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HistorismusGeistesgeschichte

Als Historismus bezeichnet man ein im 19. Jahrhundert einsetzendes Verständnis von Geschichte und Geschichtswissenschaft. Der Begriff Historismus entstammt der deutschen Kultur: 1797 verwendete ihn Friedrich Schlegel, um die auf dem fundamentalen Unterschied zwischen Vergangenheit und Gegenwart beruhende Geschichtlichkeit jeder menschlichen Erkenntnis zu unterstreichen. Entstehung und Entwicklung des Begriffs hängen eng mit dem Versuch zusammen, die Geschichtsschreibung in den Rang einer Wissenschaft zu heben und sie mit geschichtsphilosophischen Erkenntnissen zu verbinden. Diesen beiden Anliegen entsprechend wurde zwischen einem ideologischen und einem methodischen Historismus unterschieden. Historiker wie Leopold von Ranke und Johann Gustav Droysen betonten einerseits die Individualität historischer Erscheinungen und die Unvorhersehbarkeit und Freiheit des Handelns. Ihre Namen stehen andererseits für die Förderung der historisch-kritischen Methode (Heuristik, Hermeneutik), welche die Geschichtsschreibung und überhaupt die Geisteswissenschaften seit dem 19. Jahrhundert prägt. Für den Historismus bedeutsam war im 19. Jahrhundert zudem die sogenannte historische Rechtsschule um Friedrich Carl von Savigny, die das Recht als Ergebnis einer historischen Entwicklung betrachtete, Schulbildungen in anderen Wissenschaften wie der Nationalökonomie (Wilhelm Roscher, Gustav Schmoller) und der Geschichte beeinflusste und von diesen teilweise selbst beeinflusst wurde. Philosophen nahmen den Begriff Historismus auf und brauchten ihn in einer oft negativen Bedeutung. Für Benedetto Croce und Robin George Collingwood stand der Historismus schliesslich für ein idealistisches Verständnis von Geschichtsschreibung. Die französische Sprache verwendet vorwiegend den Begriff historicisme bzw. Historizismus, der erst im 20. Jahrhundert in Gebrauch kam und sich vor allem auf die Kunstgeschichte bezieht (Historismus, Kunst).

Der Historismus ist eng mit der Kultur und bürgerlichen Ideologie im Deutschland des 19. Jahrhunderts verknüpft. Nach Reinhart Koselleck war die Geschichte in Deutschland das funktionale Äquivalent zur Revolution in Frankreich. Aus dieser Perspektive kann vor allem der deutsche Historismus als Gegenposition zur französischen Kultur und deren Universalismus gedeutet werden. Zugleich ist der Historismus Ausdruck für die Entstehung eines bürgerlichen Geschichtsbewusstseins: Das Bürgertum, dem eine eigenständige Geschichte fehlte, erfand sich eine Vergangenheit, die nicht bloss die neue Gesellschaftsordnung, sondern auch die Nation spiegeln sollte. In der noch jungen Nation kam somit der Disziplin der Geschichte zusammen mit der Philologie die Aufgabe zu, im Medium von Kultur und Sprache Vergangenheit und nationale Identität zu vermitteln. Die wichtigsten Stützen dieser Vermittlung waren die Schule und die Kultureinrichtungen. Mit der deutschen Niederlage von 1918 brach dieses kulturelle und ideologische Programm zusammen. Daher beschränkte sich in der Zwischenkriegszeit die sogenannte Krise des Historismus nicht auf eine Methodenkrise innerhalb der historischen Disziplinen, sondern betraf auch die kulturelle und ideologische Funktion, die der Historismus seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert in der Ausbildung der Eliten und überhaupt in der Meinungsbildung wahrgenommen hatte.

Der Historismus, der die Beziehung des Menschen zur Welt wesentlich durch die historische Analyse zu erkennen versucht, verlieh der historischen Betrachtungsweise in der Kultur des 19. Jahrhunderts eine vorherrschende Stellung. Allmählich wurde sie in allen Wissensbereichen übernommen, zum Beispiel in der Rechtswissenschaft, namentlich auch von deren Schweizer Vertretern Johann Caspar Bluntschli und Friedrich Ludwig Keller (Rechtsschulen). Am Ende des Jahrhunderts debattierte dann Friedrich Nietzsche von seinem Lehrstuhl an der Universität Basel aus mit seinem Kollegen Franz Camille Overbeck über «Nutzen und Nachteil der Historie». Er nahm damit die früheren Äusserungen von Jacob Burckhardt auf, der sich die Frage nach den Folgen der Negation gestellt hatte, die am Ende des 18. Jahrhunderts, d.h. mit der Revolution, in Staat, Kunst und Leben stattgefunden und zum Zerfall der moralischen und religiösen Prinzipien geführt habe. Dem Anbruch der Moderne sollte eine neue Lesart der Geschichte entsprechen. Burckhardt suchte eine solche zunächst in der Renaissance, dem Zeitalter der Entdeckung der Welt und des Menschen, fand dann aber im Mittelalter einen (pessimistischeren) Ausdruck für die «Jugend der heutigen Welt». Mit dieser Deutung gab er den Glauben an den Fortschritt auf.

