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Villeneuve (VD)

Politische Gemeinde des Kantons Waadt, Bezirk Aigle. Das weitläufige Gemeindegebiet umfasst die Stadt Villeneuve am Ufer des Genfersees und zahlreiche Weiler im Tal der Tinière. Der höchste Punkt liegt auf den Rochers-de-Naye 2041 m. Um 280 Penne Locos, 1005 in villa Compendiaco, 1217 Villanova, 1254 in Villa nova Chillionis, deutsch früher Neustadt, Neuenstadt. Um 1395 170 Feuerstätten; 1407 113; 1803 862 Einwohner; 1850 1161; 1900 1751; 1950 1989; 1970 3705 ; 2000 4180.

Prähistorische Funde in mehreren Höhlen am Fuss des Scex du Châtelard belegen eine frühe Besiedlung der Seeufer durch Jäger des Magdalénien am Ende der Eiszeit (Rentierknochen von ca. 13'000 v.Chr. und Werkzeuge aus Silex). Überreste aus dem Neolithikum, der Bronzezeit sowie eine eichene Figur aus der jüngeren Eisenzeit kamen ebenfalls auf dem Gebiet von Villeneuve zutage. Das auf antiken Itinerarien erwähnte Pennolucos, ein römischer Marktflecken keltischen Ursprungs, erstreckte sich sicherlich entlang der Römerstrasse, die durch einen Meilenstein aus dem 4. Jahrhundert neben dem Schuttkegel der Tinière bezeugt ist. In La Muraz und Le Clos du Moulin wurden zwei römische Siedlungen entdeckt. Ein römisches Gräberfeld, das nicht genau lokalisierbar ist, lag vermutlich über dem See am Hang von Valleyres.

Die Gegend von Roche. Ausschnitt aus einer Karte von Cäsar Steiger, Anfang des 18. Jahrhunderts (Burgerbibliothek Bern, GR.D.32).
Die Gegend von Roche. Ausschnitt aus einer Karte von Cäsar Steiger, Anfang des 18. Jahrhunderts (Burgerbibliothek Bern, GR.D.32). […]

Die "ville neuve de Chillon", die erste Gründung der Savoyer in der Gegend, wurde um 1214 von Graf Thomas I. mit einem Stadtrecht ausgestattet. Auf einem für Zähringerstädte typischen und noch heute erkennbaren Axialgrundriss aufgebaut, wurde sie am Ort des früheren, 1005 belegten mittelalterlichen Dorfs Compengie errichtet, um den Markt- und Zollort Chillon zu ersetzen, der wegen der Nähe zum Schloss an Platznot litt. Dank seiner günstigen Verkehrslage am Weg von Frankreich nach Italien über den Grossen St. Bernhard erlebte Villeneuve eine wirtschaftliche Blütezeit. Sein Hafen war ein obligater Umschlagplatz für den Warenverkehr, er diente auch als Militärbasis und besass eine Werft, auf der die Grafen von Savoyen im 13. und 14. Jahrhundert ihre Schiffe bauen liessen. Die Rechnungsbücher, ein aussergewöhnliches Zeugnis des Wohlstands der Stadt, reichen bis 1283 zurück. Sie gehören zu den ältesten europäischen Büchern aus der Epoche mittelalterlicher Städte. Um 1236 gründete Aymon von Savoyen das Spital Notre-Dame für Arme, Pilger und Kranke. Davon ist nur die Kapelle erhalten, die 1876 zum Rathaus umgebaut wurde. Als die transportierten Warenmengen auf der Transitachse Grosser St. Bernhard-Col de Jougne zwischen der Lombardei und den Messen der Champagne abnahmen, setzte ab dem zweiten Viertel des 14. Jahrhunderts der Niedergang von Villeneuve ein. Die Stadt, die am Ende des 13. Jahrhunderts nahezu 1000 Einwohner zählte, erfuhr ab dem Ende des 14. Jahrhunderts einen kontinuierlichen Bevölkerungsschwund. Die Zahl der Magistrate ging zwischen dem Ende des 13. Jahrhunderts und dem Beginn des 14. Jahrhunderts von vier auf einen einzigen Syndic und vier Adjunkte zurück.

1476 verlor Villeneuve durch die bernische Eroberung und die Bildung des Gouvernements Aigle, dessen Grenzen dem Verlauf des Flüsschens Eau Froide folgten, den linksufrigen Teil seines Gebiets. Bis 1536 gehörte die Stadt zur savoyischen Vogtei Chablais und wurde dann der bernischen Landvogtei Chillon bzw. Vevey angegliedert. 1536-1798 wurde die Gemeinde durch einen Zwölfer- und einen Dreissigerrat verwaltet. Sie lebte von der Alpwirtschaft und dem Weinbau. 1798 wurde sie dem Distrikt Aigle zugeteilt und bildete mit Noville, Roche, Chessel und Rennaz den Kreis Villeneuve. Zwischen 1799 und 1815 gab sich die Stadt einen Stadtrat und einen Gemeinderat.

