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Gesetze

Gesetz ist gesetztes Recht. Artikel 164 Absatz 1 der Bundesverfassung (BV) versteht unter Bundesgesetzen "alle wichtigen rechtssetzenden Bestimmungen". In der Normenordnung stehen Gesetze auf Bundes- (Bundesrecht, Bundesverfassung) wie auf Kantonsebene (Kantonales Recht, Kantonsverfassungen) unter den Verfassungsartikeln und über Verordnungen: Jedes Gesetz bedarf einer verfassungsmässigen Grundlage, und Gesetze können ihrerseits die rechtliche Grundlage für den Erlass einer Verordnung bilden. Die Geschichte des zu keiner Zeit eindeutigen Gesetzesbegriffs ist nach wie vor umstritten; eine Darstellung seiner Entwicklung in der Schweiz fehlt bis anhin.

Erste Seite des Zürcher Richtebriefs von 1304 (Staatsarchiv Zürich, B III 1).
Erste Seite des Zürcher Richtebriefs von 1304 (Staatsarchiv Zürich, B III 1). […]

Die Wurzeln des Gesetzesbegriffs reichen bis in die Zeit vor der Antike zurück (Codex Hammurabi). Nach dem Untergang des Römischen Reichs erscheint der Begriff in der lateinischen Form lex im Zusammenhang mit den auch für das Territorium der Schweiz teilweise massgebenden germanischen Stammesrechten, die als Einungen zwischen Fürst und Volk erlassen wurden. Die primär oder allein auf herrschaftlicher Gewalt gründende Gesetzgebung ist in den europäischen Ländern eine Errungenschaft des Mittelalters; ihre Anfänge liegen nach Ansätzen im 12. im Wesentlichen im 13. Jahrhundert. Beispiele sind die "Ordonnances" der französischen Könige, die "Reichsabschiede" und die Landfriedensgesetze Friedrich Barbarossas, der "Liber Augustalis" Friedrichs II. für Sizilien, der dänische "Jyske Lov" von 1241 und die "Statutes" des englischen Königs Edward I. Anstelle des Begriffs Gesetze wurden in jener Zeit undifferenziert die Ausdrücke Satzung, Ordnung, Willkür, Abschiede bzw. die lateinischen Termini constitutiones, leges, decreta, statuta, ordinaciones verwendet. Diese Satzungen enthielten im Sinne Modestins (Digesten 1, 3, 7) teils Ver- oder Gebote, teils Erlaubnisse oder Sanktionsandrohungen; ihr Erlass lag zunächst in der Kompetenz der Kaiser und Könige, später jeder Herrschaft (allerdings weisen Paarformeln wie "Gesetz und Vertrag" bzw. "Einung und Gesetz" darauf hin, dass im Spätmittelalter noch nicht alle Gesetze allein aufgrund hoheitsrechtlicher Befugnisse statuiert wurden). In der vorerst noch mehrheitlich lateinischen Rechtssprache setzte sich eine Definition durch, die jedes schriftlich niedergelegte Recht als Gesetz betrachtete, ob es sich nun um altes, neues oder abgeschafftes Recht handelte.

Die Verschriftlichung des Rechts erfolgte in den ländlichen Gebieten der alten Eidgenossenschaft ab dem 14. Jahrhundert in der Form des Weistums (Offnungen), was aber nichts anderes war als schriftlich kodifiziertes Gewohnheitsrecht bzw. als Verträge zwischen Herrschaft und Untertanen, die schriftlich gefasst wurden, nur selten aber Satzungsrecht im Sinne von Befehlen der Herrschaft gegenüber den Untertanen. In Ausübung ihrer Satzungshoheit verliehen Kaiser, Könige, geistliche und weltliche Fürsten Sonderrechte oder Handfesten an Städte (Stadtrechte) und seltener an Landschaften. Diese wiederum bildeten Räte oder Landsgemeinden, die ihrerseits Satzungen erliessen (Landrechte, Statuti). Die Tagsatzung fasste ihre Beschlüsse in Form von Abschieden. Viele dieser Satzungen wurden im 16. und 17. Jahrhundert reformiert, d.h., sie wurden korrigiert, ergänzt und erweitert. Typisch für diese Entwicklung sind die sogenannte Landsatzung von 1498 und das spätere Landmandat in der Fürstabtei St. Gallen oder die Berner Gerichtssatzungen von 1539 und 1614. Parallel dazu erliessen die Herrschaften unzählige Mandate und Polizeiordnungen, die alle Lebensbereiche erfassten (Sittenmandate). Diese Satzungen waren durchaus Gesetze im modernen Sinn; sie besassen Befehlscharakter und richteten sich an eine unbestimmte Vielzahl von Adressaten, die durch das Gesetz zu Gehorsam verpflichtet wurden. Charakteristisch für den Legislationsprozess im sich herausbildenden Obrigkeitsstaat und später auch in den modernen parlamentarischen Demokratien ist, dass es grundsätzlich nur einen Gesetzgeber gibt und der Erlass bzw. die Verabschiedung eines Gesetzes deshalb einen unilateralen Rechtsschöpfungsakt darstellt.

