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Rechtsmedizin

Die Rechtsmedizin entwickelte sich zunächst in den Städten in Wechselwirkung mit den Nachbarfächern der Medizin und mit medizinisch relevanten Gesetzen und Regelungen (Strafrecht, Hygiene). Die in mittelalterlicher Tradition bis ins 18. Jahrhundert hinein von Hebammen und Chirurgen, selten von Apothekern ausgeübte gerichtliche Gutachtertätigkeit wurde im Lauf der Neuzeit von Stadtärzten (Felix Platter in Basel, Johann Jakob Wepfer in Schaffhausen), später von Universitätsmedizinern übernommen. Zunächst bildeten Gesetze anwendende und gesetzgebende Medizin sowie ärztliche Ethik eine Einheit, dann spaltete sich die gesetzgebend-hygienische Medizin von der Rechtsmedizin als eigenständigem Fach ab. Unter dem Einfluss neuer Gesetze, Gefahren (z.B. Strassenverkehr) und Arbeitsmethoden weitete sich die Rechtsmedizin im 19. und 20. Jahrhundert aus.

Die unterschiedliche Entwicklung der in der Schweiz dicht gestreuten rechtsmedizinischen Institute wurzelt zum einen in der kantonalen Rechtsetzung und der damit einhergehenden Vielfalt. Zum anderen wirken sich die Einflüsse aus den Nachbarländern verschieden aus. Die französische Schweiz vertritt mehr die kontradiktorische, die Deutschschweiz mehr die inquisitorische Methode der Wahrheitsfindung, d.h. Erstere legt den Schwerpunkt auf die Gerichtsmedizin der Lebenden, Letztere auf die medizinische Kriminologie mit ihrer Kausalanalyse am objektivierbaren Körper.

In Basel regte die für forensisch-medizinische Belange eingesetzte Institution der Wundschau (bis 2001) ab 1449 die Entwicklung einer gerichtlichen Medizin an. Ab 1687 gehörte ihr der Stadtarzt an. 1789 bot die Universität Basel erstmals Vorlesungen über gerichtliche Medizin an, 1851 setzte der Lehrbetrieb ein, 1925 wurde ein gerichtsmedizinisches Institut (Neubau 1960) und 1937 ein Ordinariat geschaffen. In Bern blieb die Gerichtsmedizin von der Gründung der Universität 1834 an bis 1902 im Rahmen der sogenannten Staatsarzneikunde und Staatsmedizin mit der hygienisch-gesetzgebenden Medizin vereint. 1903 schuf man ein Extraordinariat für Gerichtsmedizin, 1919 ein Ordinariat und 1926 ein Institut (Neubau 1931). In Zürich begann im 16. Jahrhundert eine toxikologische Tradition mit dem Stadtarzt Konrad Gessner, die vor allem im 20. Jahrhundert Heinrich Zangger fortführte und auf Umweltfragen erweiterte. 1905 öffnete das gerichtsmedizinische Institut, 1966 das Schweizerische Toxikologische lnformationszentrum in Zürich seine Türen. Als Erster im mitteleuropäischen Raum diskutierte 1985-1986 Walter Bär die Idee der forensischen Genetik und führte die DNA-Analyse ein. In St. Gallen trat 1969 der erste Leiter des Fachbereichs Gerichtsmedizin der Hochschule für klinische Medizin an. 1983 wurde ein selbstständiges neues Institutsgebäude bezogen. In Chur existiert seit 1999 ein Institut für Pathologie und Rechtsmedizin.

In Genf blieb die Gerichtsmedizin, für die seit 1876 an der medizinischen Fakultät ein Lehrstuhl besteht, lange eng mit der Jurisprudenz verbunden. 1920 wurde die Morgue judiciaire durch das Institut de médecine légale ersetzt. Das gerichtsmedizinische Interesse an Wertfragen, das sich aus der Nähe zur Rechtswissenschaft ergab, führte Jacques Bernheim fort. Unter seiner Leitung (1961-1991) wurde die therapeutische Dimension der Rechtsmedizin, die klinische Kriminologie, die Gerichtspsychiatrie (Psychiatrie) und die Gefangenenmedizin ausgebaut. Neuerdings gehen klinische und forensische Tätigkeit aber wieder auseinander. In Lausanne existiert seit 1890 eine medizinische Fakultät mit gerichtsmedizinischem Institut, das ab 1979 nach deutschem Muster umgewandelt wurde und 1987 neue Gebäulichkeiten bezog. Seit 1988 führt Lausanne Dopingkontrollen für die ganze Schweiz durch und seit 1996 pflegt man wieder vermehrt die klinische Gerichtsmedizin wie in Frankreich.

Im Tessin wurde die Gerichtsmedizin ab 1989 durch einen spezialisierten Oberarzt am pathologischen Institut in Locarno ausgeübt. Seit 2006 übernehmen Fachleute aus Varese dessen Tätigkeit.

Im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts mehrten sich die Anstrengungen, die Disparität der schweizerischen Gerichtsmedizin zu überwinden. 1980 gründeten die Leiter der gerichtsmedizinischen Institute der Schweiz die Schweizerische Gesellschaft für Gerichtliche Medizin, die sich seit 1992 Schweizerische Gesellschaft für Rechtsmedizin nennt. Die neue Sprachregelung will die Weite des Faches betonen – wie schon die alte Bezeichnung Staatsarzneikunde. Der Facharzt (FMH) für gerichtliche Medizin bzw. Rechtsmedizin wurde 1987 eingeführt. Die seit Ende des 20. Jahrhunderts angestrebte Vereinheitlichung der Strafprozessordnung wurde 2011 mit der Inkraftsetzung der Schweizerischen Strafprozessordnung erreicht.

Quellen und Literatur

  • Inst. für Medizingesch. der Univ. Bern, Dok. (Gesch. Gerichtsmedizin Schweiz)
  • D. Guggenbühl, Gerichtl. Medizin in Basel von den Anfängen bis zur Helvetik, 1963
  • H.-H. Eulner, Die Entwicklung der medizin. Spezialfächer an den Universitäten des dt. Sprachgebietes, 1970
  • E. Fischer-Homberger, Medizin vor Gericht. Von der Renaissance bis zur Aufklärung, 1983
  • Gesch. der Gerichtl. Medizin im deutschsprachigen Raum, hg. von H.J. Mallach, 1996
Weblinks

Zitiervorschlag

Esther Fischer-Homberger: "Rechtsmedizin", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 21.12.2011. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/027148/2011-12-21/, konsultiert am 28.03.2024.