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Rätoromanische Literatur

Im Unterschied zu den deutsch-, französisch- und italienischsprachigen Schweizern verfügen die Rätoromanisch Sprechenden über kein sprachliches Hinterland, von dem sie hätten profitieren können. Ausserdem verhinderte die sprachgeografische Zersplitterung und das ausgeprägte Autonomiebewusstsein der Bündner Talschaften die Bildung eines politisch-kulturellen Zentrums, das eine einheitliche Schriftsprache hätte ausbilden können. Dieser Nachteil sollte im späten 19. Jahrhundert – und erneut seit 1980 – durch die Schaffung der Einheitssprache Rumantsch Grischun beseitigt werden.

Von den Anfängen zur Literatur im konfessionellen Zeitalter

Zunächst existierte rätoromanische Literatur fast nur in der mündlichen Überlieferung, in den Sagen, Märchen, Liedern und Legenden. Dazu gehören zum Beispiel "La canzun da Santa Margriata" (Das Lied von der heiligen Margaretha) oder das Lied der drei Fremden mit drei roten Mützen ("Trais compagns con trais barettas cotschnas"), die nach Santiago de Compostela pilgerten. Als frühestes Beispiel einer schriftlichen Überlieferung gilt die ältere Interlinearversion (rätoromanische Übersetzung zwischen den lateinischen Zeilen) einer Predigt des heiligen Pirmin aus dem späten 11. Jahrhundert (heute Codex 199 von Einsiedeln). Den Beginn einer rätoromanischen Literatur markiert das 1527 entstandene politische Lied "Chanzun da la guerra dalg Chiastè d'Müs" (Lied vom Müsserkrieg) des Zuozer Humanisten Johann Travers, das wie die Zeugen der Oralliteratur nur in späteren Abschriften erhalten ist.

Der Übergang zur Schriftlichkeit vollzog sich in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts vor allem unter dem Einfluss der Reformation und der kirchlichen Reformen. Aus dem Bedürfnis, Gottes Wort in der Volkssprache zu vermitteln und dem Volk die jeweilige religiöse Wahrheit zu erklären, entstanden Übersetzungen der Bibel, von Katechismen und geistlichen Liedern in schriftsprachlichen Varianten der rätoromanischen Dialekte, woraus sich die fünf heute noch gebräuchlichen Schriftsprachen des Puter, Vallader, Sut- und Sursilvan, später auch des Surmiran entwickelten. Jachiam Bifrun übersetzte 1560 das Neue Testament auf Puter und Ulrich Campell veröffentlichte 1562 Psalmen und religiöse Lieder auf Vallader. Der Dreissigjährige Krieg, die Bündner Wirren und konfessionelle Disputationen heizten die religiösen Konflikte an und förderten die Verbreitung konfessioneller Schriften. Auf reformierter Seite erschien die Bibel von Scuol 1679 auf Ladinisch und jene von Chur 1717-1719 auf Surselvisch, auf katholischer Seite publizierte Balzer Alig 1672 die Passion, die Episteln und Evangelien in surselvischer Sprache. Zwischen 1650 und 1750 erschienen zahlreiche Liedersammlungen und Werke christlicher Unterweisung, geschrieben unter anderen von Pater Zacharias da Salò, Johann Jüst Andeer sowie Vater und Sohn Conradin Riola, und es entstanden die Passionsspiele von Savognin, Sumvitg und Lumbrein sowie Fasnachtsspiele. Parallel zum religiösen Schrifttum wurden Gerichtsstatuten und Dorfordnungen aus dem Lateinischen und vor allem aus dem Deutschen übersetzt und eine noch stark alemannisch durchsetzte Rechtsterminologie geschaffen.

