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Vereine

Vereine sind Körperschaften, die auf einem Zusammenschluss von Personen (in den Anfängen des Vereinswesens oft nur von Männern) basieren, welche sich regelmässig treffen und im Rahmen ihrer Organisation selbst gesteckte Ziele verfolgen. Die Mitgliedschaft ist freiwillig, die Mitglieder sind grundsätzlich gleichberechtigt, wobei die in Statuten schriftlich festgehaltenen Regeln und Kriterien über den Zweck, die Aufnahme oder den Ausschluss von Mitgliedern, die Befugnisse von Mitgliederversammlung und Vereinsvorstand usw. bestimmen. Rechtsgrundlage sind Artikel 60-79 des Schweizerischen Zivilgesetzbuches (ZGB).

Vom 17. bis ins frühe 19. Jahrhundert

Die Reformgesellschaften

Vielfältige Formen der Geselligkeit prägten auch in der Schweiz das «gesellige Jahrhundert» (Ulrich Im Hof). Als Institutionen einer aufklärerischen Soziabilität (Aufklärung) waren die Sozietäten des 18. Jahrhunderts auf den Zweck der Reform in Staat, Kirche und ständischer Gesellschaft angelegte, von staatlicher oder kirchlicher Obrigkeit nicht direkt abhängige, sondern primär freiwillige Zusammenschlüsse einzelner Personen, die in der Regel der gesellschaftlichen Elite entstammten. Durch ihr kritisches Räsonnement über alle Fragen ihrer Zeit gehörten sie zu den hauptsächlichen Trägern der entstehenden politischen Öffentlichkeit.

Kuriositätenkabinett. Radierung von Johann Rudolf Schellenberg nach Johann Martin Usteri, erschienen im Neujahrsblatt der Naturforschenden Gesellschaft Zürich, 1799 (Zentralbibliothek Zürich, Graphische Sammlung und Fotoarchiv).
Kuriositätenkabinett. Radierung von Johann Rudolf Schellenberg nach Johann Martin Usteri, erschienen im Neujahrsblatt der Naturforschenden Gesellschaft Zürich, 1799 (Zentralbibliothek Zürich, Graphische Sammlung und Fotoarchiv). […]

Die schweizerische Sozietätsbewegung war Teil der europäischen Akademiebewegung (Akademien) und brachte zwischen 1600 und 1798 ca. 150 konkret fassbare Reformgesellschaften hervor. Nach frühen Bibliotheksgesellschaften (Zürich 1629-1916, Schaffhausen 1636-19. Jh.), die später obrigkeitliche Anerkennung erhielten, entstand als erste bedeutende Sozietät in der Schweiz nach dem Vorbild ausländischer Akademien das Collegium Insulanum (Zürich 1679-1709). Als gelehrte Sozietät beschäftigte es sich mit neuen Erkenntnissen aus den Naturwissenschaften, der Medizin und der auf die Praxis der Pfarrer ausgerichteten Theologie. Bildung für ein nicht fachgelehrtes Publikum, Sprachverbesserung und Literaturkritik vermittelten ab 1720 die deutschen Sprachgesellschaften (Bern 1739-1747, Basel 1743-1761) und die literarischen Gesellschaften; die Verfassergesellschaften der Moralischen Wochenschriften (Gesellschaft der Mahler in Zürich 1720-1722/1723, Neue Gesellschaft in Bern 1721-1724) bezweckten darüber hinaus publizistische Kritik und Reform von Denkweisen, Sitten und Moral im Alltagsleben. Ganz der praktischen Reform in Schulwesen, Sozialfürsorge und Hauswirtschaft widmeten sich die gemeinnützigen Gesellschaften (Moralische Gesellschaft in Zürich 1764-1862, Gesellschaft für das Gute und Gemeinnützige in Basel seit 1777). Theoretische Erkenntnis und praktische «Verbesserung» verknüpften die ökonomischen Gesellschaften bei der Förderung von Landwirtschaft, Gewerbe und Industrie; sie erlebten ihre Blütezeit in den 1760er und 1770er Jahren. Parallel dazu, aber lang anhaltend wuchs die Zahl der Lesegesellschaften, die das gemeinsame Lesen und die Rezeption neuer Bücher förderten. Die naturforschenden Gesellschaften führten die Linie der gelehrten Gesellschaften popularisierend weiter. Die patriotischen Gesellschaften erforschten die Quellen der vaterländischen Geschichte und lehrten die Söhne der herrschenden Familien republikanische Staatskunde. Die militärischen Gesellschaften (Militärische Vereine) als Sonderfall in einem Milizsystem schliesslich verbanden die Tradition der Schützengesellschaften (Schützenwesen) mit naturwissenschaftlichen Erkenntnissen (Mathematisch-militärische Gesellschaft Zürich, seit 1765).

