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Dialektologie

Die Dialektologie ist eine Teildisziplin der Sprachwissenschaft und beschäftigt sich mit der Erforschung von Dialekten. Die im 19. Jahrhundert einsetzende traditionelle Mundartforschung verstand sich als historisch-positivistische Disziplin und untersuchte vor allem ländlich-autochthone Dialektgebiete. Da die Mundarten ältere Sprachformen in grösserem Mass bewahren als die einer stärkeren Normierung unterworfene Hochsprache, zielte deren Analyse auf eine Rekonstruktion früherer Sprachzustände. Ausgehend von den USA und England wendet sich seit der Mitte des 20. Jahrhunderts die Dialektologie mit modernen linguistischen Methoden auch der Erforschung der Dialekte in ihrem sozialen und pragmatischen Kontext in sprachlich komplexen städtischen Agglomerationen und Zentren zu. Basis jeder dialektologischen Arbeit ist das Sammeln von Material und dessen Publikation in Wörterbüchern, Grammatiken und Monografien von Regionen und Orten, in Sprachatlanten sowie auf Tonträgern.

Titelseite des ersten Bandes des Wörterbuchs von Franz Josef Stalder aus dem Jahr 1806 (Universitätsbibliothek Basel).
Titelseite des ersten Bandes des Wörterbuchs von Franz Josef Stalder aus dem Jahr 1806 (Universitätsbibliothek Basel).
Titelseite des Pionierwerks von Philippe-Sirice Bridel. Postume Veröffentlichung, 1866 (Universitätsbibliothek Basel).
Titelseite des Pionierwerks von Philippe-Sirice Bridel. Postume Veröffentlichung, 1866 (Universitätsbibliothek Basel).

In der deutschen Schweiz leistet die Dialektologie mit der Erforschung einer auch im öffentlichen Raum lebendigen Dialektkultur einen wichtigen Beitrag zum Verständnis der diglossischen Sprachsituation und zur Sprachpolitik. In der französischen Schweiz, in der die Dialekte bis auf Reste ausgestorben sind, und in der italienischen Schweiz, in der sie trotz einer bis heute existierenden Dialektkultur (Theater, Lied, Dialektliteratur) nie ein hohes Ansehen genossen haben, hat die Dialektologie vor allem historisch-dokumentierende Funktion. In der rätoromanischen Schweiz mit ihrer vom Aussterben bedrohten Sprache hat die Erforschung der rätoromanischen Idiome, auf die der Begriff Dialekte nur bedingt anwendbar ist, auch spracherhaltende, die sprachwissenschaftliche Arbeit im Bereich der Etablierung der Standardsprache Rumantsch Grischun vor allem normative Funktion (Rätoromanisch).

Am Anfang der schweizerischen Dialektologie stehen Wörterbuchautoren wie der Luzerner Theologe Franz Josef Stalder mit seinem zweibändigen «Versuch eines schweizerischen Idiotikon» (1806-1812, Neuausgabe 1995) und der Waadtländer Theologe und Schriftsteller Philippe-Sirice Bridel mit seinem «Glossaire du patois de la Suisse romande» (1866). In der Folge entstanden in einer für die Schweiz charakteristischen Zusammenarbeit von Laien und Hochschuldialektologen in allen Sprachgebieten zahlreiche regionale und vier noch in Bearbeitung stehende nationale Dialektwörterbücher: das «Schweizerische Idiotikon. Wörterbuch der schweizerdeutschen Sprache» (ab 1881), das «Glossaire des patois de la Suisse romande» (ab 1924), das «Dicziunari Rumantsch Grischun» (ab 1939) und das «Vocabolario dei dialetti della Svizzera italiana» (ab 1952).

Mit seiner Ortsgrammatik «Die Kerenzer Mundart des Kantons Glarus» (1876) eröffnete Jost Winteler die monografische Arbeit. Wichtige Publikationsorgane für deren Ergebnisse wurden die Reihen «Beiträge zur schweizerdeutschen Grammatik» (20 Bde., 1910-1941), «Beiträge zur schweizerdeutschen Mundartforschung» (24 Bde., 1949-1982), «Sprachlandschaften» (ab 1984) und «Romanica Helvetica» (ab 1922) sowie die Zeitschrift «Vox Romanica» (ab 1941). Sprachgeografische Grundlagenwerke für die Schweiz sind der von Karl Jaberg und Jakob Jud begründete «Sprach- und Sachatlas Italiens und der Südschweiz» (8 Bde., 1928-1940) sowie der von Heinrich Baumgartner (1889-1944) und Rudolf Hotzenköcherle begründete «Sprachatlas der deutschen Schweiz» (8 Bde., 1962-1997). Hotzenköcherle legte mit der Publikation «Die Sprachlandschaften der deutschen Schweiz» (1984) erste wichtige Auswertungen des Sprachatlasmaterials vor. Der Germanist Albert Bachmann und der Romanist Louis Gauchat gründeten 1913 das Phonogrammarchiv der Universität Zürich, das akustische Dialektdokumente archiviert und Ton- und zugehörige Textdokumente veröffentlicht, wie zum Beispiel «Stimmen der Heimat» (1939), «Der sprechende Atlas» (1952) und «Schweizer Dialekte in Text und Ton» (ab 1951).

Quellen und Literatur

  • S. Sonderegger, Die schweizerdt. Mundartforschung 1800-1959, 1962
  • M. Burger, «La tradition linguistique vernaculaire en Suisse romande: les patois», in Le français hors de France, hg. von A. Valdman, 1979, 259-269
  • R. Ris, «Dialektologie zwischen Linguistik und Sozialpsychologie», in Zs. f. dt. Literaturgesch. 26, 1980, 73-96
  • Die vierspr. Schweiz, hg. von H. Bickel, R. Schläpfer, 1982 (22000)
  • R. Börlin, Die schweizerdt. Mundartforschung 1960-1982, 1987
  • D. Petrini, La koiné ticinese, 1988
  • R. Liver, Rätoromanisch, 1999
  • Gömmer MiGro?: Veränderungen und Entwicklungen im heutigen SchweizerDeutschen, hg. von B. Dittli et al., 2003
Weblinks

Zitiervorschlag

Christian Schmid: "Dialektologie", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 28.02.2008. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/024476/2008-02-28/, konsultiert am 28.03.2024.