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Städtische Unruhen

Als städtische Unruhen werden soziale Konflikte, Protestbewegungen und Revolten des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit bezeichnet, die in der Regel auf eine Stadt beschränkt waren und politische, soziale, wirtschaftliche, rechtliche oder kulturell-religiöse Ursachen hatten. Die Konfliktlinie verlief zwischen der Stadtherrschaft (Stadtherr oder Rat) einerseits, der Bürgerschaft oder seltener der nicht-bürgerlichen Bevölkerung oder Sondergruppen andererseits. Konflikte zwischen einer Stadt und ihren abhängigen Landschaften werden dagegen als ländliche Unruhen bezeichnet, wobei sich beide Aspekte überlagern können (Waldmannhandel 1489, Könizer Aufstand 1513, städtische Unruhen in Luzern und Bern 1651-1653, Chenaux-Handel 1781-1784). Die Verlaufsformen und Aktionsmittel der städtischen Unruhen umfassen eine breite Palette: Wahlen und Abstimmungen, symbolische Aktionen und Demonstrationen, Verschwörungen und gerichtliche Prozesse sowie Gewaltausübung gegen Sachen und Personen. Während die Protestbewegungen von den Akteuren als «(Staats-)Reformation», «Renovation der Republik» und «Eidgenossenschaft» gedacht waren, sprachen die Ratsregimente von «Unruhen», «Verschwörung», «Rebellion», «Auflauf» und «Tumult» sowie neutrale Beobachter von «Wirren», «Affairen» oder «Händeln».

Historiografie

Die frühe liberale Geschichtsschreibung konzipierte ab dem 18. Jahrhundert die Schweizer Geschichte als Abfolge von ländlichen und städtischen Unruhen, die in die Helvetik, in die Regeneration und schliesslich in den Bundesstaat von 1848 mündete. Das freisinnige Bürgertum des 19. Jahrhunderts sah sich in der Tradition der «Zunftdemokratie» der städtischen Bürgerschaft des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit und die von oligarchischen Ratsklüngeln hingerichteten Rebellen als Vorkämpfer der liberalen Demokratie. Nach einigen Monografien zu städtischen Unruhen im frühen 20. Jahrhundert konzentrierte sich die Forschung ab den 1980er Jahren eher auf ländliche Unruhen. Erst spät wurden die Judenpogrome des Spätmittelalters (Antisemitismus), die Streiks von Gesellen und Hungerproteste des 18. Jahrhunderts als städtische Unruhen thematisiert. Städtische Unruhen erfassten als stadtinterne Konflikte die grossen Hauptstädte der Kantone ebenso wie kleinere Landstädte. Seltener waren Auflehnungen von Landstädten gegen die Hauptstadt. Begründet wurden die Beschwerden meist mit alten Rechten, die der Gemeinde oder den Zünften zugestanden hätten, nun aber vom Rat nicht mehr gewährt würden. Weil die Träger der städtischen Unruhen solche Rekurse auf alte Freiheitsbriefe auch zukunftsorientiert interpretierten, leiteten sie daraus oft einen Anspruch auf mehr Partizipation, bessere Kontrolle des Regiments und mehr Transparenz der Regierungstätigkeit ab. Gerade auf diese Forderungen nach mehr politischer Öffentlichkeit bezog sich dann die liberale Geschichtsschreibung.