Ab 1750 hielt die Aufklärung im rätoromanischen Raum Einzug. Pfarrer Mattli Conrad ermahnte 1784 in seinen "Novas canzuns spiritualas [...]" die Patrioten, das Vaterland in christlicher Zuversicht zu lieben und das allgemeine Wohl zu fördern. Pater Placidus Spescha forderte für die rätoromanische "Nation" eine einheitliche Schriftsprache. Der politische Dichter Georg Anton Vieli stand zwischen den Parteien, wurde jedoch zusammen mit Conrad und Spescha als Franzosenfreund von den Österreichern deportiert. Als Anhänger der alten Republik der Drei Bünde profilierten sich vor allem zwei Landrichter, die politischen Dichter und Dramenübersetzer Johann Theodor von Castelberg und Peter Anton de Latour.

Rätoromanische Wiedergeburt

Umschlagbild der handschriftlichen Autobiografie von Robert Steiner, der aus dem Unterengadin nach Chile ausgewandert war, 1935 (Kulturarchiv Oberengadin, Samedan).
Umschlagbild der handschriftlichen Autobiografie von Robert Steiner, der aus dem Unterengadin nach Chile ausgewandert war, 1935 (Kulturarchiv Oberengadin, Samedan). […]

Schule und Presse schufen im 19. Jahrhundert zwei neue Foren von rätoromanischer Literatur. In der Schule, die zwischen 1840 und 1850 unter staatliche Aufsicht gestellt worden war, verwendete der Kanton Graubünden zuerst aus dem Deutschen übersetzte Lehrbücher, die Ende des 19. Jahrhunderts in der Surselva vermehrt durch von Gion Antoni Bühler und Giachen Caspar Muoth verfasste rätoromanische Originalwerke ersetzt wurden. Gleichzeitig verlieh eine rege Suche nach Originalliteratur dem literarischen Schaffen Auftrieb. Die rätoromanische Literatur der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war zunächst vor allem eine Literatur von Auswanderern, geprägt von Autoren wie Conradin Flugi von Aspermont, Gian Fadri Caderas und Simeon Caratsch für die Lyrik sowie Giovannes Mathis und Johannes Barandun für die Prosa. Auch später lebten viele, zum Teil auch bedeutende Autoren mindestens zum Teil im Ausland oder wurden dort geboren, etwa Clementina Gilli, Pater Alexander Lozza und Peider Lansel. Themen der rätoromanischen Literatur waren daher oft Auswanderung und Heimweh, zum Beispiel in den Novellen von Gion Antoni Bühler oder später in den Gedichten Peider Lansels.

Mit der Herausbildung einer politischen Öffentlichkeit entstanden im 19. und frühen 20. Jahrhundert viele, teilweise kurzlebige Zeitungen und Zeitschriften (14 im ladinischen Raum 1843-1938, 20 in den Rheintälern 1836-1951). Die darin unter anderem von den surselvischen Dichtern Geli Caduff und Gion Antoni Huonder verfassten parteipolitischen Pamphlete wollten ein rätoromanisches Selbstbewusstsein fördern. Der Engadiner Peider Lansel trat 1913 mit dem Kampfruf "Ni Italians, ni Tudais-chs, Rumantschs vulain restar!" (Weder Italiener noch Deutsche, Romanen wollen wir bleiben!) für rätoromanische Eigenständigkeit ein und widersetzte sich irredentistischen Ansprüchen aus Italien (Irredentismus).

Schon vorher hatte das Vordringen des Deutschen auf Kosten des Rätoromanischen zu einer Bewegung geführt, die sich in der Tradition der romantischen Begeisterung für das Ursprüngliche und Volkstümliche die "Verteidigung des Mutterlauts" auf ihre Fahnen schrieb. Daraus entstand die von Lehrern der Kantonsschule in Chur, allen voran Gion Antoni Bühler, 1885 gegründete Societad Retorumantscha, die in ihrem seit 1886 herausgegebenen Jahrbuch "Annalas" neue Literatur und Artikel zur rätoromanischen Kultur publizierte. Caspar Decurtins sammelte in seiner "Rätoromanischen Chrestomathie" (12 Bände, 1895-1919; Ergänzungsband 1985) Märchen, Sagen, Volkslieder und Volksschauspiele. Bühler schuf eine rätoromanische Einheitssprache (Rumantsch Grischun) und rief in seiner Zeitschrift "Novellist" (1867-1868) erfolglos dazu auf, Erzählungen in der neuen Sprache zu schreiben. Stattdessen entstanden Vereinigungen zur Pflege der regionalen Idiome wie die Romania, Uniun dals Grischs, Renania und Uniun Rumantscha da Surmeir sowie als Dachverband aller rätoromanischen Sprach- und Kulturvereine die 1919 gegründete Lia Rumantscha. In den Organen dieser Regionalvereine fand die rätoromanische Literatur eine Heimstätte.