Die wichtigste Schweizer Sozietät des 18. Jahrhunderts war die sich jährlich zunächst in Schinznach versammelnde Helvetische Gesellschaft, deren Programm das ganze Spektrum der aufgeklärten Reformdiskussion der Schweizer Sozietäten umfasste. An sie angelehnt entstand 1779 die Helvetisch-militärische Gesellschaft, der als gesamtschweizerisch konzipierte Zusammenschlüsse auf dem Gebiet der Medizin und der Naturwissenschaften die Helvetische Gesellschaft korrespondierender Ärzte und Wundärzte (Zürich 1788/1791-1807) und die Allgemeine helvetische Gesellschaft der Freunde der vaterländischen Physik und Naturgeschichte (Herzogenbuchsee 1797) folgten.

Treibende Kräfte, Verbreitung und innere Ordnung

Einzelne Organisatoren bildeten als Gründer, Präsidenten oder Sekretäre an ihrem Wirkungsort einen gesellschaftlich-kulturellen Mittelpunkt und hielten die Reformbestrebungen in Bewegung: in Basel der Ratsschreiber Isaak Iselin (1728-1782), in Zürich die Literaten und Professoren Johann Jakob Bodmer (1698-1783) und Johann Jakob Breitinger (1701-1776) sowie der Arzt und Professor Johann Heinrich Rahn (1749-1812), in Bern unter anderem die Patrizier Niklaus Emanuel (1727-1794) und Vinzenz Bernhard Tscharner (1728-1778) und in Genf der Apotheker und Naturforscher Henri-Albert Gosse (1753-1816).

Die Verbreitung der einzelnen Gesellschaftstypen widerspiegelt den Verlauf des Aufklärungsprozesses vom exklusiven Gelehrtenzirkel zur populären Lesegesellschaft und vom hauptstädtischen Zentrum (Zürich, Bern, Basel, Genf) über die kleinere regierende Stadt (Schaffhausen, St. Gallen, Chur, Biel) und die Munizipalstadt (Winterthur, Lausanne) zur untertänigen Landschaft (Toggenburg, Waadt, Zürichseegebiet). Die Bewegung war auf protestantische Territorien konzentriert; von den katholischen Orten wiesen Solothurn mehrere sowie Freiburg, Luzern und Nidwalden kurzlebige Gründungen auf. Die Innerschweiz besass allerdings in der Helvetischen Konkordiagesellschaft, die ihre barock-repräsentativen Tagungen an wechselnden Orten abhielt, ein Gegenstück zu der sich auf konfessionelle Toleranz hin orientierenden Schinznacher Gesellschaft. Nach Sprachgebieten dominierte die Deutschschweiz, sowohl bezüglich der Anzahl Organisationen als auch nach der Anzahl Mitglieder in überregionalen Gesellschaften.

«Gesetze» formulierten den Zweck des Zusammenschlusses, legten die Rechte und Pflichten der Mitglieder, die Beitritts- und Finanzierungsmodalitäten sowie die Aufgaben der Organe und die Ämterverteilung fest; sie galten als Garanten des Zusammenhalts und der Dauer. Mit der Verabschiedung der Statuten wurde der Gründungsakt vollzogen. Die Gleichrangigkeit der Mitglieder innerhalb derselben Kategorie war konstitutiv. Grössere Sozietäten unterschieden zwischen aktiv mitarbeitenden, vollberechtigten ordentlichen Mitgliedern (membra ordinaria) und auswärtigen oder Ehrenmitgliedern (membra honoraria), die dank Mehrfachmitgliedschaften zu überregionaler Vernetzung und Anerkennung verhalfen. Vereinzelt gab es die Aufteilung der Funktionen in eine Hauptversammlung mit primär repräsentativem Charakter, ein eigentliches Entscheidungsgremium und einen vorberatenden Ausschuss. Die Disziplin nach innen war wichtig: Die Reihenfolge der Vorträge nach bestimmten Prinzipien, Bussen bei Absenzen oder Zuspätkommen, das Verbot, zu rauchen und Wein zu trinken, und die Weisung, einander nicht ins Wort zu fallen, dienten der Einübung einer neuen Form gesellschaftlichen Umgangs. Ämterrotation wirkte der Machtkonzentration und Aristokratisierung entgegen. Nüchternheit und Arbeitsamkeit grenzten gegen die verpönten Trink- und Spielgesellschaften auf den Zunftstuben und in den Wirtshäusern ab (Trinkstuben). Organisationsgeschichtlich stellten die Sozietäten den Übergang von der altständischen Korporation zur modernen Massenorganisation her.

