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Flüsse

Gewässersystem und Entwässerung der Schweiz
Gewässersystem und Entwässerung der Schweiz […]

Das weit verzweigte Flusssystem der Schweiz gehört fünf europäischen Stromgebieten an (Rhein, Rhone, Po, Donau, Etsch). Die Schweiz wird deshalb nicht nur durch zahlreiche regionale, sondern auch durch kontinentale Wasserscheiden räumlich gegliedert. Für die kulturelle und wirtschaftliche Entwicklung waren und sind die Flüsse insbesondere als Verkehrswege und Energielieferanten von Bedeutung. Ausserdem bilden Fluss- und Bachstrecken häufig, aber keinesfalls immer, Landes-, Diözesen-, Kantons- , Gemeinde- und Grundstücksgrenzen, wie zum Beispiel früher die Reuss und die Aare zwischen dem Berner Aargau und den Freien Ämtern bzw. der Grafschaft Baden oder der Rhein heute noch zwischen der Schweiz, Österreich und Deutschland.

Die Flussläufe und Auenlandschaften blieben bis in die frühe Neuzeit grösstenteils natürlich, auch wenn an einzelnen besonders exponierten Stellen schon im Spätmittelalter Uferbefestigungen, oft im Gemeinwerk, vorgenommen wurden. Die Täler und Ebenen wurden landwirtschaftlich genutzt. Durch Bewässerung steigerte man den Ertrag der Böden. Ab dem 18. Jahrhundert nahmen die Überschwemmungen zu, was zum Teil mit der Klimaveränderung und zum Teil mit der Erosion im Hochgebirge zusammenhing. Auch aufgrund der Übernutzung des Waldes gab es vermehrt Hochwasser, viele Talgründe versumpften. Daher wurden im 19. und im frühen 20. Jahrhundert zahlreiche Gewässerkorrektionen durchgeführt, die wiederum Ausweitungen und Meliorationen der Landwirtschaftsböden sowie Siedlungsverdichtungen ermöglichten. Heute werden die Gewässer wieder natürlich gestaltet bzw. kanalisierte Verläufe teilweise renaturiert (Naturschutz).

Wasserwege und Gewerbe am Fluss

Das System der Wasserwege war eine der Grundlagen für die Entstehung des Verkehrsnetzes (Verkehr). Am Übergang von der See- zur Flussschifffahrt entstanden Warenumschlagplätze (Seen); an Schnittpunkten von Strassen und Flüssen waren Furten, Fähren, Brücken und Susten nötig, die betrieben und unterhalten werden mussten. Zahlreiche Städte und Dörfer wurden an solchen verkehrsgeografisch günstig gelegenen Orten gegründet; für einige von ihnen wie zum Beispiel Brugg stellten die Einkünfte aus Brückengeldern und Brückenzöllen und aus dem Transitverkehr (Gastgewerbe) die wichtigsten Einnahmequellen dar. Einzelne dieser Siedlungen entwickelten sich zu Handelsknoten, an denen nicht nur Wochen-, sondern auch Jahrmärkte oder Messen stattfanden. Die Flüsse wurden ausserdem für die Wasserversorgung genutzt und fassten bis weit ins 20. Jahrhundert hinein die Abwässer.

Flüsse und flussgebundener Verkehr liessen verschiedene Flussgewerbe entstehen. Die wichtigsten waren die Fischerei, Schifffahrt und Schiffbau, Flösserei und Fährendienst. Auch Gerbereien waren in der Regel an Flussufern angesiedelt. Die germanischen Gesetze (Schwabenspiegel, Sachsenspiegel) hatten die freie Ausübung der Fischerei noch jedem Volksgenossen zugestanden; im Hochmittelalter entwickelte sich das Fischerei- zu einem Regalrecht; ab dem 12. Jahrhundert lag es meist in den Händen geistlicher und weltlicher Herrschaften. Im Spätmittelalter gingen viele landesherrliche Fischereirechte an die eidgenössischen Stände über. Freie Fischerei war nur mehr auf wenigen Flussstrecken möglich. Die Fischmärkte unterlagen strengen örtlichen Vorschriften. Im Rhein und in seinen Zuflüssen wurden Wanderfische, zum Beispiel Lachs (Salm) und Aal, gefangen. Die Fischer zählten zur Unterschicht und wohnten am Rande der Siedlungen am Flussufer. Sie vereinigten sich ab dem Spätmittelalter in den überregionalen Fischermaien, die auch die Geselligkeit pflegten. In der Neuzeit hemmten die industriellen Flusseinbauten die Fischerei stark; die Lachszüge blieben aus, und infolge der zunehmenden Kanalisierung der Flüsse im 20. Jahrhundert verloren auch die meisten standorttreuen Arten ihre Laichgründe.

