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Vitudurum

Als römischer Vicus interpretierte Siedlung und Kastell in Oberwinterthur, politische Gemeinde Winterthur (ZH). Der Vicus wurde kurz vor Christi Geburt nahe ergiebiger Quellen und an einem prähistorischen Verbindungsweg vom Genfer- an den Bodensee (Arbor Felix, Brigantium) erbaut. In seiner Nähe zweigte vermutlich eine nach Norden führende Strasse (Ad Fines, Tasgetium) ab.

Nach ersten Ausgrabungen 1841 und 1853 erfolgten 1934 Sondierungen im Kastell Vitudurum und in der nächsten Umgebung. Der Neubau des Kirchgemeindehauses von Oberwinterthur löste 1949-1951 eine Notgrabung aus. 1957-1959 folgten Forschungsgrabungen im Bereich von Vicus und Kastell sowie ab 1960 weitere Ausgrabungen, zum Beispiel 1967-1969 an der römischen Strasse am nordöstlichen Ende des Vicus, 1976 bei der reformierten Kirche St. Arbogast und 1977-1982 auf dem Unteren Bühl im Westquartier des Vicus. Zwischen 1979 und 2010 wurden alle Bauvorhaben im Bereich des römischen Vicus überwacht und über 50 Rettungsgrabungen durchgeführt; bedeutend sind das 2002 in der Flur Bätmur erforschte früh- bis hochmittelalterliche Siedlungsareal (7.-12. Jh.) und die Ausgrabung 2006-2009 am Kastellweg. Im Bereich des Vicus wurden Siedlungsreste der Jungsteinzeit, der frühen und spätesten Bronzezeit sowie Grabreste der mittleren Bronzezeit und der jüngeren Eisenzeit freigelegt.

Die römischen Holzbauten von Vitudurum wurden dendrochronologisch in die Zeit um 4 v.Chr. datiert. 7 n.Chr. bauten die Römer den Verbindungsweg im Raum Oberwinterthur zu einer Strasse aus. Ausgehend vom Siedlungszentrum am Kirchhügel entstand Anfang des 1. Jahrhunderts ein Strassendorf, das sich, bei unterschiedlicher Breite, über eine Länge von etwa 500 m erstreckte und verschiedene insulae aufwies. Die offene Siedlung mit Blütezeit im 1. und 2. Jahrhundert wurde Ende des 3. Jahrhunderts durch ein Kastell abgelöst, indem man das ehemalige Siedlungszentrum auf dem Kirchhügel mit einer Mauer umgab. Eine Inschrift von 294 belegt diese Anlage mit dem Namen Vitudurum.

Schuhleisten aus Ahornholz, 1. Jahrhundert n.Chr. (Kantonsarchäologie Zürich; Fotografie Martin Bachmann).
Schuhleisten aus Ahornholz, 1. Jahrhundert n.Chr. (Kantonsarchäologie Zürich; Fotografie Martin Bachmann). […]

Ein aus Mauerwerk aufgeführter Tempel im Zentrum war im 1.-2. Jahrhundert umgeben von einem heiligen Bezirk, den Thermen, drei Wohnhäusern und einem Gebäude mit öffentlichem Charakter. Gegenüber, bergseits der Strasse, befanden sich weitere grössere Steinbauten. Nach Südwesten hin lag ein Wohn- und Gewerbequartier (Unteres Bühl), dessen Häuser ausschliesslich aus Holz oder Lehmfachwerk bestanden. Hier waren in den luftdicht abgeschlossenen feuchten Bodenschichten an verschiedenen Stellen die Erhaltungsbedingungen für organische Materialien sehr günstig: Neben Korbfragmenten, Lederresten und Holzobjekten blieben auch Schwellbalken und weitere Teile der Hauskonstruktionen erhalten. Über eine hölzerne Quellfassung und über Teuchel wurde Frischwasser in verschiedene Häuser geleitet. Aufwendig gebaute und zum Teil sorgfältig überdeckte Holzkanäle dienten der Abwasserentsorgung. Zwei mit dem Südwestteil vergleichbare Häuserzeilen erstreckten sich gegen Nordosten. Ähnliche Erhaltungsbedingungen gab es nördlich des Kirchhügels (Kastellweg), wo auf 2000 m2 weitere Wohn- und Ökonomiegebäude (neben Bauten aus Holz auch ein Steinbau), Ab- und Frischwasserleitungen sowie Latrinen vom 1. bis ins 3. Jahrhundert nachgewiesen sind. Wegen der Brandgefahr und als immissionsreiche Gewerbe waren an den Siedlungsrändern im Westen und Osten im 1. und 2. Jahrhundert mindestens 14 Töpferöfen sowie im Südwesten und Nordosten Gerbereien angesiedelt. Einzelne Dauben der sechs in den Boden eingelassenen Bottiche einer Gerberei des 1. Jahrhunderts tragen Stempel und Graffiti. Zu den zahlreichen Einzelfunden, ebenfalls vorwiegend aus dem 1. Jahrhundert, gehören auch hölzerne Schreibtafeln mit Schriftzügen, Keramikfragmente mit Namensresten und ein Paar römische Schuhleisten.

Quellen und Literatur

  • Geschichte des Kantons Zürich 1, 1995, 78-81
  • Die Schweiz vom Paläolithikum bis zum frühen Mittelalter 5, 2002, 403-404
  • Tabula rasa, Ausstellungskatalog Frauenfeld und Zürich, 2002
  • T. Pauli-Gabi et al., Ausgrabungen im Unteren Bühl, 2 Bde., 2002
  • M. Roth, R. Windler, «Zum früh- und hochmittelalterlichen Oberwinterthur», in Jahrbuch der Schweizerischen Gesellschaft für Ur- und Frühgeschichte 87, 2004, 215-253
  • V. Jauch, Römisches Handwerk im vicus Vitudurum-Oberwinterthur, 2008
  • R. Frei-Stolba, Holzfässer: Studien zu den Holzfässern und ihren Inschriften im römischen Reich mit Neufunden und Neulesungen der Fassinschriften aus Oberwinterthur/Vitudurum, 2017

Zitiervorschlag

Andreas Zürcher: "Vitudurum", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 27.12.2014. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/035885/2014-12-27/, konsultiert am 29.03.2024.