Die Aufklärer und Staatsdenker der Revolutionszeit suchten zu verhindern, dass der Gesetzgeber seine Gestaltungsfreiheit missbrauchte. Sie setzten daher die verfassungsmässige Regulierung der Befugnisse des Gesetzgebers im Verhältnis Herrschaft-Untertanen mittels verbindlicher Menschenrechtskataloge (Menschenrechte, Rechtsstaat), die Sicherstellung der Rechtsgleichheit durch generell abstrakte Normierung (gemäss Digesten 1, 3, 8) und die Harmonisierung dieser generell abstrakten Normen mit der volonté générale der Nation (Jean-Jacques Rousseau) durch. Um Letzteres zu erreichen, wurde eine repräsentative gesetzgebende Versammlung eingerichtet (parlamentarische Demokratie). Und um die Vormacht dieser Versammlung zu kontrollieren, bedurfte es weiterer Instanzen, denen die Anwendung und der Vollzug der Gesetze anvertraut wurde (Gewaltenteilung).

Der Artikel 48 der helvetischen Verfassung vom 12. April 1798 verwendete den Begriff "Lois civiles" im Sinne von bürgerlichen Gesetzen. Vorbild hierfür war der Gesetzesbegriff der französischen Direktorialverfassung. Derselbe Artikel verwies auf die kantonalen "Lois civiles" und unterstellte damit, dass es solche vor der helvetischen Verfassung gegeben hatte. In der Mediationsverfassung vom 9. Februar 1803 fehlte eine ausdrückliche Befugnis der Tagsatzung zur Gesetzgebung (Artikel 29 ff.). Die Aufgabe der "Bundesgesetze" übernahmen bis 1848 die im Rahmen der Tagsatzung geschlossenen eidgenössischen Konkordate.

Hingegen erwähnen die Verfassungen der Kantone Basel und Aargau von 1814 ausdrücklich den Begriff Gesetz, der dann auch in allen Regenerationsverfassungen nach 1830 erscheint. Damit verwendeten die Kantonsverfassungen den durch Theorie und Praxis der konstitutionellen Epoche des 19. Jahrhunderts vorgezeichneten Gesetzesbegriff, welcher das formalisierte und normierte Gesetzgebungsverfahren ins Zentrum rückt und dadurch das Recht legitimiert (formelles Gesetz). Das ungeschriebene Recht wurde dagegen endgültig zur Sekundärquelle (Artikel 1 Absatz 2 Zivilgesetzbuch).

Die Kantone entwickelten eine Vielzahl verschiedener Gesetzgebungsverfahren, an denen mitunter das Volk durch Initiative und Referendum beteiligt war. Zu den bevorzugten Rechtsgebieten zählten das Ehewesen, die Konfessionen, das Polizeiwesen, die innere Verwaltung sowie die politischen Rechte. Die neu kodifizierten kantonalen Privatrechte lehnten sich an ausländische Vorbilder wie den französischen Code Civil oder das österreichische "Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch für die gesammten Deutschen Erbländer" an, wobei allerdings das 1853-1855 in Kraft gesetzte "Privatrechtliche Gesetzbuch für den Kanton Zürich" von Johann Caspar Bluntschli ein eigenständiges und wegweisendes wissenschaftliches Werk darstellte (Kodifikation).