Wirksamkeit

Der Wirkung nach innen auf die eigenen Mitglieder (Selbstbildung durch gemeinsame Lektüre, gegenseitige Belehrung und eigene Untersuchungen) stand die Wirkung nach aussen auf ein breiteres Publikum gegenüber («Aufklärung» durch Verbreitung und praktische Anwendung neuen Wissens in der Öffentlichkeit). Grössere Gesellschaften publizierten die Ergebnisse ihrer internen Aktivitäten in Zeitschriften oder Sammelbänden (u.a. «Abhandlungen und Beobachtungen durch die ökonomische Gesellschaft zu Bern gesammelt» 1762-1773, «Abhandlungen der Naturforschenden Gesellschaft in Zürich» 1761-1766). Mitglieder waren vorwiegend jüngere, noch nicht zu Ämtern gelangte städtische Patrizier, Vertreter der bürgerlichen Intelligenz ― wie Geistliche, Professoren, Ärzte und Juristen ― sowie Kaufleute, also Angehörige einer begüterten, gebildeten Oberschicht. Bauern wie der Zürcher «Kleinjogg» (Jakob Gujer) waren die berühmten Ausnahmen. Nur vereinzelt traten Frauen auf. Immerhin verstärkte sich ihr Anteil gegen Ende des 18. Jahrhunderts (Zürcherische Frauenzimmergesellschaft auf Zimmerleuten 1784-1798/1806).

Die Wirksamkeit der Sozietäten lag mehr im Erwerb neuer theoretischer Erkenntnisse als bei deren praktischer Umsetzung. Das bestehende politische System und Interessenkollisionen mit den herrschenden Schichten hielten die Reformpostulate in engen Grenzen. Die Gesellschaften verstanden sich nicht als Opposition zu Staat und Kirche, sondern als deren Ergänzung in bisher vernachlässigten Gebieten oder bei sich in der wandelnden Gesellschaft neu stellenden Aufgaben. Schweizer Sozietäten wie die Berner Ökonomische Gesellschaft (seit 1759) und die Deutsche Christentumsgesellschaft in Basel (1779/1780-2003) hatten eine Ausstrahlung weit über die Landesgrenzen hinaus. Das aufklärerische Ziel der allgemeinen Glückseligkeit blieb aber auch in der Schweiz Utopie. Die tatsächlichen Leistungen der Schweizer Vereinigungen bestanden lokal in beschränkten Verbesserungen und überregional in der Förderung eines eidgenössischen Zusammengehörigkeitsgefühls.

Konflikte, Umwälzungen und Kontinuität

Direkte Einwirkungen der Obrigkeiten waren selten, die Sozietäten befolgten eine vorsichtige Selbstbeschränkung. Gravierend war der Eingriff in die Aktivitäten der Ökonomischen Patrioten durch die Berner Regierung um 1766, als jene sich mit Bevölkerungsstatistiken und Fragen der Bevölkerungsentwicklung beschäftigten und dabei geheime Staatssachen tangierten. Am schärfsten war die Reaktion der Zürcher Obrigkeit gegen die aus ihrer Sicht aufrührerischen Umtriebe im Stäfnerhandel 1794-1795, in den auch die Lesegesellschaften am Zürichsee verwickelt waren. In Genf geriet das Sozietätswesen ab 1782 in den Strudel der politischen Ereignisse, die in manchem die Französische Revolution vorwegnahmen.

