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Politische Geschichte

Politische Geschichte ist die älteste Art der Historiografie und hat von der Antike bis ins 18. Jahrhundert das Hauptinteresse der abendländischen Historiker auf sich gezogen (Geschichte). Als sich im 19. Jahrhundert an den europäischen Universitäten die Geschichtsschreibung als eigenständiges Fach etablierte, konzentrierte sie sich auch in der Schweiz auf die Erforschung der Politik von Staaten, Regierungen und Institutionen, mithin auf die Taten «Grosser Männer». Schon der Begriff politische Geschichte wäre damals als Tautologie empfunden worden, weil der entsprechende Ansatz als der einzig sinnvolle Zugang zur Geschichte galt. Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts setzte sich die Überzeugung durch, dass politische Geschichte nur als Variante eines sehr viel breiteren Themenspektrums gelten könne, weil Geschichte nach Otto Brunner «das Ganze des menschlichen Tuns» im Blick haben müsse.

In der Schweiz erlebte die politische Geschichte ihren Höhepunkt am Ende des 19. Jahrhunderts. Sie und die von ihr getragene sogenannte Volksbildung beschleunigten die Einigung der durch den Sonderbundskrieg zerrissenen Eidgenossenschaft, indem sie das schweizerische «Volk» überhaupt erst – und im doppelten Sinne des Wortes – «bilden» halfen. Politische Geschichte, wie sie zum Beispiel Johannes Dierauer schrieb, erblickte in der angeblichen Staatsgründung von 1291 eine wichtige Zäsur und diente letztlich der historischen Legitimation nationalpolitischen Handelns. Die Geschichtsschreibung, die in der Schaffung des bestehenden Staates Ziel und Ende politischer Ereignisketten sah, wurde zu einem wichtigen Teil des bildungsbürgerlich-liberalen Selbstverständnisses. In der Schweiz war diese Art der Geschichtsschreibung besonders dominant und langlebig. Ihre führende Stellung wurde zementiert durch nationalgeschichtliche, meist freisinnig geprägte Überblickswerke und Quellenpublikationen, angefangen von Johannes Dierauer und Ernst Gagliardi über William Martin und Edgar Bonjour bis hin zum «Handbuch der Schweizer Geschichte» (2 Bde., 1972, 1977) und zu den «Documents diplomatiques Suisses» (ab 1979). Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und parallel zum Aufstieg der Wirtschaftsgeschichte und der Sozialgeschichte verschwand das Primat des Politischen bzw. die Verengung des historischen Politikbegriffs auf die Taten einzelner Personen und auf politische Ereignisse, die man hermeneutisch zu erforschen und narrativ darzulegen habe.

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts beschäftigt sich die politische Geschichte nicht nur mit dem Staat und seinen Institutionen, sondern mit allen Formen, in denen kollektiv bindende Entscheidungen hervorgebracht und durchgesetzt werden. Sie bemüht sich um einen umfassenden Zugriff, bei dem nicht mehr nur das Denken und Handeln der politisch-militärischen Elite, sondern auch wirtschaftliche Hintergründe, soziokulturelle Leitbilder, kommunikative Abläufe, administrative Zwänge oder die symbolischen und rituellen Ausprägungen der Macht zur Diskussion stehen. Methodisch begnügt sie sich nicht mit einem Hineindenken und Hineinfühlen in die handelnden Personen, sondern benutzt die systematischen Kategorien der Politikwissenschaft und kooperiert mit der Wirtschafts-, Sozial- und Kulturgeschichte. In den letzten Jahren erlebten auch traditionelle Themen – wohl unter dem Eindruck einer in Bewegung geratenen Weltpolitik – eine Renaissance, so die Diplomatiegeschichte und die Militärgeschichte. Bei der geschichtsinteressierten Öffentlichkeit waren diese Themen, zu denen auch die Biografie gehört, seit jeher am beliebtesten.

Auf einer theoretischen Ebene enthält jede Art der Geschichtsschreibung neben dem kognitiven und dem ästhetischen Moment unweigerlich politische Implikationen, sei es durch die Wirkungen, die der Historiker erzielt bzw. zu erzielen sucht, sei es durch die Interessen, die seine Forschung bestimmen. Insofern ist es unmöglich, Geschichte zu schreiben, die nicht auch politische Geschichte wäre.

Quellen und Literatur

  • G.P. Marchal, «Les traditions nationales dans l'historiographie de la Suisse», in Visions sur le développement des états européens, hg. von W. Blockmans, J.-P. Genet, 1993, 271-296,
  • S. Buchbinder, Der Wille zur Gesch., 2002
Weblinks

Zitiervorschlag

Christoph Maria Merki: "Politische Geschichte", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 23.02.2015. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/027813/2015-02-23/, konsultiert am 19.03.2024.