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Patrizische Orte

Patrizische Orte ist ein historiografischer Begriff für die von Patriziaten regierten Stadtstaaten der alten Eidgenossenschaft, zu denen Bern, Luzern, Freiburg und Solothurn gehörten; er entstand in Analogie zum Begriff der Länderorte. Ausgelöst wurde die Diskussion um die patrizischen Orte durch die Geschichtsschreibung zum schweizerischen Ancien Régime, die ab 1950 Zunftstädte, Patrizierstädte und Länderorte einander gegenüberstellte. Diese politische Dreiteilung wurde von Ulrich Im Hof 1977 im «Handbuch der Schweizer Geschichte» aufgegriffen und von Hans Conrad Peyer 1978 bezüglich Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit kritisch durchleuchtet. Die typologische Unterscheidung zwischen patrizischen Orten und Zunftstädten befriedigt nicht, da sie nur auf die Hauptstädte zugeschnitten ist, die Westschweizer Städte ausser Acht lässt und kaum grundlegende Unterschiede zwischen den beiden Stadttypen aufzeigen kann.

Stadtverfassung als Basis einer allgemeinen Aristokratisierung

Tatsächlich stimmten patrizische Orte und Zunftstädte in vielem überein: Sie waren mehrheitlich Reichsstädte. Ihre spätmittelalterlichen Stadtverfassungen glichen sich ― ob mit oder ohne Zünfte ― bezüglich Organisation, Wahl und Kompetenz von Bürgergemeinde und Räten und liessen im Lauf des Ancien Régime ohne grosse Änderungen eine Aristokratisierung zu. Die Bürgergemeinde (Versammlung aller volljährigen männlichen Bürger) hatte wenig Kompetenzen und trat selten zusammen. Der Rat des 12./13. Jahrhunderts erweiterte sich in beiden Stadttypen im 14. Jahrhundert zum Kleinen Rat mit 20-60 Mitgliedern (den Häuptern), dem ein Grosser Rat mit 60-200 Mitgliedern zur Seite gestellt wurde. Dieser, oft auch als «die Burger» bezeichnet, repräsentierte die Bürgerschaft und war verfassungsmässig die oberste Instanz. Er tagte höchstens einmal pro Woche und zwar meist mit dem Kleinen Rat, welcher die Sitzungen leitete und beherrschte. Da der Kleine oder Tägliche Rat zur Erledigung der Ratsgeschäfte wöchentlich mehrmals zusammenkam, wurde er allmählich zur De-facto-Regierung. Weil die Kleinräte abkömmlich sein mussten, stammten sie in allen Städten aus der Schicht der Begüterten.

Die Aristokratisierung der Führungsschichten wurde durch folgende Erscheinungen begünstigt: Einmal weil viele Städte ab Ende des 16. Jahrhunderts nur noch wenige, später praktisch keine Bürgerrechte mehr erteilten und die städtischen Bürgerschaften sich dadurch schlossen. Dies verengte den Kreis der zum Rat zugelassenen Familien. Dann durch das System der Kooptation (Selbstergänzung), das bei der Besetzung der Ratsstellen galt und den im Rat vertretenen Familien ermöglichte, Angehörige und Verwandte nachzuziehen und so eigentliche Familienherrschaften aufzubauen.

Die Zünfte in den Zunftstädten, aber auch die Handwerks-Gesellschaften der patrizischen Orte spielten bei der Aristokratisierung eine wichtige Rolle. Während die Zünfte dank aktivem Wahlrecht eine feste Zahl an Klein- und Grossräten stellten, wurden in den patrizischen Orten Ratsvertreter aus den Gesellschaften in die Räte gewählt ― in Solothurn zum Beispiel aus den elf Zünften, in Bern Venner und Sechzehner aus den vier bevorrechteten Vennergesellschaften. Trinkstuben von Gesellschaften und Zünften waren Foren des politischen und gesellschaftlichen Lebens; wer politisch weiterkommen wollte, musste ihnen angehören. Dies führte überall zur Unterwanderung von Handwerksgesellschaften und Zünften durch die Angehörigen der Oberschicht, die sich ― obwohl dem Handwerk entfremdet ― in diese einkauften. In Bern lagen die vier Vennergesellschaften in der Gunst der Ratsanwärter, in Luzern vor allem Safran, Schneider- und Kürschnergesellschaft. Grosse Familien verteilten sich auf mehrere Gesellschaften, um so mit verschiedenen Familienmitgliedern in die Räte gewählt zu werden. Damit verdrängte die städtische Oberschicht in allen Städten, ausgenommen in St. Gallen, die Handwerker sukzessive aus den Räten.

Grundlagen des Wohlstands

Bezüglich der wirtschaftlichen Grundlagen unterschieden sich die Ratsfamilien der patrizischen Orte klar von den Aristokraten der Zunftstädte: Patrizischer Wohlstand beruhte vor allem auf privatem Grund- und Herrschaftsbesitz, auf Einkommen aus dem Soldunternehmertum bzw. dem Offiziersdienst im Ausland und aus der Amts- und Ratstätigkeit; die Führungsschicht der Zunftstädte hingegen lebte primär von Handel, Produktion und Finanzgeschäften. Den Patriziern der katholischen Orte (Luzern, Solothurn, Freiburg) standen zudem Ordenskarrieren in Stiften und Klöstern offen, den reformierten Berner Patriziern Stellen als Verwalter der säkularisierten Klosterherrschaften.

