StefanoFranscini

23.10.1796 Bodio, 19.7.1857 Bern, katholisch, von Bodio. Publizist, Gelehrter mit grossen autodidaktisch erworbenen Kenntnissen in Statistik, politischer Ökonomie und Pädagogik, Tessiner Staatsrat, radikaler Bundesrat.

Stefano Franscini um 1850. Bleistift und Kohle auf Papier von Vincenzo Vela, 1862, 40,8 x 30,7 cm (Museo Vincenzo Vela, Ligornetto, Ve1294; Fotografie Mauro Zeni).
Stefano Franscini um 1850. Bleistift und Kohle auf Papier von Vincenzo Vela, 1862, 40,8 x 30,7 cm (Museo Vincenzo Vela, Ligornetto, Ve1294; Fotografie Mauro Zeni). […]

Stefano Franscini war das älteste Kind der Bauersleute Giacomo Franscini und Regina Orlandi und wuchs zusammen mit seinen Geschwistern Annunziata und Luigi in bescheidenen Verhältnissen in Bodio auf. Im März 1824, kurz bevor er Mailand verliess, wo er studiert und gearbeitet hatte, heiratete er Teresa Massari, die mit der gemeinsamen Tochter Guglielma schwanger war. Teresa war die Tochter des Wirts Alessio Massari und der Giuseppa Proserpio. Das Paar hatte drei weitere Kinder, die jedoch im Säuglingsalter verstarben. 1831 Witwer geworden, heiratete Franscini 1836 seine Schwägerin Luigia Massari, mit der er bereits einen Sohn hatte und dem während der Ehe weitere acht Kinder folgten. Teresa wie Luigia, beide Lehrerinnen, unterstützten ihn bei seiner Unterrichtstätigkeit und als Schulleiter. Das Privatleben Franscinis war von Sorgen geprägt: Er musste nicht nur den Verlust seiner Mutter als Siebenjähriger und später den seiner ersten Frau bewältigen, sondern hatte auch mit den psychischen Störungen seines Sohns Camillo zu kämpfen. Der Unterhalt seiner grossen Familie war oft schwierig und die Armut drückend.

Franscini kam als einziger der Familie in den Genuss einer Schulbildung. Er besuchte den kostenlosen Unterricht des Pfarrers von Personico, wo er Italienisch und etwas Latein lernte. 1808 trat er, dank eines Schulgelderlasses, ins Knabenseminar von Pollegio ein, wo er eine gymnasiale Ausbildung durchlief. 1815 erhielt er einen unentgeltlichen Studienplatz am erzbischöflichen Seminar in Mailand, den er aber 1818 aufgab, da er sich nicht zum Priestertum berufen fühlte. Er blieb in Mailand, wo er, auch dank seines Freundes Carlo Cattaneo, die Bibliotheken für seine Studien in Nationalökonomie, Geschichte, Pädagogik und vor allem der Statistik nutzte. Insbesondere die Werke von Melchiorre Gioia prägten ihn.

Seinen Lebensunterhalt verdiente Franscini mit Privatunterricht und ab 1820 als Lehrer an einer höheren Grundschule. Hier knüpfte er Freundschaften mit dem Schulleiter Francesco Cherubini und seinem Kollegen und späteren Schwager Giovanni Massari. In Mailand liess er auch seine ersten Texte drucken, darunter 1821 die Grammatica inferiore della lingua italiana, die mehrfach neu aufgelegt wurde. Nach dem Tod seiner Schwester 1824 kehrte er nach Bodio zurück und kümmerte sich um die Angelegenheiten seiner verschuldeten und zerstrittenen Familie. Ab 1826 in Lugano, leitete er dort eine Lancasterschule und gründete zusammen mit seiner Frau Teresa eine Mädchenschule sowie das Istituto letterario mercantile. Auch im Tessin war er publizistisch tätig und schrieb für die Gazzetta Ticinese Artikel über Geschichte, Volkswirtschaft und Statistik, in denen er sich als Gegner des autoritären und österreichfreundlichen Regimes von Landammann Giovanni Battista Quadri positionierte. 1828 (statt, wie auf der Titelseite angegeben, 1827) erschien eines seiner Hauptwerke, die Statistica della Svizzera, die sofort auf Deutsch übersetzt wurde und ihn in wissenschaftlichen Kreisen bekannt machte. Zwischen 1829 und 1830 folgte die Istoria della Svizzera del popolo svizzero, eine italienische Übertragung in zwei Bänden der 1822 erschienenen Des Schweizerlands Geschichte für das Schweizervolk von Heinrich Zschokke. Diese Übersetzungsarbeit – seiner spärlichen Deutschkenntnisse wegen von der französischen Version Charles Monnards ausgehend – hatte er Jahre zuvor in Zusammenarbeit mit Carlo Cattaneo in Angriff genommen, nachdem sie 1821 eine Reise in die wirtschaftsstärksten Kantone der Schweiz unternommen hatten.