Kirchlich bildete Villeneuve immer eine eigene Pfarrei, in savoyischer Zeit zusammen mit Noville und Rennaz. Die 1166 erstmals erwähnte Kirche von Compengie wurde durch die heutige Kirche ersetzt, die, obwohl sie älter aussieht, wahrscheinlich während der Stadtgründungszeit ab 1214 entstand. 1228 als Pfarreikirche belegt und ab 1303 unter dem Paulus-Patrozinium bekannt, wurde sie 1536 in eine reformierte Kirche umgewandelt. 1911 entstand für die vielen italienischen Gastarbeiter die katholische Kirche Sacré-Cœur.

Der Abbau des lokalen Kalksteins ist seit dem 14. Jahrhundert belegt, in Form von Gips oder Gipsstein in Valleyres und ab dem 15. Jahrhundert als Baustein in den Steinbrüchen an den Hängen der Monts d'Arvel. Im 19. Jahrhundert kamen neue Abbaustellen hinzu. Mit dem Bau zweier Kalk- und Zementfabriken im dritten Viertel des 19. Jahrhunderts nahm die Förderung an den beiden Standorten Crêt und der Tinière-Mündung besonders stark zu. Die erste wurde 1918 abgerissen, die zweite ab 1930 für die Produktion von Baustoffen umgenutzt. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts war nur noch die Firma Carrières d'Arvel SA (1905) in Betrieb. Ab dem 20. Jahrhundert begannen sich vielfältige Industrien zu entwickeln, namentlich entlang der 1892 gebauten Eisenbahnlinie zwischen dem Bahnhof von Villeneuve und den Steinbrüchen der Monts d'Arvel, darunter das auf Eisenprodukte spezialisierte Unternehmen Miauton (1907), die Sägerei in Les Grands Vergers (1917), die Schokoladefabrik Schmidlin & Co. (1927), die Savonnerie de Villeneuve (1931), die Ateliers de constructions mécaniques de Vevey (1947, ab 1989 Vevey Technologies, seit 1998 Bombardier Transport), die Constructions métalliques Mottier Frères (1952), die Schreinereifabrik Guyot (1957, ab 1967 Usines Ego SA). In der 1915-1920 entsumpften Eau-Froide-Ebene wurde Gemüse angebaut. Die Güterzusammenlegung in einem Teil des Rebbergs 1931-1934 ermöglichte die Entstehung der Villenquartiere Longefan, Cheseaux und Tortiguet. Um 1840 setzte mit dem Bau des Hotels Byron und einiger Gasthäuser am Seeufer der Tourismus ein, der zwischen 1950 und 1967 eine Blütezeit erlebte. Ab 1828 bedienten regelmässige Schiffskurse Villeneuve. Die Eisenbahn verband die Stadt 1857 mit Bex, 1861 mit Lausanne. 1903 wurde zwischen Villeneuve und Chillon eine Strassenbahn eröffnet, die 1913 mit der VMC (Vevey-Montreux-Chillon) zur VMCV fusionierte; die Strassenbahn zwischen Villeneuve und Montreux wurde 1952 durch eine Buslinie ersetzt. Seit der Mitte des 20. Jahrhunderts ist die Bedeutung der Landwirtschaft zugunsten des Rebbaus und der Industrie zurückgegangen. Die 1966-1970 erstellte Autobahn A9 mit Ausfahrt in Villeneuve hat das demografische und wirtschaftliche Wachstum der Gemeinde gefördert, sie aber auch zunehmend zur Wohngemeinde gemacht. 2005 waren 60% der Einwohner Wegpendler.

Quellen und Literatur

  • M. Grandjean, M. Grote, Villeneuve, 1985
  • Villeneuve, promenade dans son histoire, 1991
  • C. Thévenaz, Ecrire pour gérer, 1999
  • Premiers hommes dans les Alpes, Ausstellungskat. Sitten, 2002, 141-143
  • A. Bissegger, Une paroisse raconte ses morts, 2003
  • M. Grote, «Villeneuve», in Panorama des Archives communales vaudoises, 1401-2003, hg. von G. Coutaz et al., 2003, 416-425
  • M. Grote, B. Streiff, Les carrières d'Arvel, 2005
  • M. Grote, «Industrie et commerce à Villeneuve de 1850 à 1960», in SICOV 50e anniversaire, 2011, 6-18

Zitiervorschlag

Michèle Grote: "Villeneuve (VD)", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 23.11.2017, übersetzt aus dem Französischen. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/002289/2017-11-23/, konsultiert am 28.03.2024.