Nur wenige Sozietäten blieben vom politischen Umsturz von 1798 gänzlich unberührt und arbeiteten ungestört weiter. Die meisten unterbrachen ihre Aktivitäten abrupt, nahmen sie indessen in mehr als der Hälfte aller Fälle in den ersten zwei Dezennien des 19. Jahrhunderts in der gleichen Organisation wieder auf, zum Teil allerdings mit verlagerter Zielsetzung. Etliche Lesegesellschaften entpolitisierten sich und betonten den gesellig-unterhaltsamen Aspekt stärker. Untergegangene Gesellschaften fanden grösstenteils Nachfolgeorganisationen mit ähnlichen Zielen. Daraus ergab sich eine grössere Kontinuität der Sozietätsbewegung vom 18. bis zum 19. Jahrhundert, als der politisch-verfassungsrechtliche Einschnitt hätte erwarten lassen.

19. und 20. Jahrhundert

Zahlenmässige Entwicklung

Das 19. Jahrhundert ist das «Jahrhundert der Vereine». Gesellschaften und Vereine als neue Formen der Geselligkeit der sich entwickelnden bürgerlichen Gesellschaft entstanden in grosser Zahl. Das von ihnen abgedeckte Spektrum gesellschaftlichen und geselligen Tuns reichte von Schützen-, Gesangs- und Musikvereinen über Studentenverbindungen bis zu Armen- und Missionsvereinen.

Eng verknüpft mit den politischen und sozialen Verhältnissen und Veränderungen in der Schweiz hat sich die Zahl und die Art der Vereine bis zum Ersten Weltkrieg entwickelt. Bis 1848 können rund ein Sechstel aller bis 1914 erfassten Vereine nachgewiesen werden. Nach 1860 nahm die Zahl der Vereine rasch zu, rund die Hälfte entstand nach 1880. Diese Verdichtung entspricht weitgehend der wirtschaftlichen und demografischen Entwicklung in der Schweiz. Ihren Höhepunkt erreichte die Welle der Vereinsgründungen um die Wende zum 20. Jahrhundert. Auf 1000 Einwohner entfielen zu dieser Zeit rund zehn Vereine. Im gesamten 19. Jahrhundert wurden in der Schweiz mindestens 30'000 Vereine gegründet. Im 20. Jahrhundert nahm die Zahl der Vereine weiter zu. Am Ende des 20. Jahrhunderts gab es in der Schweiz schätzungsweise 100'000 Vereine.

Im Zeichen von Aufklärung, Liberalismus und nationalem Zusammenschluss

Die jeweiligen politischen Umstände und das Vereinswesen beeinflussten sich gegenseitig. Aufbauend auf den aufklärerischen Sozietäten des Ancien Régime, unterstützte die Helvetische Republik den Vereinsgedanken und die damit verbundenen bürgerlichen Ideen einer gesellschaftlichen Emanzipation. In der Restauration entstanden weitere kulturelle und gemeinnützige Vereine, in denen sich die einem gemässigten Liberalismus verbundenen Bürger zusammenfanden. Die Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft, die 1810 mit dem Ziel gegründet worden war, das Erbe der aufgeklärten Philanthropie in die bürgerliche Gesellschaft einzubringen, entwickelte sich in der Folge zu einem Forum, in dem die Probleme der Modernisierung von Wirtschaft, Gesellschaft und Staat diskutiert wurden, sowie zu einer Schrittmacherin in der Sozial- und Schulpolitik.

Die neuen Gesellschaften trugen dazu bei, den Boden für die Regeneration von 1830-1831 und die Gründung des Bundesstaats von 1848 vorzubereiten, indem sie eine politische Öffentlichkeit schufen, in der neue Formen des Zusammenseins und der ungehinderte Austausch von Ideen ebenso vorgelebt wurden wie die Gleichberechtigung der Mitglieder. Die Verfassungen der regenerierten Kantone und die Bundesverfassung von 1848 garantierten dann die Vereinsfreiheit.

Bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts schlossen sich viele der ursprünglich lokalen und regionalen Vereine zu nationalen Verbänden zusammen, so zum Schweizerischen Kunstverein 1806, zur Schweizerischen Musikgesellschaft und zur Schweizerischen Gesellschaft zur Beförderung des Erziehungswesens, die beide 1808 gegründet wurden, zur Schweizerischen Geschichtforschenden Gesellschaft 1811 (Allgemeine Geschichtforschende Gesellschaft der Schweiz) und zur Schweizerischen Naturforschenden Gesellschaft 1815. Zu den Vereinen mit ausgeprägt nationalem politischen Profil und zu den Trägern der liberalen Bewegung gehörten etwa der Eidgenössische Turnverein (1832, Sportverbände), der Grütliverein (1838), die Studentenverbindungen Schweizerischer Zofingerverein (1819) und Helvetia (1832) oder der Schweizerische Nationalverein (1835), der mit dem ausdrücklichen Ziel geschaffen wurde, die politischen Errungenschaften der liberalen Kantone gegen die Konservativen zu verteidigen. Vereine waren im 19. Jahrhundert denn auch in erster Linie eine liberal-radikal-protestantische Angelegenheit und entstanden in weit grösserer Zahl in städtischen und industrialisierten ländlichen Gebieten als in agrarischen Regionen.

Politische Funktionen

Die Bundesstaatsgründung hatte weitreichende Konsequenzen für die Entwicklung der Vereine. Da es lange Zeit auf nationaler Ebene keine politischen Parteien gab, übernahmen die Vereine die Vermittlerrolle zwischen den Bürgern und dem Staat. Ihnen kam die Aufgabe zu, die wirtschaftlichen, politischen oder kulturellen Interessen ihrer Mitglieder gegenüber dem zusehends zentralistischen Staat und seiner Verwaltung zu vertreten. Um besondere Gruppeninteressen auf nationaler Ebene durchzusetzen, entstanden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vermehrt Vereine mit speziellen Zielen, die sich in gesamtschweizerischen Dachverbänden zusammenschlossen. In dieser Zeit erhielt das Vereinswesen zunehmend eine wirtschaftspolitische Ausrichtung, die sich vom vornehmlich kulturellen und philanthropischen Engagement vieler Vereine in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts unterschied. Diese Differenzierung und Neuausrichtung der Vereine liess auch neue Vereins-Kategorien wie die Unternehmerverbände und die Arbeitnehmerverbände entstehen. Da diese Organisationen vielfach ihren Ursprung im Vereinswesen hatten und oft noch heute als Vereine organisiert sind, ist eine eindeutige Zuordnung zuweilen schwierig. Das Bürgertum schuf zur Wahrung und Durchsetzung seiner wirtschaftlichen Interessen Verbände wie den Schweizerischen Handels- und Industrieverein (1870), den wichtigsten Interessenverband der modernen Schweiz, oder den Schweizerischen Gewerbeverband (1879). Mit dem Schweizerischen Bauernverband entstand 1897 ein weiterer einflussreicher Spitzenverband.

Diese Vereine übernahmen auch staatliche Aufgaben, für die dem Staat oft die Mittel fehlten, etwa für die Erstellung von Statistiken oder für Erhebungen und Umfragen. Zudem konnten sie ihre Meinung in den breit angelegten Vernehmlassungsverfahren einbringen. Diese Interaktion zwischen den Behörden und den Verbänden verwischte zusehends die Trennung der Kompetenzen. Bald übernahmen die Verbände auch die Ausführung der Gesetze und Beschlüsse, zu deren Entstehung sie massgeblich beigetragen hatten. Die enge Verflechtung des politischen Lebens mit der Tätigkeit der Vereine manifestierte sich auch in der Tatsache, dass für die Erlangung von politischen Ämtern die Mitgliedschaft und das Engagement in Vereinen vielfach eine unabdingbare Voraussetzung war.

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts entstanden vermehrt politische Vereine oder Parteien. Nach dem liberalen Umschwung von 1830-1831 kam es zu ersten Gründungen von Organisationen mit teils parteipolitischen Zügen. Doch die eigentliche Gründungsphase von politischen Vereinen und Parteien setzte erst um 1880 ein und erstreckte sich bis zum Ersten Weltkrieg. Bezeichnend für die politischen Kräfteverhältnisse war, dass es in dieser Zeit viermal mehr liberal-freisinnige als katholisch-konservative politische Vereine und Parteien gab und die Sozialdemokraten als Vertreter der Arbeiterschaft noch relativ unbedeutend waren.