Stefano Franscini, Statistica della Svizzera, Giuseppe Ruggia e Comp., Lugano 1827 (ETH-Bibliothek, Zürich, Rar 6174; DOI: 10.3931/e-rara-24137).
Stefano Franscini, Statistica della Svizzera, Giuseppe Ruggia e Comp., Lugano 1827 (ETH-Bibliothek, Zürich, Rar 6174; DOI: 10.3931/e-rara-24137). […]

Nachdem Franscini mit einigen kritischen Schriften zur Verfassungsreform des Kantons Tessin von 1830 beigetragen hatte, nahm die Politik den Vertreter der radikal-liberalen Bewegung (Freisinnig-Demokratische Partei) immer mehr in Anspruch. Zunächst Abgeordneter des Kreises Giornico, übernahm er im Oktober 1830 das Amt als Tessiner Staatssekretär, das er bis zu seiner Wahl in den Staatsrat im Mai 1837 innehatte. Gleichwohl gab er seine herausgeberische und kämpferische journalistische Tätigkeit nicht auf und arbeitete weiterhin mit den führenden liberalen Blättern wie L'Osservatore del Ceresio und Il Repubblicano della Svizzera italiana zusammen. Er zählt zu den Gründern mehrerer bürgerlicher und gemeinnütziger Vereine, darunter 1837 der Società degli amici dell'educazione del popolo, die sich später in Società Demopedeutica umbenannte. 1835 erschien ein Band über den Kanton Tessin auf Deutsch, der einen Teil des Materials vorwegnahm, das in sein Hauptwerk La Svizzera italiana (1837-1840) einfliessen sollte. Nach dem Aufstand der Radikalen im Dezember 1839 behauptete sich Franscini als deren Führer in der Tessiner Regierung. 1845 musste er indes zurücktreten, weil die Tessiner Verfassung von 1830 ihren Staatsräten eine mindestens zweijährige Pause nach zwei aufeinanderfolgenden Amtsperioden auferlegte. In der Folge amtierte Franscini wieder als Staatssekretär und war ab 1847 bis zu seiner Wahl in den Bundesrat 1848 erneut Mitglied der Regierung.

Die 1840er Jahre gehören zu den produktivsten seiner politischen Tätigkeit. Er initiierte und verfasste zahlreiche kantonale Gesetze und trieb verschiedene Reformen voran. Franscini beschäftigte sich vor allem mit dem Schulwesen, insbesondere mit der Grundschule, der Lehrerbildung und der staatlichen Kontrolle von religiösen Einrichtungen, aber auch mit Zoll- und Postfragen, Verkehr und Alpenübergängen, Landwirtschafts- und Forstreformen sowie mit dem Verhältnis von Kirche und Staat. Er vertrat das Tessin 1841, 1843, 1845 und 1846 an der eidgenössischen Tagsatzung und an interkantonalen Konferenzen zu Zoll-, Post- und Handelsfragen. Darüber hinaus übernahm er diplomatische Missionen in der Schweiz und im Ausland, etwa im Wallis, um nach der Niederlage des Sonderbunds die aufgebrachten Gemüter zu beruhigen, und 1848 in Neapel, um das Verhalten der Schweizer Söldnertruppen zu untersuchen. Franscini war ausserdem ein Befürworter der Bundesverfassung von 1848, die von der Mehrheit der Tessiner vor allem wegen der Zentralisierung der Zölle abgelehnt wurde.

Porträtfotografie von Stefano Franscini. Carte de visite aus dem Atelier Fotografia Nessi aus Como, um 1852, 10,5 x 6,3 cm (Archivio di Stato del Cantone Ticino, Bellinzona, Fototeca/52.12).
Porträtfotografie von Stefano Franscini. Carte de visite aus dem Atelier Fotografia Nessi aus Como, um 1852, 10,5 x 6,3 cm (Archivio di Stato del Cantone Ticino, Bellinzona, Fototeca/52.12).

