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Atomwaffen

Bereits vor und während des Zweiten Weltkriegs beschäftigten sich schweizerische Atomphysiker wie Paul Scherrer mit der militärischen und zivilen Nutzung der Atomenergie. Am 3. September 1945 befasste sich die Landesverteidigungskommission (LVK) und am 5. November 1945 eine vom Eidgenössischen Militärdepartement (EMD, heute VBS) einberufene Konferenz erstmals mit der Atombewaffnung. 1946 setzte der Bundesrat auf Initiative des EMD eine "Studienkommission für Atomenergie" ein, welche auch die Möglichkeit schweizerischer Atomwaffen zu untersuchen hatte. 1953-1955 beschaffte der Bund unter grösster Geheimhaltung in einem Dreiecksgeschäft mit Belgien und Grossbritannien vorsorglich 10 t Uran, davon über 5 t als militärische Kriegsreserve. Die atomare Bewaffnung der Grossmächte und Atomwaffen-Pläne neutraler Staaten wie Schweden führten ab 1954 zu einer Debatte in Offizierskreisen über eine atomare Ausrüstung der Schweiz. 1957 verlangte die Schweizerische Offiziersgesellschaft Atomwaffen für die Armee.

Plakat der Schweizerischen Friedensbewegung aus dem Jahr 1954 von Hans Erni (Museum für Gestaltung Zürich, Plakatsammlung, Zürcher Hochschule der Künste).
Plakat der Schweizerischen Friedensbewegung aus dem Jahr 1954 von Hans Erni (Museum für Gestaltung Zürich, Plakatsammlung, Zürcher Hochschule der Künste).

1958 bejahte der Bundesrat unter dem Eindruck der sowjetischen Bedrohung die atomare Bewaffnung der Schweiz und beauftragte das EMD mit weiteren Abklärungen. Sofort formierte sich in der Öffentlichkeit Widerstand. 1959 reichten Pazifisten und Religiös-Soziale eine Volksinitiative für ein Verbot von Atomwaffen ein (Antiatombewegung). Die in der Atomwaffen-Frage gespaltene Sozialdemokratische Partei der Schweiz – Parteipräsident Walter Bringolf befürwortete Atomwaffen – reichte eine zweite Initiative nach, die ein Mitspracherecht des Volkes bei der Beschaffung von Atomwaffen forderte. Nach einer heftigen öffentlichen Debatte lehnten Volk und Stände am 1. April 1962 und am 26. Mai 1963 beide Initiativen im Verhältnis von 2:1 ab. Gestärkt durch diese Ergebnisse setzte das EMD eine Studiengruppe ein, um Kauf oder Eigenentwicklung von taktischen Atomwaffen zu studieren.

Nach 1963 veränderte sich aber das Umfeld für eine schweizerische Atombewaffnung grundlegend. 1963 unterzeichnete die Schweiz das partielle Atomteststoppabkommen; die Verhandlungen um einen Atomsperrvertrag verliefen erfolgversprechend. Der Bundesrat gab ab der Mitte der 1960er Jahre der Nichtverbreitung von Atomwaffen und der konventionellen Bewaffnung der Armee einen höheren sicherheitspolitischen Stellenwert als der Beschaffung von eigenen Atomwaffen. Zudem wurden Zweifel an der militärischen Wirksamkeit von taktischen Atomwaffen laut. Nachdem sich die militärische Diskussion bis Mitte der 1960er Jahre vorwiegend auf taktisch-technischer Ebene bewegt hatte, führten sie nun Publizisten wie Gustav Däniker auf die politisch-operative Ebene. 1969 unterzeichnete die Schweiz den Atomsperrvertrag (erst 1976 nach Widerständen im Ständerat genehmigt). Der Bundesrat hielt sich aber die nukleare Option offen für den Fall, dass der Atomsperrvertrag scheitern sollte. Das technische Wissen des "atomaren Schwellenlandes" Schweiz hatte ab 1969 der "Arbeitsausschuss für Atomfragen" (AAA) der Generalstabsabteilung sicherzustellen. Nachdem im "Bericht über die militärische Landesverteidigung" 1966 die atomare Bewaffnung noch als Option genannt wurde (Landesverteidigung), erwähnte sie der "Bericht des Bundesrates über die Sicherheitspolitik der Schweiz" 1973 nicht mehr (Sicherheitspolitik). Der AAA begann die Atomwaffenfrage unter "passiven" Aspekten (Wirkung von Atomwaffen, Schutzmöglichkeiten) zu studieren. In den 1980er Jahren wurden die letzten Reste der schweizerischen Atomwaffen-Pläne liquidiert: Der Bundesrat hob 1981 die Geheimhaltung für die Uranreserven auf, die der zivilen Nutzung zugeführt wurden, und löste 1988 den AAA auf. 1995 stimmte die Schweiz der unbefristeten Verlängerung des Atomsperrvertrags, der ein vollständiges Verbot der Atomwaffen-Versuche und ein effizientes Überprüfungssystem vorsieht, und 1996 dem umfassenden Atomteststoppabkommen zu.

Quellen und Literatur

  • G. Däniker , Strategie des Kleinstaats, 1966
  • G. Schwab, The Swiss Atomic Debate and its Implications, 1968
  • N. Michel, La prolifération nucléaire, 1990, 42-68
  • P. Hug, «La genèse de la technologie nucléaire en Suisse», in Relations internationales, Nr. 68, 1991, 325-344
  • D. Metzler, Die Option einer Nuklearbewaffnung für die Schweizer Armee, Liz. Basel, 1995
  • J. Stüssi-Lauterburg, Hist. Abriss zur Frage einer Schweizer Nuklearbewaffnung, Ms., 1995
  • R. von Falkenstein, Vom Giftgas zur Atombombe, 1997
Weblinks

Zitiervorschlag

Marco Jorio: "Atomwaffen", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 06.10.2011. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/024625/2011-10-06/, konsultiert am 19.03.2024.