Ansicht der Linth in der Umgebung des Stifts Schänis. Ausschnitt einer Aquatinta von Franz Hegi, gemalt 1796 nach einer Zeichnung von Achilles Benz (Zentralbibliothek Zürich, Graphische Sammlung und Fotoarchiv).
Ansicht der Linth in der Umgebung des Stifts Schänis. Ausschnitt einer Aquatinta von Franz Hegi, gemalt 1796 nach einer Zeichnung von Achilles Benz (Zentralbibliothek Zürich, Graphische Sammlung und Fotoarchiv). […]

Die Flüsse galten im Mittelalter als freie Reichsstrassen. Ab dem Spätmittelalter lag die Längsschifffahrt grösstenteils in den Händen der zünftisch organisierten Schiffer, der sogenannten Niederwässerer der Städte Basel, Schaffhausen, Zürich, Luzern, Solothurn, Bern und Freiburg. Schiffer gab es auch in kleineren Flussstädten (z.B. in Olten, Yverdon, Bellinzona) und in Flussdörfern (Stilli, Aarburg). Monopole bestimmter Schifferorganisationen entwickelten sich zuerst an Stromschnellen (Koblenz, Laufenburg, Säckingen), die ohne besondere Kenntnisse der Örtlichkeiten bzw. besondere Ausrüstungen nicht bewältigt werden konnten. Abgaben, die auf die Längsschifffahrt erhoben wurden, waren ursprünglich Abgeltungen von Leistungen wie der Offenhaltung einer Fahrrinne, welche die örtlichen Schiffer oder die Flussanwohner erbrachten; erst später trat der fiskalische Zweck in den Vordergrund. Die grösseren Städte wie Luzern, Zürich und Bern versuchten zwar, die Längsschifffahrt grossräumig zu kontrollieren; im Grossen und Ganzen blieb aber die Idee der Flüsse als freien Reichsstrassen bis ins 17. Jahrhundert hinein lebendig. Einzig Basel konnte ab dem 15. oder 16. Jahrhundert ein Monopol faktisch durchsetzen; die Aare-, Limmat- und Reussschiffer mussten ihre Schiffe dort verkaufen, weil die baslerische Obrigkeit ihnen die Weiterfahrt verwehrte. Die Längsschifffahrt wurde vor allem flussabwärts betrieben. Die Fahrt flussaufwärts war mühsam und erfolgte durch Stacheln oder Treideln (z.B. auf der Linth). Die Flussschifffahrt wurde ab dem Spätmittelalter durch den Landverkehr zunehmend konkurrenziert, nach 1850 brachte sie die Eisenbahn weitgehend zum Verschwinden. Im Gegensatz zu den Nachbarländern Deutschland und Frankreich erfolgte in der Schweiz kein Ausbau von Fluss- und ergänzenden Kanalstrecken für Lastschiffe; einzig auf dem Rhein wird seit dem Ausbau des Hafens in Basel (1906) eine nennenswerte Grossschifffahrt betrieben.

Die Flösserei brachte Brenn- und Bauholz aus den Alpen und Voralpen in die mittelländischen Städte und ins Ausland. Sie versorgte Eisenöfen und Glashütten. Eichenstämme gelangten als Schiffsbauholz bis in die Niederlande. Die Nachfrage der frühen Industrie, zum Beispiel der Eisenwerke, führte zu einem Aufschwung der Flösserei. Strassen und vor allem Eisenbahnen bereiteten ihr aber ab 1850 ein rasches Ende.