Franscini wurde 1848 in den ersten Nationalrat (Bundesversammlung) und am 16. November 1848 im dritten Wahlgang mit 68 von 132 Stimmen in den Bundesrat gewählt. Er erlebte danach zwei schwierige Wiederwahlen: 1851 wurde er erst im dritten Durchgang bestätigt. 1854 scheiterte seine Kandidatur bei den Nationalratswahlen im Tessin an einem Bündnis von Konservativen und oppositionellen Radikalen; erst bei einer Nachwahl im Kanton Schaffhausen gelang es ihm, einen Sitz im Nationalrat zu erobern. In den anschliessenden Bundesratswahlen verlor er zwar viele Stimmen an seinen Freund Giovan Battista Pioda, wurde aber schliesslich doch im dritten Wahlgang als Bundesrat bestätigt. Diese turbulente Wiederwahl ist nicht zuletzt auf die Auswirkungen der Wirtschafts- und Finanzkrise im Kanton Tessin zurückzuführen, die durch Österreichs Grenzblockade 1853 und die Ausweisung der Tessiner aus der Lombardei verursacht worden war – eine Vergeltungsmassnahme gegen die radikalliberale Politik im Umgang mit italienischen Flüchtlingen, die im südlichen Alpenkanton Zuflucht suchten.

Im Bundesrat stand Franscini bis zu seinem Tod dem Departement des Innern vor, dessen Aufgabenbereiche relativ begrenzt waren: die Leitung der Verwaltung und der Archive, die Vereinheitlichung der Gewichte und Masse sowie die Aufsicht über das Gesundheits- und Kirchenwesen. Ausserdem wurde ihm die Statistik anvertraut: 1850 führte er die erste eidgenössische Volkszählung durch und versuchte, wenn auch mit mässigem Erfolg, schweizweite statistische Erhebungen in grösserem Umfang zu etablieren. Er brachte das Projekt für eine eidgenössische Universität ein, die als multikultureller Schmelztiegel der Schweizer Eliten gedacht war, musste sich aber aufgrund des Widerstands der Universitätskantone und der föderalistischen Kräfte mit dem weniger ambitionierten Unternehmen einer Eidgenössischen Polytechnischen Schule abfinden. Sein bescheidenes Auftreten und seine auf Ausgleich bedachte Amtsführung in den Auseinandersetzungen zwischen dem Tessin und der Eidgenossenschaft, die vor allem mit den unterschiedlichen Einstellungen gegenüber Österreich und den italienischen Flüchtlingen zusammenhingen, brachten ihm Kritik und Argwohn von beiden Seiten ein. Mit den Semplici verità ai Ticinesi veröffentlichte er 1854 eine Art politisches Testament, das zu Versöhnung, umsichtigem Regieren und sorgfältiger Finanzverwaltung aufrief. Im Bundesrat aufgrund seiner sozialen Herkunft und seines zunehmend schlechten Gesundheitszustands isoliert und unwohl, bemühte sich Franscini 1855 vergeblich um einen Lehrstuhl für Statistik oder für italienische Sprache und Literatur am Polytechnikum in Zürich. Nachdem er entschieden hatte, anstelle einer weiteren Kandidatur ins Tessin zurückzukehren, wo ihm eine Stelle als Verantwortlicher der kantonalen Druckerei und des Archivs angeboten worden war, starb er 1857 im Amt.

Einweihung des Denkmals von Stefano Franscini in Faido am 13. September 1896. Fotografie von Giuseppe Pons, Pollegio, 24 x 32.8 cm (Archivio di Stato del Cantone Ticino, Bellinzona, Fondo Mario Jäggli, Cartella 23.4).
Einweihung des Denkmals von Stefano Franscini in Faido am 13. September 1896. Fotografie von Giuseppe Pons, Pollegio, 24 x 32.8 cm (Archivio di Stato del Cantone Ticino, Bellinzona, Fondo Mario Jäggli, Cartella 23.4). […]

Als Gelehrter vertrat Franscini die Ansicht, politisches Handeln müsse auf der Statistik – die er als Wissenschaft des Verwaltens und des guten Regierens verstand – sowie auf breiten historischen Kenntnissen beruhen. Selbst mittellos, konnte er sich nicht ausschliesslich seinen Studien widmen und übernahm politische Ämter auch, um sich ein ausreichendes Einkommen zu sichern. Wie viele Radikalliberale zog er die repräsentative der direkten Demokratie vor und misstraute den Launen der Volksmassen. Vielmehr glaubte er an eine «pädagogische» Rolle des Staats, der dank Reformen die Gesellschaft zu Wohlstand und «Zivilisierung» führen sollte. Seine Bedeutung als Bundesrat war eher bescheiden; ihm kommt jedoch der Verdienst als Förderer der Statistik und Gründer des Eidgenössischen Polytechnikums zu.