Da im 17. Jahrhundert die Einnahmen aus dem Sold- und Pensionenwesen sowie aus den privaten Gerichtsherrschaften bei gleichzeitig steigenden Repräsentationskosten generell schrumpften, Rats- und Amtsbesoldungen aber allmählich zu beträchtlichen Einkünften angehoben wurden, wandte sich das Patriziat vermehrt Ämterkarrieren (Magistratur) und der Ratstätigkeit zu. Das hohe Prestige des Staatsdienstes liess in Bern ein eigentliches Verwaltungspatriziat heranwachsen.

Dominante Familien in Bern 1785
Dominante Familien in Bern 1785 […]

Die Kooptation bei den Wahlen der Räte bewirkte in den patrizischen Orten längerfristig eine Scheidung in tatsächlich «regierende» und bloss «regimentsfähige» Familien, die im Kleinen und auch im Grossen Rat immer weniger oder gar nicht vertreten waren. Ämterrotation und Wiederwahl führten praktisch zur Lebenslänglichkeit der Ratsstellen und ― im Zusammenspiel mit der Kooptation ― zur faktischen Erblichkeit der Ratssitze. Die Zeit arbeitete für die mächtigen Geschlechter mit einer grossen Zahl von Angehörigen; die kleinen Familien mussten befürchten, ihren Grossratssitz zu verlieren und aus dem Kreis der Regierenden auszuscheiden.

Widerstand gegen die patrizische Herrschaft

Die faktische Alleinherrschaft der aristokratischen Familien, welche die Ratsstellen und damit auch die lukrativen Staatsämter immer mehr monopolisierten, stiess in patrizischen Orten und Zunftstädten gleichermassen auf Widerstand. Die regimentsfähigen, im Rat nicht vertretenen Bürgerfamilien wehrten sich gegen die Wahlpraktiken der Regierenden. Städtische Unruhen nach diesem Muster waren in Luzern im 17. Jahrhundert der Knab- (1609-1610) und der Burgerhandel (1651-1653), im 18. Jahrhundert der Klosterhandel, ein kirchenpolitisch verbrämter Machtkampf unter patrizischen Familien mit wechselndem Anhang in der Stadtbürgerschaft (1768-1670), in Bern nach Bewegungen von unzufriedenen Bürgern (1710, 1735, 1744) vor allem die Henzi-Verschwörung (1749) und in Freiburg der Chenaux-Handel (1780-1784). Den Verschwörern dienten Privathäuser (Bern 1749) und Trinkstuben der Zünfte (Luzern 1651-1653) als Versammlungsorte.

Die Unruhen erschütterten zwar die patrizischen Regierungen, blieben aber ― wie die Reformansätze aus den eigenen Kreisen ― ohne nachhaltige Wirkung, zumal die Regierenden mit Todesurteilen und Verbannungen gegen Verschwörer vorgingen und in Situationen der Schwäche gewährte Konzessionen wieder rückgängig machten (so in Luzern 1653). In Bern liess sich der Grosse Rat im Zusammenhang mit einer Verwaltungsreform, die sich gegen die schlechte Verwaltung von Staatseinkünften durch den Kleinen Rat und dessen Finanzkollegium (Vennerkammer) richtete, durch einen Ausschuss als Souverän bestätigen und ging mit dem «Reinigungseid» neu gewählter Grossräte ― allerdings mit nachlassender Konsequenz ― gegen missbräuchliche Wahlpraktiken vor (1681-1691). Freiburg (1650) und Bern (1710) bekämpften die Unsitte des Praktizierens (Ämterkauf) durch die Verlosung der Ämter. Solothurn, das 1653 nach Wahlumtrieben eine verbesserte Wahlordnung einführte, blieb ohne Unruhen.

Geschlechterherrschaft

Im Unterschied zu den Ratsfamilien der Zunftstädte gelang es den patrizischen Familien weitgehend, sich gegen Aufsteiger aus der Bürgerschaft und vor allem aus dem Kreis der Neubürger abzusichern. Das 1773 in Luzern erlassene Fundamentalgesetz krönte die restriktive Einbürgerungspolitik von zwei Jahrhunderten, indem es die Zahl der ratsfähigen Bürgerfamilien auf dem damaligen Bestand einfror. Bern setzte 1790 im Konstitutionsgesetz fest, dass erst dann Neuaufnahmen stattfinden mussten, wenn die Zahl der regimentsfähigen Geschlechter unter 236 sank. Freiburg und Bern suchten 1782 bzw. 1783 die innerhalb ihrer Patriziate herrschenden Unterschiede und zum Teil auch Spannungen zwischen patrizischen Familien adeliger und bürgerlicher Herkunft abzubauen, indem sie Letztere zur Führung des Adelspartikels «von» ermächtigten.

Quellen und Literatur

  • E. Brunner, «Patriziat und Adel im alten Bern», in BZGH 1964, 1-13
  • K. Messmer, P. Hoppe, Luzerner Patriziat, 1976
  • HbSG 2, 750-756
  • Peyer, Verfassung, 48-55, 107-116
  • A.-M. Dubler, Handwerk, Gewerbe und Zunft in Stadt und Landschaft Luzern, 1982, 120-134
  • Braun, Ancien Régime, 256-313
  • D. Schläppi, Die Zunftgesellschaft zu Schmieden in Bern zwischen Tradition und Moderne, 2001
Weblinks

Zitiervorschlag

Anne-Marie Dubler: "Patrizische Orte", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 27.09.2010. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/026422/2010-09-27/, konsultiert am 19.03.2024.