliche Sicherstellung der Versorgung mit lebenswichtigen Gütern und Dienstleistungen in schweren Mangellagen lässt sich bis ins Spätmittelalter zurückverfolgen. Die klimatisch und topografisch wenig begünstigte, aber schon früh relativ übervölkerte Schweiz war in unterschiedlichem Mass auf Importe von Nahrungsmitteln (Getreide, Salz, Wein) und Rohstoffen (Metalle) angewiesen. Die Versorgungspolitik der eidgenössischen Orte galt besonders der Versorgung mit Getreide (Kornpolitik) und Salz, die sie mit Vorratshaltung, Produktionslenkung, mit Lieferzusagen in Verträgen (z.B. Mailänder Kapitulate) und nicht zuletzt mit territorialer Expansion (z.B. Aargau, Waadt) zu sichern suchte. Zur Hebung des Selbstversorgungsgrades förderten die Stände den Bergbau (Eisen, Kohle), den Salzabbau (Bern in Bex) und im 18. Jahrhundert im Rahmen des Merkantilismus den Aufbau der Textilindustrie. In Zeiten gestörter Zufuhr griffen die Behörden zu Ausfuhrsperren, zu Verhandlungen um Einfuhrbewilligungen (z.B. mit dem Schwäbischen Reichskreis) und beschafften oft selbst die fehlenden Güter. So liess der St. Galler Fürstabt Beda Angehrn im Hungerwinter 1770-1771 ägyptisches Korn aus Venedig über die Bündner Pässe in sein Land bringen.

Auf eidgenössischer Ebene wurden die Behörden erstmals am Anfang des 19. Jahrhunderts während der Kontinentalsperre mit Versorgungsengpässen bei Baumwolle und Kolonialwaren konfrontiert. Nach 1815 waren wieder die einzelnen Kantone für die wirtschaftliche Landesversorgung verantwortlich: So schloss der Kanton Tessin 1818 mit Österreich einen Vertrag, der es ihm erlaubte, auch bei geschlossener Grenze jährlich 70'000 Moggi (Tessiner Malter) Getreide sowie Salz aus Mailand einzuführen. Als aber 1853-1854 die österreichischen Behörden trotzdem eine Ausfuhrsperre gegen das Tessin verhängten, ergriffen die Bundesbehörden zum ersten Mal Massnahmen im Bereich der wirtschaftlichen Landesversorgung. Der Deutsch-Französische Krieg (1870-1871) bewirkte nur kurzfristig Mangelerscheinungen und Teuerung bei Kohle, Eisen, Petrol und Kolonialwaren sowie Störungen im Transport- und Währungswesen. Eisenbahn und Dampfschiff förderten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die internationale Arbeitsteilung und verstärkten im Zuge der Industrialisierung die Auslandabhängigkeit: In der Schweiz verschwand der Bergbau fast völlig, und die Vieh- und Milchwirtschaft verdrängte den Getreidebau. In den 1870er Jahren wurde die Frage der Brotversorgung vor allem von der Arbeiterschaft aufgegriffen. Das Militärdepartement kaufte 1891 300 Wagen Getreide für die Armee und stockte die Vorräte sukzessive auf 2500 Wagen auf. Trotz des wirtschaftsliberalen Credos liess der Bundesrat ab 1912 auf Druck der Armeespitze und der Öffentlichkeit auch kleine Getreidevorräte für die Zivilbevölkerung anlegen. Im Frühjahr 1914 schloss er mit Deutschland und Frankreich Verträge, um die Einfuhr von Getreide und Kohle nach der Mobilmachung sicherzustellen.