Ursachen

Im Spätmittelalter entzündeten sich städtische Unruhen oft am Versuch der sich formierenden Stadtgemeinden, sich von der Stadtherrschaft zu lösen (z.B. Lausanne gegen den Bischof). Vor dem Hintergrund des schwachen Kaisertums machten sich etwa Zürich, Bern, Solothurn, Murten und Laupen im 13. Jahrhundert als Reichsstädte selbstständig. Andere vermochten ihre Stadtherren erst spät ganz aus der Stadt zu drängen, so Freiburg 1478 und Genf 1526 den Herzog von Savoyen, Chur 1524 bzw. 1526 und Basel 1521 bzw. 1529 ihren Fürstbischof. Parallel zu oder nach der Ablösung der Stadtherren kam es zu innerstädtischen Kämpfen um die Macht. Dabei handelte es sich einerseits um Elitekonflikte zwischen den städtischen Adeligen (Ministerialen) und den aufsteigenden nichtadeligen Kaufleuten, Rentnern und Wechslern (Bankiers), andererseits um Kämpfe zwischen diesen Eliten und den meist in Zünften organisierten Handwerkern. Die Bürger vermochten ihren Einfluss über den neu installierten Grossen Rat zu sichern, der oft nach einem bestimmten Schlüssel aus den Zünften gewählt wurde (Zunftstädte). Wo die Zünfte über weniger Gewicht verfügten, trat mit unterschiedlichem Erfolg die Bürgergemeinde als ganze auf (Bern, Genf, Luzern). In Bern führte die Doppelstellung vornehmer Adeliger, die zugleich Burger der Stadt und Inhaber ländlicher Gerichtsherrschaften waren, zum Twingherrenstreit. Die Bürger von über 20 Städten des eidgenössischen Gebiets vertrieben und ermordeten im Spätmittelalter die ansässigen jüdischen Gemeinden. Die Pogromwelle im Gefolge der Pest von 1348 traf die Juden in grossen und kleineren Städten des Mittellands. Spätere Wellen begrenzten sich 1401 auf die Ostschweiz oder in den 1420er Jahren auf Freiburg, Bern und Zürich.

Zu Beginn der frühen Neuzeit löste die Reformation in Zürich, St. Gallen, Chur, Bern, Basel, Solothurn sowie später in Genf mehr oder weniger heftige städtische Unruhen aus. Ausser in Solothurn gelang es den meist von Handwerkern und zum Teil auch von Ratsmitgliedern getragenen reformatorischen Bewegungen, den neuen Glauben durchzusetzen. Unabhängig von der Konfession tendierte die soziopolitische Entwicklung in den Städten zur Oligarchie. Die politische Elite monopolisierte in Freiburg 1627, in Bern 1643 und in Luzern 1773 als rechtlich abgeschlossenes Patriziat das aktive und passive Wahlrecht für den Rat und die einträglichen städtischen Ämter (Patrizische Orte). Auch in den Zunftstädten bildete sich eine sozial abgeschlossene Aristokratie. Der Widerstand gegen den Ausschluss aus der Politik wurde zu einer der Hauptursachen der städtischen Unruhen im 17. und 18. Jahrhundert. Während die patrizischen und aristokratischen Eliten die städtische Politik als ihre geheime Privatangelegenheit behandelten, beharrten die Zünfte und Bürger auf ihren – zum Teil in geschworenen Briefen und Verträgen zugesicherten – Rechten auf Kontrolle der Rechnungen und Teilhabe an Entscheidungsprozessen. Die Koinzidenz von städtischen Unruhen mit Missernten und Hungerkrisen ist für die Basler Wirren 1691 und für Genf (1698, 1749, 1789) festgestellt worden. Doch insgesamt fanden in der alten Eidgenossenschaft im Vergleich zu anderen Ländern nur wenig Hungerunruhen statt. Indirekte und direkte Steuern und ihre Verwendung waren eine häufige Konfliktursache im Spätmittelalter (z.B. Zürich 1336, Bern 1384), spielten aber nach der Reformation, abgesehen von Schaffhausen 1689 und Genf 1707, keine Rolle mehr. Die Aussenpolitik konnte dagegen bis ins 18. Jahrhundert Anlass zu städtischen Unruhen bieten, insbesondere die Allianz mit Frankreich (in Zürich 1614, 1658, 1777) oder der Zweite Villmergerkrieg 1712 (Luzern, Zürich), aber auch die Verstrickung in den Dreissigjährigen Krieg (Chur).