Während Franscini zu seinen Lebzeiten immer wieder Angriffen seiner politischen Gegner ausgesetzt war, die ihm vorwarfen, seine Ämter für statistische Untersuchungen und publizistische Tätigkeiten zu missbrauchen, nahm seine Verehrung im Tessin nach seinem Tod mitunter hagiografische Züge an: Er wurde als Vater der Volksbildung gefeiert, für seine Reformen gelobt und für seine Rechtschaffenheit bewundert. Die erste wissenschaftlich fundierte Untersuchung veröffentlichte 1898 Emil Gfeller mit Stefano Franscini, ein Förderer der schweizerischen Statistik; Emilio Motta publizierte verschiedene Beiträge über Franscini, dessen Werk und Korrespondenz, ohne jedoch eine grössere Arbeit vorzulegen. Für die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts ist die Edition seines Briefwechsels (Epistolario) mit ausführlicher Einleitung und biografischem Abriss unter der Leitung von Mario Jäggli von 1937 zu erwähnen. Insbesondere dank Giuseppe Martinola, Virgilio Gilardoni und Raffaello Ceschi intensivierte sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Forschung zu Franscini, einschliesslich kommentierter Neuauflagen verschiedener seiner Werke. 2007 erschien eine massgeblich erweiterte Ausgabe des Briefwechsels und der Sammelband Stefano Franscini 1796-1857. Le vie alla modernità, der unter anderem eine gut 800 Einträge umfassende Bibliografie der Arbeiten zu Franscini enthält.

Quellen und Literatur

  • Franscini, Stefano: Grammatica inferiore della lingua italiana, 1821 (Nachdruck hg. und mit einer Einleitung von Joël F. Vaucher-de-la-Croix, 2016).
  • Franscini, Stefano: Statistica della Svizzera, 1827 (Neuausgabe hg. von Raffaello Ceschi, 1991).
  • Zschokke, Heinrich: Istoria della Svizzera pel popolo svizzeroübersetzt und durchgesehen von Stefano Franscini, 2 Bde., 1829-1830 (18582).
  • Franscini, Stefano: Der Canton Tessin, historisch, geographisch, statistisch geschildert [...], 1835 (Nachdruck 1980).
  • Franscini, Stefano: La Svizzera italiana, 3 Bde., 1837-1840 (Nachdruck hg. von Virgilio Gilardoni, 1987-1989).
  • Franscini, Stefano: Semplici verità ai Ticinesi sulle finanze e su altri oggetti di ben pubblico, 1854 (Neuausgabe mit einer Einleitung von Christian Marazzi, 1996).
  • Martinola, Giuseppe (Hg.): Annali del cantone Ticino. Il periodo della Mediazione, 1803-1813, 1953.
  • Franscini, Stefano: Per lo sviluppo dell’istruzione nel Cantone Ticino, hg. von Carlo G. Lacaita, 1985.
  • Franscini, Stefano: Epistolario, hg. von Raffaello Ceschi, Marco Marcacci, Fabrizio Mena, 2 Bde., 2007.
  • Franscini, Stefano: Scritti giornalistici, 1824-1855, hg. von Fabrizio Mena, 2014.
  • Gfeller, Emil: Stefano Franscini, ein Förderer der schweizerischen Statistik, 1898.
  • Gaspari, Stefano; Sofia, Francesca et al.: «L’itinerario intellettuale e civile di Stefano Franscini. Atti del Convegno. Centro seminariale Monte Verità, Ascona, 9 febbraio 1996», in: Archivio storico ticinese, 119, 1996, S. 3-144.
  • Agliati, Carlo (Hg.): Stefano Franscini 1796-1857. Le vie alla modernità, 2007.
  • Agliati, Carlo; Ceschi, Raffaello: «Stefano Franscini», in: Altermatt, Urs (Hg.): Das Bundesratslexikon, 2019, S. 57-62.
Weblinks
Normdateien
GND
VIAF

Zitiervorschlag

Marco Marcacci: "Franscini, Stefano", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 21.04.2022, übersetzt aus dem Italienischen. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/003508/2022-04-21/, konsultiert am 19.03.2024.