Um 1900 nahm die literarische Produktion so stark zu, dass man von einer renaschientscha retorumantscha (rätoromanische Wiedergeburt) sprach. Als Lyriker traten bis zum Zweiten Weltkrieg unter anderen die Sursilvaner Gion Cadieli, Gian Fontana, Sep Mudest Nay, der Surmiraner Pater Alexander Lozza, die Ladiner Gudench Barblan und Peider Lansel, Clementina Gilli und Chasper Po hervor. In Drama, Epos und Ballade zeichneten sich die Sursilvaner Giachen Caspar Muoth, Flurin Camathias, Pater Maurus Carnot und Carli Fry aus sowie die Sutsilvaner und Surmiraner Tani Dolf, Giatgem Uffer und Gion Not Spegnas und die Ladiner Men Gaudenz, Men Rauch und Artur Caflisch. Neben diesen und den oben erwähnten Prosaautoren publizierten seit dem Ende des 19. Jahrhunderts auch die Ladiner Cristoffel Bardola, Ursina Clavuot Geer, Maria Ritz, Schimun Vonmoos, Balser Puorger und Gian Gianet Cloetta, der Sutsilvaner Tumasch Dolf und die Sursilvaner Giachen Michel Nay und Guglielm Gadola. Die rätoromanische Literatur orientierte sich bis ins 20. Jahrhundert hinein an volksliterarischen und bauernepischen Traditionen und propagierte die Muttersprache. Bestehen blieb weitgehend die Isolation der regionalen Idiome, die im Falle der katholischen Surselva und des reformierten Engadins auch konfessionell bedingt war.

Die Öffnung ab 1950

Nach dem Zweiten Weltkrieg änderten sich auch in der rätoromanischen Welt die Literaturverhältnisse. Statt wie bisher nur in Kalendern und Zeitschriften konnten die Autoren ihre Werke nun auch in Büchern veröffentlichen. Radio und Fernsehen und die Uniun da scripturas e scripturs rumantschs, die seit 1978 die Zeitschrift "Litteratura" (Vorläuferin "Novas litteraras" 1948-1977) herausgibt, förderten ein regionenübergreifendes Sprachverständnis. Im Zuge der eidgenössischen Bemühungen um einen Kulturaustausch zwischen den einzelnen Sprachgemeinschaften begann man auch, rätoromanische Publikationen in die anderen Landessprachen zu übersetzen. Die rätoromanische Literatur begann mit neuen Formen und Themen zu experimentieren und öffnete sich für die Strömungen der grossen Kultursprachen.

Es entstanden psychologische Novellen, etwa jene von Flurin Darms (auf Sursilvan), Selina Chönz, Annapitschna Grob-Ganzoni und Jon Semadeni (auf Ladin) sowie Alexander Lozza (auf Surmiran), Kurzgeschichten und Romane von Cla Biert, Reto Caratsch und Oscar Peer (auf Ladin), Gion Deplazes, Flurin Darms, Ursicin G.G. Derungs, Toni Halter und Ludivic Hendry (auf Sursilvan). Nach 1970 erschienen Prosatexte von Clo Duri Bezzola, Göri Klainguti, Jon Nuotclà und Rut Plouda (auf Ladin), Silvio Camenisch und Flurin Spescha (auf Rumantsch Grischun) sowie Leo Tuor (auf Sursilvan), Autoren, die zum Teil auch in der übrigen Schweiz Erfolg haben. Über 90% der rund 50 rätoromanischen Romane stammen aus der Zeit nach 1950. Märchen, Sagen und Parabeln wurden für Kritik an den bestehenden Zuständen eingesetzt und die in der Weltliteratur gängigen Genres wie literarische Chronik und literarisches Tagebuch fanden Eingang ins Werk der Sursilvaner Leonard Caduff, Ludivic Hendry, Theo Candinas und des Ladiners Andri Peer.