Katholisches Vereinswesen

Für die Katholiken waren die Vereine eine gesellschaftliche Organisationsform, die dem Liberalismus und Radikalismus mit ihren egalitären Postulaten angemessen schien. In ihrem Kampf gegen den liberalen Staat schufen die Katholiken dennoch mit einem gewissen Erfolg vergleichbare gesellschaftliche Bewegungen, namentlich den Schweizerischen Studentenverein (1841) und den Piusverein (1857). In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde das Vereinswesen für Katholiken, die ausserhalb ihrer ländlich-bäuerlichen Stammlande lebten, aber auch im Zeichen des Kulturkampfs, zur wichtigsten Organisations- und Mobilisationsform. Das in der Diaspora aufgebaute Netz von Vereinen und Institutionen sorgte dafür, dass die Katholiken in ihrer Freizeit soziale Kontakte möglichst nur im katholischen Milieu pflegten. Der organisatorische Polyzentrismus zwischen Stammlanden und Diaspora wurde 1903 mit dem ersten schweizerischen Katholikentag und der 1904 folgenden Gründung des Schweizerischen Katholischen Volksvereins aufgehoben. Wichtigstes Ziel des katholischen Vereinswesens war es, die Werte der katholischen Kirche zu vermitteln und die Katholiken in ihrem Katholischsein zu bestärken. Die meisten Vereine gaben sich allerdings unpolitisch. Sie organisierten in erster Linie das Besitz- und Bildungsbürgertum.

Arbeitervereine

Plakat in Fotomontagetechnik, das auf eine in Oerlikon stattfindende Ausstellung der Vereinigung der Arbeiter-Fotografen hinweist, 1933 (Gretlers Panoptikum zur Sozialgeschichte, Zürich).
Plakat in Fotomontagetechnik, das auf eine in Oerlikon stattfindende Ausstellung der Vereinigung der Arbeiter-Fotografen hinweist, 1933 (Gretlers Panoptikum zur Sozialgeschichte, Zürich). […]

Die Arbeitervereine sozialistischer Prägung schlossen sich 1880 im Schweizerischen Gewerkschaftsbund zusammen, während sich die christlich (v.a. katholisch) gesinnte Arbeiterschaft im Rahmen der Christlichsozialen Bewegung organisierte. Der Grossteil der Arbeiterorganisationen entstand erst nach 1890. Ihre Zahl war aber weit geringer als jene der bürgerlichen Wirtschaftsorganisationen. Um sich vom bürgerlichen Vereinswesen abzugrenzen, gründete die Arbeiterschaft Ende des 19. Jahrhunderts Parallelverbände wie den Schweizerischen Arbeiter-, Turn- und Sportverband (Satus), Naturfreunde-, Sänger-, Schützen- und Jodlervereine. Neben der institutionellen Trennung ging es den Arbeitern auch darum, sich kulturell zu emanzipieren. Das Verhältnis der Arbeiterkultur zur dominanten bürgerlichen Kultur blieb allerdings geprägt durch eine «eigentümliche Gleichzeitigkeit von Nähe und Distanz» (Schwaar, 1992). Die zumindest partielle Trennung der Arbeitervereine von ihren bürgerlichen Pendants und die damit verbundene gegenkulturelle Programmatik löste sich nach der Annäherung der Arbeiterschaft an den bürgerlichen Staat im Zeichen der Geistigen Landesverteidigung in den 1930er Jahren allmählich auf. Endgültig aufgegeben wurde die selbstgewählte Isolation erst um 1960. Die zunehmende Entpolitisierung wird illustriert durch die Tatsache, dass sich der Satus seit 1994 als politisch, wirtschaftlich und konfessionell unabhängig bezeichnet.

Frauenvereine

Bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden in der Schweiz weit über hundert Frauenvereine gegründet, die aber oft nur kurze Zeit existierten, wie etwa jene, die in den Krisen- und Hungerjahren 1816-1817 ins Leben gerufen wurden, um die Not zu lindern, und die sich nach getaner Arbeit wieder auflösten. Diese frühen Frauenvereine waren meist Organisationen, die Männervereinen zudienten und direkt oder indirekt männlicher Leitung unterstanden. Im Einklang mit der traditionellen Rollenverteilung übernahmen die Frauenvereine gemeinnützige und wohltätige Aufgaben wie Krankenpflege, Armenfürsorge, die Beaufsichtigung von Arbeitsschulen oder die Betreuung von weiblichen Gefangenen. Vor allem in den reformierten Regionen leisteten sie damit einen Dienst an der Gesellschaft, der in der katholischen Schweiz vielfach von Ordensfrauen, aber auch von den 1912 im Schweizerischen Katholischen Frauenbund zusammengeschlossenen katholischen Frauenvereinen erfüllt wurde. Eine wichtige Nebenwirkung der Armenerziehung und Arbeitsvermittlung war die soziale Kontrolle der Unterschichten, denen auf diesem Weg bürgerliche Lebensformen und Verhaltensweisen anerzogen werden sollten. In den 1880er Jahren engagierten sich viele Frauenvereine im Rahmen der europäischen Abolitionismus-Bewegung.

