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Fahrende

Der Sammelbegriff Fahrende umfasst seit dem Spätmittelalter unterschiedliche Gruppen nicht sesshafter Menschen. Er wird bis heute von Nichtsesshaften zur Selbstbezeichnung und in der Amtssprache verwendet. Die Mehrheit des fahrenden Volkes bezeichnet sich seit dem 18. Jahrhundert als Jenische.

Fahrende im Mittelalter

Im Mittelalter wurden Fahrende ungeachtet ihrer unterschiedlichen Herkunft und den verschiedenen Gründen für ihr Wanderleben als fahrendes Volk oder fahrende Leute bezeichnet. Eine wichtige Gruppe unter den Fahrenden waren die wandernden Berufsleute wie Sänger, Spielleute, Schausteller, Herolde und Gaukler (lateinisch joculatores), Quacksalber und Chirurgen (Bruch-, Stein- und Starschneider). Sie zogen von Stadt zu Stadt und verdienten ihren Lebensunterhalt auf den Märkten. Mit ihnen zogen Prostituierte (Prostitution), die so genannten fahrenden Frauen und Töchter. Zeitweise ortsansässig waren dagegen migrierende Handwerker wie Kessler und Hafner sowie Vertreter von Bauberufen wie Steinhauer und -metzen. Ebenfalls nur temporär auf Reisen waren Pilger (Pilgerwesen) und Reisläufer, Fernkaufleute und Markthändler sowie Scholaren und Gesellen.

Nebst den Berufsleuten gehörten religiös-ethnische Minderheiten, vom 13. Jahrhundert an die Juden (Judentum) und ab ca. 1400 die Zigeuner, zu den Fahrenden. Zudem zogen Gruppen von Arbeitsunfähigen (Krüppel, Kranke) und Armen, flüchtigen Kriminellen und Verbannten als fahrende Bettler (Bettelwesen), Landstreicher und Vagabunden durchs Land (Heimatlose). Ihr gemeinsames Merkmal war das Fehlen eines ständigen Wohnsitzes und die Ausübung verwerflicher oder als gering erachteter Dienste (z.B. Schaustellerei). Wegen ihrer Freiheit von Bürgerpflichten wurden die Fahrenden von den Sesshaften (Sesshaftigkeit) sowohl benieden wie auch als Aussenseiter verfolgt.

Blinder Musiker, geführt von einem Gehilfen. Ausschnitt aus einer Abbildung der Amtlichen Berner Chronik von Diebold Schilling, um 1483 (Burgerbibliothek Bern, Mss.h.h.I.3, S. 357).
Blinder Musiker, geführt von einem Gehilfen. Ausschnitt aus einer Abbildung der Amtlichen Berner Chronik von Diebold Schilling, um 1483 (Burgerbibliothek Bern, Mss.h.h.I.3, S. 357).

Ab dem 14. und 15. Jahrhundert verboten städtische Mandate die Beherbergung von Fahrenden. In Basel wurde das fahrende Volk mit anderen Randgruppen in einem eigenen Quartier am Kohlenberg einquartiert und einem eigenen Gericht unterstellt. Gegen soziale Ausgrenzung schlossen sich fahrende Pfeifer, Spielleute und Kessler im 14. und 15. Jahrhundert zu zunftähnlichen, autoritär geleiteten Königreichen zusammen. Die im Heiligen Römischen Reich – einschliesslich der heutigen Schweiz – aktiven überregionalen Bünde wurden von Gesellen und Jugendlichen kopiert. Weil diese oft zu Gewalttätigkeiten neigten, lösten Städte und die Tagsatzung diese Bünde später wieder auf.

Fahrende und Halbansässige in der Neuzeit

Ab dem 16. Jahrhundert wuchs die fahrende Bevölkerung. Das Leben auf der Landstrasse wurde für sie zum Alltag, ohne dass sie die Aussicht gehabt hätten, zu ihrem früheren Leben zurückzukehren. Vor allem der Anteil an einheimischen Armen sowie an ausländischen Kriegsvertriebenen, Kriegsinvaliden und Deserteuren nahm zu. Die in Gruppen umherziehenden Männer, Frauen und Kinder schlugen sich mit Gelegenheitsarbeiten, Betteln und Diebstählen durch. Sie setzten dabei vor allem auf die Hilfe der Landbevölkerung und auf die Spenden von Klöstern und öffentlichen Almosenämtern. Die Obrigkeiten suchten ihnen mit Beherbergungs- und Bettelverboten die Lebensgrundlage zu entziehen und sie über die Grenzen abzuschieben. Insbesondere die gewaltbereiten kriminellen Gaunerbanden (Räuber), die sogenannten starken Bettler oder Jauner, wurden als Landplage bekämpft, indem die repressiven Massnahmen zur Kontrolle der Mobilität ausgebaut wurden.

