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Bellechasse

Luftaufnahme der Anstalt von Bellechasse in Richtung Nordwesten. Fotografie von Bodo Bachmann, aufgenommen zwischen 1956 und 1972 (Staatsarchiv Freiburg, Fotobestand Freiburger Strafanstalt, CH AEF EB Div Photos 10 II-001).
Luftaufnahme der Anstalt von Bellechasse in Richtung Nordwesten. Fotografie von Bodo Bachmann, aufgenommen zwischen 1956 und 1972 (Staatsarchiv Freiburg, Fotobestand Freiburger Strafanstalt, CH AEF EB Div Photos 10 II-001). […]

Die multifunktionale Strafanstalt von Bellechasse in den Gemeinden Mont-Vully (Sugiez) und Murten (Galmiz) wurde 1898 vom Kanton Freiburg unter dem Namen Landwirtschaftliche Kolonie im Grossen Moose (Colonie agricole du Grand-Marais) eröffnet. Sie ist seit 2018 Teil der Freiburger Strafanstalt (FRSA) und dient dem Massnahmen- und Strafvollzug. 1920-1980 wurde sie unter anderem für die administrative Versorgung mehrerer hundert Männer und Frauen aus verschiedenen Kantonen genutzt.

Bellechasse: Situationskarte 2023 (Geodaten: Bundesamt für Statistik, Swisstopo, OpenStreetMap) © 2023 HLS.
Bellechasse: Situationskarte 2023 (Geodaten: Bundesamt für Statistik, Swisstopo, OpenStreetMap) © 2023 HLS.

Die ersten Häftlinge wurden 1898 mit der Entwässerung des Bodens und dem Bau der Infrastruktur auf der Domäne Bellechasse im Grossen Moos beschäftigt, um eine Arbeitskolonie für «Vaganten, Arbeitsscheue, Trinker und Bettler» nach dem Vorbild Witzwils zu errichten. Ihre Zahl stieg zwischen 1899 und 1900 rasch von 34 auf 102 Insassen, die in Holzbaracken ohne Heizung oder Elektrizität unter äusserst kargen Bedingungen lebten. Im Zuge der Reform des Freiburger Strafvollzugsrechts und Strafvollzugssystems, die vom Staatsrat Emile Savoy veranlasst worden war und eine Konzentration der Zuchthäuser (Gefängnisse) vorsah, wurde die Kolonie ab 1915 bedeutend erweitert: Im selben Jahr entstand ein Pavillon für strafrechtlich und administrativ eingewiesene Frauen, 1918 ein Hauptgebäude für strafrechtlich Verurteilte und 1920 der sogenannte Tannenhof, der für administrative Versorgungen gemäss dem kantonalen Gesetz betreffend die Gaststätten und alkoholischen Getränke von 1919 vorgesehen war. Ursprünglich für 20-25 Personen konzipiert, zählte er 1924 110 Internierte. Die 1927 errichtete Arbeitsanstalt Erlenhof für Haftentlassene diente in erster Linie der Internierung von «Trinkern» (Alkoholismus) und Fürsorgeempfängern («assistés»), die auf der Grundlage des Freiburger Gesetzes über die Armenfürsorge und die Wohltätigkeit von 1928 (Fürsorge) eingewiesen wurden. Letztere wurden auch in den alten Holzgebäuden der Arbeitskolonie untergebracht, wo sie mit strafrechtlich Eingewiesenen zusammenlebten. Als 1937 ein Trakt der Kolonie einstürzte, wurde 1937-1940 ein neues sogenanntes Arbeitshaus errichtet. Eine katholische Kirche und eine reformierte Kapelle vervollständigten 1933 den Gebäudekomplex von Bellechasse. 1940-1957 wurden im Erlenhof 50-60 junge Männer, die als besonders schwierig galten, administrativ versorgt. 1940, am Ende der Ausbauphase, waren in der gesamten Anstalt 536 administrativ versorgte und 96 strafrechtlich verurteilte Personen aus fast allen Schweizer Kantonen untergebracht. Gefängniszellen gab es einzig im Pavillon für Frauen und im Hauptgebäude, die übrigen Bauten verfügten über Schlafsäle. Der Landwirtschaftsbetrieb – der zweitgrösste der Schweiz nach demjenigen in Witzwil – beschäftigte den Grossteil der eingewiesenen Männer, während die Frauen die Hausarbeiten für die gesamte Anlage, etwa in Küche und Wäscherei, verrichteten (Geschlechterrollen).