Das ehemals populäre patriotische Drama (Giusep Durschei, Men Rauch, Curo Mani) verlor in der Nachkriegszeit an Bedeutung. An seine Stelle trat das sozialpolitisch engagierte Theater, das regionale Probleme thematisierte, mit Werken der Ladiner Jacques Guidon, Tista Murk, Jon Nuotclà und Jon Semadeni sowie des Sursilvaners Theo Candinas. Überzeugende Übersetzungen moderner Dramen, etwa von Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt, erweiterten das Spektrum. In der Pionierphase des Schweizer Radios entstanden auch Autorenhörspiele und Autorenfilme als neue Genres in rätoromanischer Sprache. Gion Antoni Derungs brachte mit Libretti von Lothar Deplazes (Sursilvaner) und Giovanni Netzer (Oberhalbsteiner) die rätoromanische Literatur auch in die Oper.

In der Lyrik verloren traditionelle Formen, Motive und Themen (Natur-, Heimweh- und Heimatlyrik) an Bedeutung. Die neueren Strömungen orientierten sich an der europäischen Moderne, verzichteten oft auf festen Reim und Strophe und bevorzugten die subjektive Introspektion oder waren politisch-agitatorischer Art. Unter den vor 1939 geborenen Lyrikern sind zu erwähnen die Surmiraner Alexander Lozza, Antonia Sonder, Gion-Peder Thöni und Peder Cadotsch, die Sursilvaner Flurin Darms, Gion Deplazes, Hendri Spescha und Teresa Rüters-Seeli sowie die Ladiner Luisa Famos, Chatrina Filli, Andri Peer und Armon Planta. Unter den nach 1939 Geborenen fand besonders die Lyrik von Felix Giger, Arnold Spescha (Sursilvaner) sowie Tina Nolfi, Rut Plouda und Leta Semadeni (Ladinerinnen) Beachtung.

Bis zu Beginn des 21. Jahrhunderts wurde das Ende der 1970er Jahre von Heinrich Schmid neu geschaffene Rumantsch Grischun als Literatursprache nur wenig verwendet, zuerst bei Flurin Spescha ("Fieu e flomma" 1993, Feuer und Flamme) und Linard Bardill ("Fortunat Kauer" 1998). Die Standardsprache findet hingegen breitere Verwendung bei Übersetzungen von Fachprosa und Gebrauchsliteratur. Für die jungen Autoren, von denen einige auch in deutscher Sprache publizieren, ist die rätoromanische Sprache nicht mehr Schutzraum, sondern eine der möglichen Ausdrucksformen in einer sich schnell ändernden Welt.

Quellen und Literatur

  • Prosa rumantscha/Prosa romontscha, 1967
  • L. Uffer, «Rätoromanische Literatur», in Kindlers Literaturgesch. der Gegenwart, 1974
  • Bezzola, Litteratura
  • Rumantscheia: eine Anthologie rätorom. Schriftsteller der Gegenwart, 1979
  • N. Berther, Bibliografia retorumantscha (1552-1984), 1986
  • G. Deplazes, Funtaunas, 4 Bde., 1987-93
  • G. Deplazes, Die Rätoromanen, 1991
  • G. Mützenberg, Destin de la langue et de la littérature rhéto-romanes, 1992
  • Emoziuns grischunas, 1992
  • C. Riatsch, L. Walther, Lit. und Kleinsprache, 1993
  • Litteratura 22, 1998
  • C. Riatsch, Mehrsprachigkeit und Sprachmischung in der neueren bündnerrom. Lit., 1998
Weblinks

Zitiervorschlag

Gion Deplazes: "Rätoromanische Literatur", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 16.12.2011. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/024573/2011-12-16/, konsultiert am 29.03.2024.