Konfliktformen und Träger

Hinrichtung des Verschwörers Samuel Henzi in Bern. Holzschnitt aus einer Sammlung verschiedener Schriftstücke, die unter dem Titel Verschwörung von 1749 herausgegeben wurden, 1749 (Burgerbibliothek Bern, Mss.h.h.XIV.70).
Hinrichtung des Verschwörers Samuel Henzi in Bern. Holzschnitt aus einer Sammlung verschiedener Schriftstücke, die unter dem Titel Verschwörung von 1749 herausgegeben wurden, 1749 (Burgerbibliothek Bern, Mss.h.h.XIV.70). […]

Schwörtage und Wahltermine waren oft der Anlass, an dem latente Spannungen manifest wurden. Im 17. Jahrhundert experimentierte man in Zürich und Bern mit verschiedenen Wahlverfahren (geheime Wahl, Loselemente, Rotationszwang), die das «Praktizieren» (Bestechen) einschränken sollten. Trotzdem äusserte sich in Bern im 18. Jahrhundert bei den etwa alle zehn Jahre stattfindenden Ergänzungen des Grossen Rats deutlicher Unmut über die Vetternwirtschaft der regierenden Familien. Meist formulierten Mitglieder aus Familien, die nicht mehr im Rat vertreten waren, ihre Kritik mit heimlich verteilten Spottversen oder auch handschriftlich oder gedruckt verbreiteten Broschüren. Gelegentlich kam es zu verbotenen Versammlungen, 1749 zur Henzi-Verschwörung mit weitreichenden Reformplänen. Mit bewaffneter Gewalt verliefen vor allem städtische Unruhen im Spätmittelalter (Brun'sche Zunftrevolution, Mordnächte) sowie die Judenpogrome. Zu den symbolischen Aktionen gehören die öffentliche Versammlung vor dem Rathaus (Basel 1528, 1691, Zürich 1713, 1777), die Belagerung des Rathauses und Gefangensetzung des Rats (Basel 1691) oder Predigten und reformatorisches Theater (Zürich, Bern 1520er Jahre). Spätestens seit den Basler Wirren (1691) erzeugten städtische Unruhen ein grosses Presseecho in den Zeitungen Europas. Die Henzi-Verschwörung und die Auseinandersetzungen nach dem Chenaux-Handel (Après-Chenaux 1782-1784) sowie vor allem die Genfer Revolutionen des 18. Jahrhunderts wurden – unter anderem von Jean-Jacques Rousseau und Voltaire – in der europäischen Presse breit diskutiert, insbesondere auch in den calvinistischen Ländern. Städtische Unruhen erlebten vom 15. bis ins 18. Jahrhundert oft eine eidgenössische Vermittlung, bei der ad hoc bestimmte oder von der Tagsatzung delegierte Politiker die Konflikte zu schlichten suchten. Nach 1648 liessen die Hauptstädte die eidgenössische Vermittlung nur noch widerstrebend (Basel 1691, Freiburg 1782-1784) oder gar nicht mehr zu (Zürich 1713 und 1777, Bern 1749), während Genf von 1707 bis 1782 mehrmals auf die Intervention von Bern, Zürich und Frankreich angewiesen war. Neben den von Zünften (Zürich 1336, 1520er Jahre, 1713, 1777) getragenen städtischen Unruhen oder den von Handwerksgesellen (Genf zwischen 1533 und 1794, Basel 1794) ausgerufenen Streiks kam es auch zu Einzelaktionen (Jean Daniel Abraham Davel, Gaudot-Affäre 1768, Meister- und der Waserhandel 1769 und 1780 in Zürich) oder sogenannten Verschwörungen kleiner Kreise (Pfyffer-Amlehn-Handel in Luzern 1559-1573, Komplott Gallatin in Genf 1698). Die städtischen Schichten ohne Bürgerrecht meldeten sich selten zu Wort. Nur in Genf bildeten die Natifs den Kern der Opposition ab den 1770er Jahren und in Lugano forderten die cittadini antichi (nach 1467 zugewandert) und die avventizzi (Zugezogene) ab dem 17. Jahrhundert von den vicini (Alteingesessene) mehr Partizipation, erlangten aber erst 1787 Erfolge. Frauen spielten kaum eine sichtbare Rolle in städtischen Unruhen; ihr Wirken im Hintergrund ist noch wenig erforscht. Besser zu fassen ist dagegen die Rolle der reformierten Pfarrerschaft, die von den Ratsherren sittenstrenge Politik und tugendhaftes Verhalten einforderte.