Schlafsaal des Arbeitshauses in der Anstalt von Bellechasse. Fotografie von Simon Glasson, um 1938 (Staatsarchiv Freiburg, Fotobestand Freiburger Strafanstalt, CH AEF EB Div Photos 57).
Schlafsaal des Arbeitshauses in der Anstalt von Bellechasse. Fotografie von Simon Glasson, um 1938 (Staatsarchiv Freiburg, Fotobestand Freiburger Strafanstalt, CH AEF EB Div Photos 57).

Das 1942 in Kraft getretene Schweizerische Strafgesetzbuch (StGB) sah erneute Reformen und die Trennung in verschiedene Gefangenenkategorien vor, was die Anstaltsleitung laut Berichten von Internierten jedoch nicht umsetzte. Bellechasse war ab 1966 am Konkordat über den Straf- und Massnahmenvollzug der Westschweizer Kantone und des Tessins beteiligt, womit die schon zuvor praktizierte Kooperation zwischen den Kantonen bekräftigt wurde. Massgebliche bauliche Verbesserungen der hygienischen Bedingungen in den 1950er und 1960er Jahren, etwa die Einrichtung zelleneigener Toiletten und Lavabos, zeugen von einer neuen Rücksichtnahme auf die Intimsphäre der Internierten. Ab 1955 wurden in Bellechasse keine Minderjährigen mehr inhaftiert; 1971 schloss die Frauenabteilung im Zuge der Modernisierung der Anstaltsverwaltung. Die Zahl der Eingewiesenen sank bis 1975 beträchtlich auf 119 strafrechtlich Verurteilte, 35 administrativ Versorgte und 19 «Freiwillige», die ihre Internierung entweder selbst beantragt oder nach ihrer Entlassung keine Alternative hatten. Damit kehrte sich das Verhältnis zwischen strafrechtlich und administrativ Eingewiesenen um.

Als Direktoren der Anstalt amtierten 1898-1908 Théodore Corboud, 1908-1918 Léon Bongard und 1918-1951 Camille Grêt, der sich massgeblich für Reformen im Strafvollzug einsetzte. 1951-1981 leitete Max Rentsch, diplomierter Agraringenieur der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich und ehemaliger wissenschaftlicher Adjunkt in Witzwil, die Anstalt. Zur Steigerung des landwirtschaftlichen Ertrags verweigerte er Personen die Aufnahme, deren Arbeitsleistung er als unrentabel einschätzte, und modernisierte den Betrieb durch die Einführung neuer Agrartechnologien sowie handwerklicher und industrieller Arbeiten in Kooperation mit lokalen Unternehmen. Ursprünglich als finanziell selbsttragende Einrichtung geplant, hatte sich Bellechasse in den 1920er und 1930er Jahren verschuldet, als der damalige Direktor auf Unterstützungsleistungen des Kantons verzichtet hatte. 1933 hatte der Grosse Rat das Defizit ausgeglichen. Rentsch gelang es in den 1950er Jahren, die Rendite der Anstalt zu erhöhen und auf die öffentlichen Subventionen zu verzichten, ab 1970 kompensierte der Staatsrat jedoch erneut die Betriebsverluste. Neben den Erträgen aus Landwirtschaft und anderer Produktion bezog Bellechasse von den Kantons- und Gemeindebehörden Unterhaltsgelder für die administrativ und strafrechtlich Eingewiesenen.