Gesetzgebungsverfahren auf Bundesebene 2000 (vereinfacht)
Gesetzgebungsverfahren auf Bundesebene 2000 (vereinfacht) […]

In den ersten Jahrzehnten des Bundesstaates dominierte die parlamentarische Gesetzgebung. Liberale Kräfte drängten zunächst im Handels- und Obligationenrecht zur nationalen Einheit. Aufgrund veränderter Bundeskompetenz infolge der Totalrevision von 1874 wurde 1881 das erste Obligationenrecht geschaffen, 1889 das Schuldbetreibungs- und Konkursgesetz. Das Zivilgesetzbuch (ZGB) von 1907 galt als das bislang reifste Werk der Rechtswissenschaft. Ihm wurde das revidierte Obligationenrecht hinzugefügt. Die verfassungsmässigen Mitwirkungsrechte des Volkes (Referendum 1874, Volksinitiative 1891) veränderten das politische Entscheidungsgefüge. Mangels einer eigenständigen Bundesverwaltung im 19. Jahrhundert und wegen parlamentarischer Entscheidungsschwächen zu Beginn des 20. Jahrhunderts beeinflussten die Verbände von Industrie und Handel (Vorort), des Gewerbes und der Bauern den Gesetzgebungsprozess massgeblich. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden die parlamentarischen Entscheidungsstrukturen weiter ausbalanciert (Konkordanzsystem), neue politische Kräfte integriert und die Leitungsfunktion der Bundesverwaltung verstärkt (Expertenkommissionen, Vernehmlassungsverfahren). Die Entwicklung der staatlichen Wohlfahrtsaufgaben erhöhte die Quantität der Gesetzgebung, wobei vorzugsweise aufgabenspezifische Spezialgesetze erlassen wurden (öffentliche Werke, Energie, Verkehr, Gesundheit, soziale Sicherheit usw.).

In der Festigung des Rechtsstaats dienten insbesondere das französisch-deutsche Staats- und Verwaltungsrecht, aber auch die Privatrechtskodifikationen als Vorbilder (Fritz Fleiner, Zaccaria Giacometti). Das formelle Gesetz wurde im 20. Jahrhundert zur hauptsächlichen Rechtsquelle der Verwaltung. Das Prinzip der Gesetzmässigkeit (Legalitätsprinzip) schützte das Individuum in einigen kantonalen Verfassungen (z.B. Basel-Landschaft, Jura und Aargau) und als zunächst ungeschriebener Verfassungsgrundsatz des Bundes (Rechtsprechung des Bundesgerichts; Artikel 5 BV 1999) vor Behördenwillkür, indem staatliche Eingriffe in Freiheit und Eigentum eine gesetzliche Grundlage erforderten. Zugleich wurden die Entscheidungen und Verordnungen der Verwaltungsbehörden definitiv am Fusse der Normenhierarchie eingefügt und deren Übereinstimmung mit dem übergeordneten formellen Gesetz durch neu geschaffene Verwaltungsgerichte überprüfbar.

Quellen und Literatur

  • K.S. Zachariä, Vierzig Bücher vom Staate, 1820-32
  • F. Wieacker, Privatrechtsgesch. der Neuzeit, 1952 (21967, reprint 1996)
  • M. Imboden, Das Gesetz als Garantie rechtsstaatl. Verwaltung, 1954 (21962)
  • D. Schefold, Volkssouveränität und repräsentative Demokratie in der schweiz. Regeneration 1830-1848, 1966
  • HRG 1, 1606-1620
  • H. Mohnhaupt, «Potestas legislatoria und Gesetzesbegriff im Ancien Régime», in Ius commune 4, 1972, 188-239
  • N. Herold, «Gesetz», in Hist. Wb. der Philosophie 3, 1974, 482-514
  • R. Grawert, «Gesetz», in Gesch. Grundbegriffe 2, hg. von O. Brunner et al., 1975, 863-922
  • T. Fleiner, Allg. Staatslehre, 1980 (32004)
  • A. Kölz, «Von der Herkunft des schweiz. Verwaltungsrechts», in Im Dienst an der Gemeinschaft, hg. von W. Haller et al., 1989, 597-616
  • A. Kölz, Neuere schweiz. Verfassungsgesch., 1992
  • A. Wolf, Gesetzgebung in Europa 1100-1500, 1996
  • M. Senn, Rechtsgesch., 1997 (42007)
  • P. Delvaux, La république en papier: circonstances d'impression et pratiques de dissémination des lois sous la République helvétique (1798-1803), 2 vol., 2004
Weblinks

Zitiervorschlag

Theodor Bühler; Alain Prêtre: "Gesetze", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 10.02.2011. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/030903/2011-02-10/, konsultiert am 29.03.2024.