Die ungenügenden Vorbereitungen stürzten die Schweiz unmittelbar nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs (1914-1918) ins Chaos. Die Kriegswirtschaft musste improvisiert aufgebaut werden: Bereits 1914 entstand im Militärdepartement das eidgenössische Büro für Getreideversorgung (später Brotamt), das ab September 1918 als eidgenössisches Ernährungsamt direkt dem Bundesrat unterstand und 1922 in der neuen Eidgenössischen Getreideverwaltung aufging (seit 1993 im Bundesamt für Landwirtschaft). Im Volkswirtschaftsdepartement entstanden diverse Ämter, so das Milchamt und 1918 das Amt für industrielle Kriegswirtschaft. Ab 1915 verschärften die Krieg führenden Staaten den Handelskrieg, der auch die neutrale Schweiz mit einbezog. Um die wirtschaftliche Landesversorgung sicherzustellen, musste die Schweiz zulassen, dass die Zentralmächte über die Schweizerische Treuhandstelle für Überwachung des Warenverkehrs und die Entente über die Société suisse de surveillance économique den Aussenhandel der Schweiz kontrollierten. Wegen stockender Zufuhren führte der Bundesrat im Januar 1915 das von der Linken seit langem geforderte Getreidemonopol des Bundes ein (mit der Pflicht zur Vorratshaltung). Mit Einschränkungen aller Art, Kontingentierungen und Anbaumassnahmen, um den niedrigen Selbstversorgungsgrad von 45-50% zu erhöhen, versuchte der Bundesrat, die Rationierung abzuwenden, die er aber Anfang 1917 doch einführen musste (1920 aufgehoben).

Plakat von Hans Erni zur Mehranbauaktion des Verbands schweizerischer Konsumvereine und der Konsumgenossenschaften, 1939 (Schweizerische Nationalbibliothek, Bern).
Plakat von Hans Erni zur Mehranbauaktion des Verbands schweizerischer Konsumvereine und der Konsumgenossenschaften, 1939 (Schweizerische Nationalbibliothek, Bern).

Nach dem Ersten Weltkrieg verfolgten die Behörden nur die Sicherstellung der Getreideversorgung weiter. Das Volk lehnte 1926 die Beibehaltung des Getreidemonopols ab, stimmte 1929 aber der Wiedereinführung in abgeschwächter Form zu (Bundesgesetz vom 7. Juli 1932). In den 1930er Jahren nahm der Bund die wirtschaftliche Landesversorgung energischer an die Hand: 1937 schuf das Militärdepartement eine Sektion für Kriegswirtschaft, das Volkswirtschaftsdepartement ernannte einen Delegierten für Kriegswirtschaft. Am 1. April 1938 trat das Bundesgesetz zur Sicherstellung der Landesversorgung in Kraft, das dem Bundesrat bereits in Friedenszeiten, vor allem aber in unsicheren Zeiten und bei unmittelbarer Kriegsgefahr umfangreiche Kompetenzen gab. Im Zweiten Weltkrieg stützte sich der Bundesrat bei der im Gegensatz zum Ersten Weltkrieg besser vorbereiteten wirtschaftlichen Landesversorgung nicht auf das neue Bundesgesetz, sondern auf den Vollmachtenbeschluss. Mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln der Kriegswirtschaft (Rationierung, Anbauschlacht, Aufbau der Hochseeflotte, Handelsverträge) gelang es ihm, die wirtschaftliche Landesversorgung einigermassen sicherzustellen. Koordiniert wurde sie durch eine Reihe neuer Ämter, so 1939-1947 durch das eidgenössische Kriegsernährungsamt (mit zehn Sektionen) unter Minister Ernst Feisst.