Dagegen wurden ursprünglich fahrende Berufsleute (Wanderarbeit) ab dem 16. Jahrhundert zunehmend in die sesshafte Bevölkerung integriert: Im Obrigkeitsstaat des Ancien Régime waren Kessler und Hafner in regionale Landzünfte und Wanderhändler (Hausierer) in Krämergesellschaften eingebunden. In der Regel verfügten sie über eine feste Wohnstätte. Wie die hausierenden jüdischen Landhändler, die ab dem 17. Jahrhundert in den aargauischen Dörfern Lengnau und Endingen Wohnsitz hatten, waren sie nur beruflich unterwegs. Auch fahrende Korbflechter, Bürstenbinder, Scherenschleifer, Geschirrflicker, Hosen- und Strumpfstricker (Lismer), Finken- und Handschuhmacher, welche aufgrund ihrer untergeordneten Berufe ein geringes soziales Ansehen genossen, wechselten zwischen Wanderleben und Ortsansässigkeit. Sie bevölkerten die im 16. Jahrhundert entstehenden Armensiedlungen auf Allmenden, in Schachen (Flussufern) und an Waldrändern. Während Wochen oder Monaten zogen sie mit ihrer Ware oder auf Arbeitssuche durch die Dörfer und Märkte, kehrten jedoch regelmässig an ihren Wohnort zurück.

Lebens- und Verhaltensweisen von Fahrenden

Die Fahrenden entwickelten in der ihnen feindlich gesinnten Umgebung Überlebensstrategien; sie reisten zum Beispiel im Schutz von Gemeinschaften, im Familien- und Sippenverband. Oft wanderten mehrere, auch nicht verwandte Familien zusammen, während Einzelne seltener unterwegs waren. Die Gruppen bestanden meist aus etwa gleich vielen Männern und Frauen sowie einer grossen Anzahl Kinder. Diese reisten mit den Eltern oder einem Elternteil, vor allem mit der ledigen, verlassenen oder verwitweten Mutter. Männer und Frauen waren meist im Konkubinat verbunden, doch sind auch kirchliche Heiraten belegt. Im Beziehungsnetz kam den Frauen grosse Bedeutung zu, da das Betteln und damit der wichtigste Teil des Lebensunterhalts in ihrer Verantwortung lag. Frauen waren daher oft älter und erfahrener als ihre Lebensgefährten.

Die Kinder wurden von Eltern, älteren Geschwistern und Verwandten in die Lebensweise der Fahrenden eingeführt. Das gemeinsame Wanderleben der Menschen unterschiedlichster geografischer und sozialer Herkunft förderte die Entstehung einer sich ständig weiterentwickelnden, gemeinsamen Kultur. Dazu gehörten eine eigene Sprache (Nasallaute der Jenischen, Rotwelsch), eine Zeichensprache (Zinken), Kenntnisse der Heilkunst und Magie sowie eine Religiosität, die sich bei Kirchweihen und Wallfahrten (St. Jost in Oberägeri, Gersauer Feckerkilbi, Engelweihfest in Einsiedeln) in bunter Festfreude äusserte.