Die Fähren gewährleisteten die Überfahrt, wo Brücken fehlten. Die meisten Fähren – die Bandbreite reicht vom kleinen Weidling für den Personentransport bis zu grossen Schiffen, die Fuhrwerke oder Viehherden aufnehmen konnten – wurden im 13. und 14. Jahrhundert sowie im 19. und 20. Jahrhundert durch Brücken ersetzt. Eine besondere Bedeutung hatte im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit das Fahr von Stilli, mit dem man gewissermassen die drei Flüsse Aare, Reuss und Limmat auf einmal überqueren konnten. Es profitierte vor allem vom Verkehr zu den Zurzacher Messen.

Wasserkraft für Gewerbe und Industrie

Grosse Bedeutung kam der Wasserkraft der Flüsse zu. Die Energie wurde von verschiedenen Mühlen (z.B. Schiffs- und Brückenmühlen für die Mehlherstellung, des weiteren Stampfen, Hammerwerke, Sägereien, Walkereien, Ölmühlen, Papiermühlen usw.) genutzt. Meist wurde das Wasser bereits im Hochmittelalter in Kanälen den Betrieben zugeleitet. Ab dem Spätmittelalter wurden zur Regulierung der Wasserkraft Stauwerke – sogenannte Schwellen (z.B. Bern, Luzern) – errichtet, deren Zahl im 19. Jahrhundert infolge der Industrialisierung stark zunahm. Gewerbe und Industrie zogen auch aus der Vorfluterfunktion der Flüsse bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts grossen Nutzen. Erst im 20. Jahrhundert beseitigten die Elektrifizierung und der Bau der Kanalisationsnetze die Standortvorteile, die eine Lage am Flussufer bis anhin geboten hatte. Dagegen stieg die Bedeutung der Flüsse für die Energieerzeugung: Ab Ende des 19. Jahrhunderts entstanden an den Flüssen, vor allem am Hochrhein, Tiefdruckkraftwerke zur Produktion elektrischer Energie, und seit den 1960er Jahren wurden auch die Atomkraftwerke wegen ihres grossen Bedarfs an Kühlwasser in Flussnähe erstellt. Heute werden die Flussuferzonen auch vermehrt als Erholungsgebiete und zur Sportausübung genutzt.

Quellen und Literatur

  • «60 Jahre Grosschiffahrt nach Basel», in Strom und See 59, 1964, 223-284
  • E. Imhof, Atlas der Schweiz, 1965-78, Bl. 14-16
  • D. Faucher, L'homme et le Rhône, 1968
  • F. Glauser, «Stadt und Fluss zwischen Rhein und Alpen», in Die Stadt am Fluss, hg. von E. Maschke, J. Sydow, 1978, 62-99 (mit Bibl.)
  • H.C. Peyer, Gewässer, Grenzen und Märkte in der Schweizergesch., 1979
  • H. Wanner, 25 Jahre Aare-Hochrhein-Schiffahrt AG, 1984
  • 125 Jahre Hydrometrie in der Schweiz, 1988
  • Der Alpenrhein und seine Regulierung, 21993
  • W.J.M. van Eysinga, Gesch. der Zentralkomm. für die Rheinschiffahrt, 1994
  • H.-J. Tümmers, Der Rhein, 1994
  • H. Bickel, Traditionelle Schiffahrt auf den Gewässern der dt. Schweiz, 1995
  • M. Baumann, Stilli, 21996
  • G. Städler, Walensee-Schiffahrt, Linth-Schiffahrt, 1996
  • S. Brönnimann, «Die schiff- und flössbaren Gewässer in den Alpen von 1500 bis 1800», in Gfr. 150, 1997, 119-178 (mit Bibl.)
Weblinks

Zitiervorschlag

Hans Stadler: "Flüsse", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 23.10.2006. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/024613/2006-10-23/, konsultiert am 28.03.2024.