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Antiklerikalismus

Im allgemeinen Sprachgebrauch bezeichnet Antiklerikalismus eine seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert sich durchsetzende radikale Kirchenkritik, die als Doktrin des Laizismus Politik und Mentalität vorwiegend in romanischen Ländern wie Frankreich, Italien und Spanien bestimmte. In dieser virulenten Form als geistige Strömung ist Antiklerikalismus in der Schweiz nicht nachzuweisen. Erst eine weiter gefasste Begrifflichkeit, die auch verwandte Geisteshaltungen wie Antikatholizismus, Antiromanismus, Antimonastizismus oder systemimmanente Kirchenkritik, aber auch den Gegensatz zwischen Klerus und Laien einbezieht, ermöglicht es, für die Schweiz von Antiklerikalismus zu sprechen.

Bleibende Referenzpunkte systemimmanenter Kirchenkritik und kirchlicher Reformbewegung sind die Ecclesia primitiva (Urgemeinde) und die Vita evangelica (Leben nach den Idealen des Evangeliums). Träger dieser Kritik können Laien sein; doch solange das Monopol der Kleriker im Bildungsbereich vorherrschte, waren es zumeist Kleriker. Spannungen, zum Beispiel zwischen Geistlichkeit und Bürgertum, Klosterherrschaft und Bauern, führten zu sozialen Konflikten, die auch unter dem Vorzeichen des Antiklerikalismus gesehen werden können. Der Sturm der Schwyzer gegen das Kloster Einsiedeln vom 6. Januar 1314 ist dafür eines der frühesten Beispiele. In der Innerschweiz gelang es den Kirch-, Dorf- und Talgemeinden in langwierigen Auseinandersetzungen, das kommunale Pfarrerwahlrecht durchzusetzen, die weltliche Herrschaft der Klöster zu beseitigen und die Kompetenzen der geistlichen Gerichte einzuschränken. Damit entfielen Voraussetzungen, die zu den zentralen Forderungen der Reformation gehörten. Nach Peter Blickle erklärt dies, warum in der Innerschweiz in der Reformationszeit Anreize für Umwälzungen fehlten, die andernorts (Basel, Zürich, Genf) die Ausbreitung der reformatorischen Predigt begünstigten. In Genf kam es zeitweilig zu Spannungen zwischen Consistoire (Sittengericht) und Rat (z.B. 1542-1564). Doch die kirchliche Neuordnung innerhalb der überschaubaren Verhältnisse von Stadt- oder Landrepubliken und die enge familiäre Verbindung von Pfarrersfamilien mit politischen Führungsschichten reduzierte das Konfliktpotenzial. Dieses blieb viel stärker im katholischen Raum und führte zur Zeit der katholischen Reform zu lokalen Konflikten, deren ideologische Grundlage jedoch stärker das Staatskirchentum als der Antiklerikalismus (Udligenswilerhandel) war.

"Solothurner Pfaffen-Jagd". Anonyme Karikatur von 1873 (Schweizerische Nationalbibliothek, Graphische Sammlung).
"Solothurner Pfaffen-Jagd". Anonyme Karikatur von 1873 (Schweizerische Nationalbibliothek, Graphische Sammlung). […]

Im 19. Jahrhundert heizten die Jesuitenfrage und die reaktionäre Politik des Papsttums einen gewissen Antiklerikalismus an, der sich in antihierarchischer Zuspitzung global gegen die katholische Kirche wandte. Im Tessin kam in aufsteigenden bürgerlichen Kreisen ein virulenter Antiklerikalismus zum Durchbruch. Aktive Vertreter des Antiklerikalismus in der Deutschschweiz waren vor allem Katholiken, die wie Augustin Keller eine vaterländische verlässlichere Kirche wünschten. Im Aargauer Klosterstreit und in der generellen Polemik gegen den Ultramontanismus kam dieser Antiklerikalismus zum Tragen. Nicht zu übersehen ist jedoch, dass der Antiklerikalismus dem modernen Staatsgedanken als Vehikel diente, um die Kirche aus ihren traditionellen Bildungs- und Gesellschaftsbastionen hinauszudrängen (Volksschule, Trennung von Kirche und Staat). Auch innerhalb der römisch-katholischen Kirchenstrukturen vertrat zum Beispiel Philipp Anton von Segesser einen gewissen systemimmanenten Antiklerikalismus in seinem Umgang mit Bischof Eugène Lachat. Nach dem Kulturkampf und der Spaltung wurde der Katholizismus gesellschaftlich isoliert. Bemerkenswert ist, dass die Säkularisierung der Gesellschaft, die sich im Protestantismus mit zeitlichem Vorsprung ankündigt, ohne ausgesprochenen Antiklerikalismus auskommt. Im katholischen Raum gewann nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil der antirömische Affekt als Variante innerkatholischer Kirchenkritik an Boden. Diese Geisteshaltung bleibt allerdings hauptsächlich auf die deutsche Schweiz beschränkt.

Quellen und Literatur

  • H.U. von Balthasar, Der antiröm. Affekt, 1974
  • R. Rémond, L'anticléricalisme en France de 1815 à nos jours, 21985
  • V. Conzemius, «Die Kritik der Kirche», in Hb. für Fundamentaltheologie 3, 1986, 30-48
  • H. Raab, «Kirchengesch. im Schlagwort», in Reich und Kirche in der frühen Neuzeit, 1989, 477-510
  • Anticlericalism in late medieval and early modern Europe, hg. von P.A. Dykema, H.A. Oberman, 1994
Weblinks

Zitiervorschlag

Victor Conzemius: "Antiklerikalismus", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 09.08.2001. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/030177/2001-08-09/, konsultiert am 29.03.2024.