1947 erhielt der Bundesrat mit den Wirtschaftsartikeln die Kompetenz, bei Kriegsgefahr in die Handelsfreiheit einzugreifen. Angesichts der Globalisierung der Wirtschaftsbeziehungen erwies sich das Sicherstellungsgesetz von 1938 als untauglich, da es auf die unmittelbare Bedrohung der Schweiz durch einen Krieg im benachbarten Ausland ausgerichtet war. Als während des Koreakriegs (1950-1953) Rohstoffe in der Schweiz knapp wurden, beschloss das Parlament weiter gehende, befristete Massnahmen. 1955 trat ein neues Bundesgesetz über die wirtschaftliche Kriegsvorsorge in Kraft, welches das Schwergewicht auf die Vorratshaltung durch die Wirtschaft legte (sogenannte Pflichtlager). Zwischen 1956, als während der Suezkrise Erdölprodukte knapp geworden waren, und 1973 kam es zu keinen namhaften Störungen der wirtschaftlichen Landesversorgung. Weltweit knapp wurden 1973 Reis und 1974 Zucker, worauf die Pflichtlager teilweise freigestellt wurden. Besonders aber die durch den Nahostkrieg ausgelöste Erdölkrise von 1973 brachte die Bestätigung, dass die wirtschaftliche Landesversorgung zu einseitig auf Konflikte in Europa ausgerichtet war und Zufuhrstörungen aufgrund von Boykotten, Erpressung, Missernten und Streiks nicht ausreichend begegnen konnte. Deshalb wurde die wirtschaftliche Landesversorgung bereits 1973 in die Gesamtverteidigungskonzeption (Sicherheitspolitik) eingebettet und 1974 durch den Beitritt der Schweiz zur internationalen Energieagentur vernetzt. 1980 erhielt sie eine neue Verfassungsgrundlage und am 1. September 1983 trat das Bundesgesetz über die wirtschaftliche Landesversorgung vom 8. Oktober 1982 in Kraft, das im Wesentlichen auf Vorratshaltung (Pflichtlager, Haushaltsvorrat), Bewirtschaftung (Kontingentierung, Rationierung) und Sicherstellung von Dienstleistungen (Transporte, Arbeitskräfte) basiert. Daneben haben Raumplanung (Festlegung von Fruchtfolgeflächen ab 1983) und Agrarpolitik dafür zu sorgen, dass innerhalb dreier Jahre die landwirtschaftliche Produktion auf mehr pflanzliche Nahrungsmittel umgestellt und der Selbstversorgungsgrad (1994 ca. 60%) erhöht werden kann.

Die neue Lage in Europa nach 1989, die zu einer Neudefinition der schweizerischen Sicherheitspolitik führte, die Auswirkungen der europäischen Integration und die Kostenfrage bewirkten ab den 1990er Jahren eine Neuorientierung der wirtschaftlichen Landesversorgung. Die Pflichtlager wurden von einer Bedarfsdeckung von acht bis zwölf Monaten eines Normalverbrauchs auf rund sechs Monate gesenkt. Dadurch reduzierten sich die von den Konsumenten getragenen Kosten von 795 Mio. (1990) auf 116 Mio. Franken (2010). 1998 wurde der Getreideartikel von 1929 aufgehoben und durch eine bis Ende 2003 geltende Übergangsregelung ersetzt. An der Spitze der wirtschaftlichen Landesversorgung steht ein nebenamtlicher Delegierter für wirtschaftliche Landesversorgung. Ihm sind das Bundesamt für wirtschaftliche Landesversorgung (2012 ca. 35 Mitarbeiter) sowie sieben im Milizsystem geführte Ämter mit rund 300 Kaderleuten aus Wirtschaft und Verwaltung unterstellt. Auf kantonaler und kommunaler Ebene sind weitere Personen nebenamtlich für die wirtschaftliche Landesversorgung tätig. 2013 wurde die Revision des Landesversorgungsgesetzes von 1982 eingeleitet.

Quellen und Literatur

  • M. Redli, Der Pflichtlagervertrag, 1953
  • Wirtschaftl. Landesvorsorge im Rahmen der Sicherheitspolitik, hg. von P. Stähly, 1983
  • A. Achermann-Knoepfli, Das Bundesgesetz über die Wirtschaftliche Landesversorgung., 1990
  • M. Cottier, Gesch. der Wirtschaftlichen Landesversorgung seit Gründung des Bundesstaates, 2011
Weblinks

Zitiervorschlag

Andreas Bellwald-Roten; Marco Jorio: "Wirtschaftliche Landesversorgung", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 03.02.2015. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/042887/2015-02-03/, konsultiert am 28.03.2024.