Die ersten feministischen Frauenorganisationen waren die Association internationale des femmes (1868-1870) und ihre Nachfolgeorganisation Solidarité ― Association pour la défense des droits de la femme (1872-1880). Gegen Ende des 19. Jahrhunderts entstanden Frauenvereine wie die Union des femmes de Genève (1881) oder der Verein Frauenbildungs-Reform (1892) und die daraus hervorgegangene Union für Frauenbestrebungen (1896), die sich für eine Verbesserung der rechtlichen und sozialen Stellung der Frau einsetzten. 1900 wurde mit dem Bund Schweizerischer Frauenorganisationen ein gesamtschweizerischer Dachverband gegründet, der sich zur Vermittlerinstanz zwischen den Interessen der Frauen und den Behörden entwickelte. Die Forderung nach Gleichberechtigung der Frauen wurde zu einem zentralen Anliegen der Frauenbewegung.

Ausländervereine

Bereits im 19. Jahrhundert organisierten sich Ausländer. Deutsche Immigranten schufen in den 1830er Jahren Arbeiterbildungsvereine (Deutsche Arbeitervereine). 1900 gründeten in die Schweiz geflohene italienische  Sozialisten eine eigene Partei, den Partito Socialista Italiano. Daneben gab es andere, kulturell-gesellig orientierte Italienervereine. Ein Grossteil dieser Vereine geriet in den 1920er Jahren unter den Einfluss und die Kontrolle von Mussolinis Regime.

Fest- und Freizeitkultur

Erinnerungsblatt zum Eidgenössischen Sängerfest in Basel im Jahr 1852, das vom Eidgenössischen Sängerverein organisiert wurde (Staatsarchiv Basel-Stadt, SMM Inv. AB. 65).
Erinnerungsblatt zum Eidgenössischen Sängerfest in Basel im Jahr 1852, das vom Eidgenössischen Sängerverein organisiert wurde (Staatsarchiv Basel-Stadt, SMM Inv. AB. 65). […]

Im Lauf der Zeit veränderte sich die innere Struktur der Vereine, die sich in den 1840er und 1850er Jahren dem breiten Publikum öffneten und zu Massenorganisationen wurden. Um dennoch den Zusammenhalt aufrechtzuerhalten, entwickelten sich die Jahresversammlungen zu mondänen oder spektakulären Anlässen. Die bescheidene und regelmässige Soziabilität der Biedermeierzeit machte periodischen Grossveranstaltungen Platz. Die eidgenössischen Feste markieren für viele Vereinsmitglieder den Höhepunkt des Vereinslebens. Sie haben eine lange Tradition, die bis in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts zurückreicht. Der Schweizerische Schützenverein feierte bereits 1824 sein erstes eidgenössisches Verbandsfest. 1832 folgten die Turner und 1843 die Sänger. In dieser Zeit hatten die Feste als Foren des liberalen Bürgertums eine wichtige Bedeutung. Diese politische Dimension wurde im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts weitgehend an die Parteien und Interessenverbände abgetreten. Die «Eidgenössischen» mit ihrer medialen Präsenz stellen aber noch immer eine Plattform dar, die Regierungsmitgliedern und Exponenten von politischen Parteien dazu dient, ihre Ansichten und Anliegen unters Volk zu bringen.