Ergebnisse

Während städtische Unruhen im Spätmittelalter mitunter zur Vertreibung des Stadtherrn oder zum Machtwechsel – neue Eliten (Bürger, Handwerker) ersetzen alte (Adelige, Kaufleute) – führten, ging es in der frühen Neuzeit nur noch um Machtbegrenzung und -teilhabe, denn die in den städtischen Räten vertretenen Familien konnten sich ab dem 16. Jahrhundert immer besser gegen Aufsteiger behaupten. Immerhin gelang es den Bürgern in Bern (1680er Jahre), Schaffhausen (1689), Basel (1691) und Zürich (1713), den Grossen Rat bzw. die Zünfte gegenüber dem Kleinen Rat zu stärken. Zu weit gehende Forderungen wehrten die regierenden Familien aber mit zum Teil drastischen Repressionsmassnahmen ab: Unzufriedene wurden verbannt oder gar hingerichtet wie 1691 Johannes Fatio in Basel, 1707 Pierre Fatio in Genf oder 1749 Samuel Henzi in Bern. Während die adeligen Stadtherren im Spätmittelaler ungehorsame Landstädte, die mit fremden Herren Burgrechte eingingen (Richensee, Sempach, Willisau in den 1380er Jahren), mit deren Zerstörung bestraft hatten, so entzogen die Hauptstädte der eidgenössischen Orte jenen Städten wichtige Kompetenzen oder das Stadtrecht, die sich in Konflikten auf die «falsche» Seite gestellt hatten, wie Bremgarten, Rapperswil und Baden in den Konfessionskriegen 1531 und 1712, Olten und Wiedlisbach im Bauernkrieg von 1653, Stein am Rhein 1783-1784 wegen Anrufung der Reichsgerichte. Von der Stadt Bern militärisch besetzt wurden die Landstädte, die sich in der Helvetischen Revolution im Frühjahr 1798 emanzipieren wollten (Aarau, Aarburg, Brugg, Zofingen). Dagegen kam es in Basel, Lausanne, Lucens, Luzern, Zürich und Schaffhausen zum Sturz der alten Eliten durch die Patrioten, die sich zum Teil auf die Unterstützung der Landgebiete verlassen konnten.

Quellen und Literatur

  • P. Felder, «Ansätze zu einer Typologie der polit. Unruhen im schweiz. Ancien Régime 1712-1789», in SZG 26, 1976, 324-389
  • Braun, Ancien Régime, 256-313
  • K. Simon-Muscheid, Basler Handwerkszünfte im SpätMA, 1988
  • M. Michaud, «L'après-Chenaux: Les troubles en ville de Fribourg», in Ann. frib. 60, 1992/93, 7-56
  • S. Burghartz, «Frauen - Politik - Weiberregiment», in Frauen in der Stadt, hg. von A.-L. Head-König, A. Tanner, 1993, 113-134
  • R. Graber, Bürgerl. Öffentlichkeit und spätabsolutist. Staat, 1993
  • L. Wiedmer, Pain quotidien et pain de disette, 1993
  • L. Mottu-Weber, «"Tumultes", "complots" et "monopoles"», in Des archives à la mémoire, hg. von B. Roth-Locher et al., 1995, 235-256
  • A. Würgler, Unruhen und Öffentlichkeit, 1995
  • A. Würgler, «Revolution aus Tradition», in Revolution und Innovation, hg. von A. Ernst et al., 1998, 79-90
  • M. Stercken, «Stadtzerstörungen durch die Herrschaft und infolge Konfliktsituationen im 13. und 14. Jh.», in Stadtzerstörung und Wiederaufbau 2, hg. von M. Körner, 2000, 53-76
  • R. Gerber, Gott ist Burger zu Bern, 2001
  • G. Ehrstine, Theater, Culture, and Community in Reformation Berne, 1523-1555, 2002
  • O. und N. Fatio, Pierre Fatio et la crise de 1707, 2007
Weblinks

Zitiervorschlag

Andreas Würgler: "Städtische Unruhen", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 16.02.2012. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/025758/2012-02-16/, konsultiert am 19.03.2024.