Nach dem Ersten Weltkrieg erfuhr der Begriff des Historismus eine Neubewertung. In der Geschichtswissenschaft konzentrierte sich die Diskussion auf die Frage nach der Objektivität bzw. Relativität historischer Erkenntnis (Karl Lamprecht, Wilhelm Dilthey, Max Weber). Ernst Troeltsch debattierte mit Karl Barth und Rudolf Bultmann darüber, ob die Natur des Christentums und der Theologie im Wesentlichen «historisch» oder «dogmatisch» sei. 1957 klagte Karl Popper über das «Elend des Historizismus»; die Sozialwissenschaften würden so lange keine Wissenschaften sein, als sie historisch betrieben würden. Die jüngeren Debatten über den Historismus in Deutschland und in den Vereinigten Staaten lassen sich als Fortsetzung dieser intellektuellen Auseinandersetzungen betrachten. Der Historismus zeuge von einer Krise der Traditionen, die sich in der Rückkehr zu den Ursprüngen und zur Erzählung genealogisch verknüpfter Ereignisabfolgen äussere.

Die Geschichte spielte bei der Bewältigung der Krise der alten Eidgenossenschaft und der Errichtung des neuen Staates ab 1848 eine wichtige Rolle. Als Land ohne gemeinsame Sprache und Konfession, geografisch heterogen und mit mehreren europäischen Kulturräumen verbunden, erhob die Schweiz die Geschichte zu einem zentralen Element des Nation-building (Politische Geschichte). Der Historismus äusserte sich in der Schweiz 1886-1914 in den sehr beliebten Festspielen, die Schlüsselereignisse der Landesgeschichte auf die Bühne brachten, sowie 1891 in der Einführung der Bundesfeier, welche die Geburtsstunde der Eidgenossenschaft am Bund von 1291 festmachte. Die Historiografie folgte – mit einigen Verschiebungen und Besonderheiten – der Entwicklung des historischen Arbeitens in Deutschland. Die Disziplin der Geschichte wurde im Verlaufe des 19. Jahrhunderts in der Schweiz ebenfalls selbstständiger und professioneller, und der Historismus prägte ähnlich wie in Deutschland die Geschichtsschreibung. Es entstand eine Landesgeschichtsschreibung, die aus den sprachlich und religiös unterschiedlichen Ausformungen der Schweiz eine gemeinsame Vergangenheit zu errichten suchte und damit die Kantonsgeschichten konkurrenzierte. Dessen ungeachtet, lebten legendenhafte Geschichtsbilder weiter. Das monumentale Werk «Der Geschichten schweizerischer Eidgenossenschaft» (1786-1808) von Johannes von Müller etwa wurde noch während des ganzen 19. Jahrhunderts verherrlicht und imitiert. Die Neuordnung der eidgenössischen und kantonalen Archive, die rasche Verbreitung von Editionsprojekten und die steigende Zahl populärwissenschaftlicher Werke zeugen ebenfalls von der tiefgreifenden Wirkung des Historismus in der schweizerischen Gesellschaft. Die historische Kultur war in erster Linie jene der Sieger von 1848. Erst die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg rückte wirtschaftliche und soziale Themen ins Blickfeld der Historiker und liess auch eine Geschichtsschreibung aus konservativer Sicht wieder zu.

Quellen und Literatur

  • J.G. Droysen, Grundriss der Historik, 1868 (zahlreiche Aufl.)
  • F. Jaeger, J. Rüsen, Gesch. des Historismus, 1992
  • C. Simon, Historiographie: eine Einführung, 1996
Weblinks

Zitiervorschlag

Bertrand Müller: "Historismus (Geistesgeschichte)", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 22.05.2014, übersetzt aus dem Französischen. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/027834/2014-05-22/, konsultiert am 28.03.2024.