Trotz der ungebrochenen Popularität ihrer Verbandsfeste haben die traditionellen Vereine im Lauf des 20. Jahrhunderts an gesellschaftlicher Bedeutung verloren, was nicht zuletzt die Tatsache belegt, dass sich die Trägerschaft vom politisch engagierten Bürgertum des 19. Jahrhunderts zum wenig politisierten unteren Mittelstand verlagert hat. Das Vereinsleben, im 19. und frühen 20. Jahrhundert das wichtigste organisierte Freizeitangebot der Gesellschaft, steht in Konkurrenz zu einer ständig wachsenden Zahl anderer Möglichkeiten der Freizeitgestaltung. Ein Teil der Jugend, vor allem in den urbanen Gebieten, interessiert sich nicht mehr für die von vielen Vereinen angebotenen traditionellen Formen der Geselligkeit und Betätigung und geht auch in der Freizeit eigene Wege. Vereine spielen aber vorab in ländlichen Gebieten und konservativen Milieus nach wie vor eine wichtige Rolle. In den 1980er Jahren gaben 56% der Einwohner der Schweiz an, Mitglied einer oder mehrerer Vereinigungen zu sein. Am meisten Mitglieder wiesen die Sportclubs und Turnvereine mit Anteilen von jeweils 10% aus. Mehr als 5% der Bevölkerung gehörten jeweils Schützenvereinen, Berufsverbänden, religiösen Vereinen, politischen Parteien sowie Musik-, Frauen- oder Naturvereinen an. 40-50% der befragten Personen waren der Ansicht, die Vereine seien ein wichtiges gesellschaftliches Element an ihrem Wohnort. Vereine haben somit am Ende des 20. Jahrhunderts eine zwar gewandelte, aber nicht zu unterschätzende gesellschaftliche Bedeutung.

Quellen und Literatur

Vom 17. bis ins frühe 19. Jahrhundert
  • U. Im Hof, Das gesellige Jahrhundert, 1982
  • U. Im Hof, F. de Capitani, Die Helvet. Ges., 2 Bde., 1983
  • E. Erne, Die schweiz. Sozietäten, 1988
  • Aufklärungsgesellschaften, hg. von H. Reinalter, 1993 (mit Bibl.)
  • R. Graber, Bürgerl. Öffentlichkeit und spätabsolutist. Staat, 1993
  • U. Im Hof, Das Europa der Aufklärung, 1993
  • E. Erne, «Topographie der Schweizer Sozietäten 1629-1798», in Europ. Sozietätsbewegung und demokrat. Tradition 2, hg. von K. Garber, H. Wismann, 1996, 1506-1526
  • U. Im Hof, «Die Helvet. Ges. im Kontext der Sozietätsbewegung des 18. Jh.», in Europ. Sozietätsbewegung und demokrat. Tradition 2, hg. von K. Garber, H. Wismann, 1996, 1527-1549
  • B. Schnegg von Rütte, "Die zweyte Seite auf dem Blatte der Menschheit", 1999, 66-159, 338-350
  • Republikan. Tugend, hg. von M. Böhler et al., 2000
  • M. Kempe, T. Maissen, Die Collegia der Insulaner, Vertraulichen und Wohlgesinnten in Zürich 1679-1709, 2002
19. und 20. Jahrhundert
  • U. Altermatt, Der Weg der Schweizer Katholiken ins Ghetto, 1972 (31995)
  • B. Mesmer, Ausgeklammert - Eingeklammert, 1988
  • H.U. Jost, «Sociabilité, faits associatifs et vie politique en Suisse au 19e siècle», in Geselligkeit, Sozietäten und Vereine, hg. von H.U. Jost, A. Tanner, 1991, 7-29
  • H.U. Jost, «Zur Gesch. des Vereinswesens in der Schweiz», in Hb. der schweiz. Volkskultur 1, hg. von P. Hugger, 1992, 467-484
  • K. Schwaar, «Aspekte der Arbeiterkultur im 20. Jh.», in Hb. der schweiz. Volkskultur 3, hg. von P. Hugger, 1992, 1083-1098
  • Festgenossen, hg. von B. Schader, W. Leimgruber, 1993
  • K. Schwaar, Isolation und Integration, 1993
  • A. Tanner, Arbeitsame Patrioten - wohlanständige Damen, 1995
  • B. de Diesbach Belleroche, Le Cercle de la Grande Société à Fribourg: 1802-2002, 2004
Weblinks

Zitiervorschlag

Emil Erne; Thomas Gull: "Vereine", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 03.10.2014. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/025745/2014-10-03/, konsultiert am 19.03.2024.