Die Angestellten hatten ab 1978 Zugang zum Schweizerischen Ausbildungszentrum für das Strafvollzugspersonal. Die Aufseher mussten Schweizer Bürger im Alter zwischen 20 und 30 Jahren sein und Militärdienst geleistet haben. Sie wurden auf dem Anstaltsgelände untergebracht, die Alleinstehenden in einem Schlafsaal. Eine Aufstockung des Personalbestands in den 1950er Jahren verbesserte die Arbeitsbedingungen der Aufseher und reduzierte deren Arbeitspensum auf 53 Stunden pro Woche. Ihre Aufgabe bestand fortan sowohl in der Überwachung als auch in der Nacherziehung der Eingewiesenen. Die Aufsicht über die Frauen oblag Ordensfrauen, die 1917 von Laiinnen, die nicht heiraten durften, abgelöst wurden. Bis 1981 hielten zwei Ärzte je einmal wöchentlich einen halben Tag lang Sprechstunde; zudem verfügte ein Aufseher über eine Pflegeausbildung. Die Betriebsaufsicht lag bei einer Verwaltungskommission unter der Leitung des für das Vormundschaftswesen zuständigen Staatsrats, die drei- bis viermal pro Jahr zusammenkam. Klagen über harte Arbeit, schlechte Lebensbedingungen (Ernährung, Hygiene), physische und sexuelle Gewalt, fehlende Resozialisierungsmöglichkeiten, institutionelle Mängel und Willkür der Direktion, die in der gesamten Zeit von den 1920er bis in die 1980er Jahre wiederholt laut wurden, blieben in den allermeisten Fällen folgenlos.

Ab den 1970er Jahren gelangten mit Dienstverweigerern sowie Drogenabhängigen und Drogendealern (Drogen) neue Kategorien von Eingewiesenen in die Anstalt. 1987 wurde ein Erweiterungsbau erstellt, 2000 der Tannenhof für die Suchtkranken umgebaut und 2010 ein neues Gebäude für den vorzeitigen Strafvollzug errichtet. Im Anschluss an die Schliessung des Zentralgefängnisses in der Stadt Freiburg soll die FRSA ab 2026 gänzlich am Standort Bellechasse zentralisiert werden.

Quellen und Literatur

  • Bernoulli, Andreas: Die Anstalten von Bellechasse FR, 1980.
  • Schöpfer, Hermann: Le district du Lac I, 1989, S. 397-405 (Die Kunstdenkmäler des Kantons Freiburg, 4).
  • Nuoffer, Henri; Kuster, Alexandra: Die Anstalten von Bellechasse, 1898-1998, 1998.
  • Currat, Amélie: Les Établissements de Bellechasse (1898-1950). Aspects administratifs et reflets de la vie quotidienne du point de vue des femmes détenues, Masterarbeit, Universität Freiburg, 2007.
  • Heiniger, Alix: «La valeur du travail en internement administratif dans les Etablissements pénitentiaires de Bellechasse», in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, 68/2, 2018, S. 329-351.
  • Sondergesetze? Legitimierung und Delegitimierung der administrativen Versorgung, 2019 (Veröffentlichungen der Unabhängigen Expertenkommission Administrative Versorgungen, 3).
  • «... je vous fais une lettre». Die Stimme der internierten Personen in den Archiven, 2019 (Veröffentlichungen der Unabhängigen Expertenkommission Administrative Versorgungen, 4).
  • Ordnung, Moral und Zwang. Administrative Versorgungen und Behördenpraxis, 2019 (Veröffentlichungen der Unabhängigen Expertenkommission Administrative Versorgungen, 7).
  • Alltag unter Zwang. Zwischen Anstaltsinternierung und Entlassung, 2019 (Veröffentlichungen der Unabhängigen Expertenkommission Administrative Versorgungen, 8).
  • «... so wird man ins Loch geworfen». Quellen zur Geschichte der administrativen Versorgung, 2019 (Veröffentlichungen der Unabhängigen Expertenkommission Administrative Versorgungen, 9).
  • Heiniger, Alix: «"L’homme y est mené comme la bête de somme". Contester et dénoncer la gestion des Etablissements de Bellechasse autour de 1930», in: Traverse, 28/3, 2021, S. 108-116.
Weblinks
Normdateien
GND
VIAF
Kurzinformationen
Variante(n)
Anstalten von Bellechasse
Freiburger Strafanstalt Standort Bellechasse
FRSA Standort Bellechasse
Landwirtschaftliche Kolonie im Grossen Moose

Zitiervorschlag

Alix Heiniger: "Bellechasse", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 20.02.2024, übersetzt aus dem Französischen. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/024751/2024-02-20/, konsultiert am 29.03.2024.