Lithografien aus dem Band Porträts schweizerischer Heimatloser und Nicht-Sesshafter, um 1855 (Archivio di Stato del Cantone Ticino, Bellinzona).
Lithografien aus dem Band Porträts schweizerischer Heimatloser und Nicht-Sesshafter, um 1855 (Archivio di Stato del Cantone Ticino, Bellinzona). […]

Die Fahrenden wanderten, vor Verfolgung nie sicher und ständig ausweichend, von einem Unterschlupf zum anderen. Sie verfügten über Treffpunkte an abgelegenen Orten (Feuerplätze im Wald, «Bettlerküchen»), schliefen in kleinen Wirtshäusern und vor allem auf Höfen, deren Besitzer sich mehr vor der angedrohten Brandstiftung der Fahrenden, dem «roten Hahn», als vor obrigkeitlichen Strafe für das Beherbergen fürchteten. Bevorzugte Aufenthaltsorte waren daher Weiler- und Einzelhofgebiete sowie Grenzregionen, bis um 1900 insbesondere in der Zentralschweiz, den Kantonen Graubünden, Tessin, St. Gallen, Appenzell, im Seeland und im fürstbischöflichen Jura sowie in den Einzelhofgebieten der Kantone Bern, Solothurn und Aargau.

Integrationszwang im 19. und 20. Jahrhundert

Weder Beherbergungsverbote noch sporadische Wegweisungen vermochten die Fahrenden vor 1800 zu vertreiben. Erst im 19. und 20. Jahrhundert wurden mit staatlichen Mitteln Lebensweise und Kultur der Fahrenden zu verdrängen versucht. Mit der Assimilation an die sesshafte Gesellschaft sollte die Nichtsesshaftigkeit überwunden werden. Berufsloses Landstreichertum und Betteln, das seit dem Mittelalter immer wieder verboten worden war, wurde zum Straftatbestand. Ebenso war das Umherziehen mit schulpflichtigen Kindern untersagt und neue amtliche Vorschriften und Kontrollen (Passwesen, Niederlassung, Fremdenpolizei, Hausiererpatente) engten die Lebensweise der Fahrenden immer mehr ein. Ab den 1820er Jahren wurden viele Sippen durch Zwangseinweisungen vagierender Erwachsener in Korrektionsanstalten und von Kindern in Heime (Anstaltswesen) sowie durch die Zwangseinbürgerungen der Heimatlosen auseinandergerissen.

Noch im 20. Jahrhundert hatte das 1926 gegründete «Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse» der Stiftung Pro Juventute mit Kindswegnahmen die Zerstörung der Familien- und Sippenstrukturen und fahrender Lebensweise zum Ziel. Das Hilfswerk verlagerte den zuvor auf lokaler, kantonaler oder privater Ebene geführten Kampf gegen «das Übel der Vagantität» auf die nationale Ebene, wofür es Psychiatrie, Gemeinnützigkeit, Fürsorge- und Polizeibehörden instrumentalisierte. Bis 1973 wurden mehr als 600 Kinder ihren Familie entrissen, dann wurde die Aktion auf öffentlichen Druck hin eingestellt. Dass das Hilfswerk seine Ziele nur bedingt erreichte, ist vor allem dem erstarkten Selbstbewusstsein der Fahrenden selbst zu verdanken. Seit den 1970er Jahren vertreten Fahrende, die sich in Interessengemeinschaften organisiert haben, ihren Anspruch auf Anerkennung ihrer Lebensweise und ihrer eigenständigen Kultur auch politisch. 1997 wurde die Stiftung «Zukunft für Schweizer Fahrende» gegründet, die den Auftrag hat, die Lebensbedingungen der fahrenden Bevölkerung zu sichern und zu verbessern.

Quellen und Literatur

  • A.M. Dubler, Armen- und Bettlerwesen in der Gemeinen Herrschaft "Freie Ämter", 1970
  • T. Huonker, Fahrendes Volk - verfolgt und verfemt, 1987
  • F. Graus, «Organisationsformen der Randständigen», in Rechtshist. Journal 8, 1989, 235-255
  • P. Witschi, «Minderheiten: Nichtsesshafte unter Sesshaften», in Hb. der schweiz. Volkskultur 2, hg. von P. Hugger, 1992, 837-846
  • E. Schubert, Fahrendes Volk im MA, 1995
  • W. Leimgruber et al., Das Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse, 1998
  • T.D. Meier, R. Wolfensberger, Eine Heimat und doch keine, 1998
  • U. Germann, «Das "Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse"», in Traverse, 2000, H. 1, 137-149
  • L. Tcherenkov, S. Laederich, The Rroma, 2004
Weblinks

Zitiervorschlag

Anne-Marie Dubler: "Fahrende", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 03.10.2013. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/025616/2013-10-03/, konsultiert am 19.03.2024.